Der freundliche nepalesische Soldat an der Grenze zwischen Israel und Libanon nickt mir freundlich zu. Dann gehe ich los. Er geht vor mir und reckt eine UN-Flagge in den Himmel, so dass sie von weitem erkennbar ist.
Eingezäunt und abgetrennt
Quelle: Bundesakademie für Sicherheitspolitik
In Gruppen von maximal fünf Personen dürfen wir auf den Aussichtsposten gehen. Das würden die Absprachen mit den israelischen und libanesischen Soldaten so vorsehen. Als ich die letzten Meter auf diesen, in luftiger Höhe gelegenen Aussichtposten zurücklege, staune ich zum einen über den wunderschönen Ausblick über das sonnengeflutete, friedlich daliegende Land. Zum anderen mustere ich die hochtechnologischen Aufklärungsanlagen auf der anderen Seite des Grenzzauns, auf Seiten der Israelis. Und dann sehe ich es: Ein Grabstein. Der nepalesische Soldat beeilt sich, uns mitzuteilen, dass es sich um einen bedeutenden Heiligen handelt, der für Juden wie Moslems gleichermaßen von Bedeutung sei. Viel Zeit bleibe ihm nicht zu reden, denn nach fünf Minuten müssten wir den Platz wieder geräumt haben. Auch dies gehöre zu den Absprachen zwischen Israel und Libanon. Aber die Zeit reicht, um zu erkennen, dass der Grabstein exakt in der Mitte durch den Grenzzaun geteilt wird. Mir wird an diesem Bild besonders deutlich: Hier wird kein Zentimeter verschenkt und hier ist kein Raum für Kompromisse. Mir fällt sogleich das Theaterstück „Der kaukasische Kreidekreis“ von Berthold Brecht ein, in dem die Mutter ihr Kind freiwillig einer anderen Frau überlässt, um das Kind nicht zu verletzen. Um des Kindes Willen steckt die leibhaftige Mutter zurück… Bei mir bleibt die drängende Frage zurück: Sind Tugenden wie Barmherzigkeit in diesen Regionen der Welt ganz abhanden gekommen?
Dabei hatte die Nahostreise so angenehm begonnen: Bei der Ankunft in Kairo hatte unser Reiseführer uns sehr herzerfrischend begrüßt: „Herzlich Willkommen im befreiten Ägypten!“ Diese stolze Stimmung war überall spürbar: im Restaurant um die Ecke, bei Gesprächen mit Offiziellen, den „jungen Wilden“ oder am Tahrir-Platz. Zurückbleibt die Überzeugung: Die Situation in Ägypten ist zwar chaotisch, aber optimistisch. Alle Berichte bei uns in Deutschland und Europa, dass die Lage in Ägypten sich auch sehr gefährlich entwickeln könne und dass radikale Kräfte Ägypten übernehmen und einen islamistischen Gottesstaat gründen könnten, wirken vor Ort weit überzogen. Hier haben junge Menschen sich gegen ein diktatorisches Regime aufgelehnt, um Freiheit und einen Rechtsstaat zu gewinnen. Ganz klar stellte ein hochrangiger deutscher Diplomat in Kairo heraus, dass es sich in erster Linie um eine „Bürgerrechtsbewegung“ handele, die „das Joch der Autokraten“ abgeschüttelt habe. Erst langsam würde jetzt eine soziale Bewegung daraus hervorgehen. In einem Land, in dem 40 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze lebt, keine wirkliche Überraschung. Zweifellos hat das Militär die Situation noch fest in der Hand und ist Garant der Stabilität. Nicht zuletzt ist Kairo, was die Kriminalitätsstatistik zeigt, wesentlich sicherer als London. Für mich steht jedoch fest: Wenngleich die Situation in Ägypten noch keineswegs geklärt ist und „der Staub sich noch nicht verzogen hat“, so zeigt sich meines Erachtens, dass eine Art „gelenkte Demokratie“ nach türkischem Vorbild durchaus hoffähig ist.
Beirut zeigt sich ebenfalls von seiner chaotischen Seite, aber keinesfalls optimistisch. Eher korrupt und intransparent. Klar erkennt der Besucher Libanons gleich auf den ersten Eindruck, dass es hier an Geld nicht fehlt. Moderne, großzügige Architektur kennzeichnet das Land und großzügige Yachten liegen im Hafen von Beirut. Man wird den Eindruck nicht los, dass sich hier am Krieg „gesund verdient wurde“ – nicht zuletzt auf Kosten der EU. Auch die Gespräche mit Offiziellen können dieses „Geschmäckle“ nicht beseitigen. In diesem Land wird auf Prestige und Außenwirkung Wert gelegt. Unter anderem ist dies an dem ganz profanen Umstand zu bemerken, dass im Libanon die meisten Schönheitsoperationen gleich nach den USA durchgeführt werden. Und das bei einer 12 Millionen starken Bevölkerung, von denen aber nur fünf Millionen im Libanon selbst leben. Am beeindruckendsten war das Lob über die UNIFIL-Soldaten, das einem von allen Seiten entgegenschlug. Allerdings mussten wir erleben, dass bereits am Abend ein UNIFIL-Fahrzeug durch einen Sprenganschlag zerstört und neben einem Schwerverletzten ein italienischer UNIFIL-Soldat getötet wurde. Niemand bekannte sich zu dem Anschlag und es gab verschiedenste Gruppierungen, die hierfür verantwortlich sein konnten. Hier ließ der Libanon für einen kurzen Augenblick die Fassade fallen und zeigte sein ambivalentes, differentes Gesicht …
„Das Westjordanland ist ein Flickenteppich“, erklärt der Reiseführer leidenschaftlich von einer Höhe in Jerusalem aus, von der aus das Randgebiet Jerusalems und Teile des sich anschließenden Westjordanlands gut zu erkennen sind. Anhand einer Karte erläutert er die Problematik im Westjordanland, welches nach dem Teilungsplan der UN-Vollversammlung aus dem Jahr 1947 eigentlich für den Aufbau eines arabischen Staates angedacht war. Nach den arabisch-israelischen Kriegen und den damit verbundenen Gebietsgewinnen der Israelis und den Siedlungsbaumaßnahmen stellt sich die Situation nun allerdings anders dar. Israelische Siedlungen durchziehen mittlerweile das gesamte Westjordanland und Ostjerusalem. Die palästinensischen Gebiete und Ortschaften sind durch den Siedlungsbau der Israelis zum Teil vollständig voneinander getrennt. Flucht und Vertreibungen im Jahre 1948 haben „nie schließende Wunden“ hinterlassen. Selbst für die in dritter Generation vertriebenen Palästinenser sind die Dörfer ihrer Großväter und Urgroßväter im israelischen Kerngebiet noch immer Heimat. Auf der anderen Seite sehen die israelischen Siedler das von ihnen besiedelte Land als zugehörig zum Staate Israel. Aus dieser Problematik lassen sich die äußerst gespannten Beziehungen zwischen den beiden Völkern ableiten. Beide Völker betrachten sich als Opfer. Die Juden als Opfer des Holocausts, die Palästinenser als Opfer der Gründung des jüdischen Staates Israel.
Am Ende meines Aufenthalts in Israel steht für mich fest: Es wundert mich nicht, dass die Israelis sich so eng an den Amerikanern orientieren. Beide gehören mehr dem „Mars“ an, der auf die „hard power“ setzt, während wir, die Europäer, wesentlich mehr den „soft power“, der „Venus“, verbunden sind. In dem israelisch-palästinensischen Konflikt kann es nur noch um eine Konflikteinhegung, keinesfalls um eine von außen herbeigeführte Lösung gehen. Der Einfluss von internationalen Organisationen offenbart sich als äußerst begrenzt, alles hängt von dem Willen der Bevölkerung ab, die in dieser Krisenregion wohnt. Klar ist, dass es sich das territorial kleine Israel nicht leisten kann, eine einzige militärische Niederlage zu erleiden. Dies wäre zweifellos das Ende des Staates Israel. Unklar bleibt, warum Israel keine unterschiedlich ausgeprägten Eskalationsstufen anwendet. Warum wird auf 50 Demonstranten, die unbewaffnet die Golanhöhen erstürmen, scharf geschossen und nicht zunächst mit sogenannten „non-lethal weapons“ bekämpft? Warum wird von beiden Seiten die Situation stets so einseitig dargestellt, ohne im Geringsten dem anderen ein Stückchen Kompromissbereitschaft zu signalisieren? Und warum wird Religion für politische Zwecke derart instrumentalisiert? Fest steht, dass eine Zwei-Staaten-Lösung ein dauerhaftes internationales Engagement auf höchstem Niveau vor allem von der NATO und EU erforderlich macht. Jerusalem müsste auf Dauer eine Stadt unter internationaler Kontrolle werden. Aber wird Israel sein hohes Sicherheitsbedürfnis auf „andere Schultern“ verlagern lassen und werden die Palästinenser weitere Aggressionen einstellen und sich mit dem Status quo zufrieden geben? Ich glaube es nicht und darum glaube ich auch nicht an Wunder. Ein gewisses Maß an Grundoptimismus ist die entscheidende Voraussetzung für eine dauerhafte Einhegung des Konflikts. Einen Anlass für diesen Optimismus sehe ich nicht und ich kann auf beiden Seiten keinen Willen zum Frieden erkennen. Ich würde mich nicht z. B. als Soldat in dieser Region engagieren wollen. Mein Leben ist mir zu schade für eine Region, die noch nicht mal Tote ruhen lässt und selbst einen Grabstein mit einem Grenzzaun überzieht. Da gibt es andere Gegenden dieser Welt, die wesentlich mehr die internationale Aufmerksamkeit und das internationale Engagement verdient haben und sich dankbarer zeigen würden.
Autor: Boris Bovekamp