Digitalisierung, russische Minderheiten und hybride Bedrohungen – Mit Estland als zentraler Etappe der Studienreise spannt das Kernseminar 2018 einen weiten Bogen im Ostseeraum. Neben Gesprächen mit hochrangigen Regierungsvertretern stand die Besichtigung der EU-Außengrenze zu Russland auf dem Programm. Der Seminarteilnehmer Philip Kraft schildert seine Eindrücke von einem sicherheitspolitischen Brennpunkt.
Zwischen Hüpfkästchen und Katzenbildern prangt eine große Nato-Kompassrose. Die markanten Kreidebilder auf der Straße in Narwa, der östlichsten Stadt Estlands, unweit der russischen Grenze, stimmen nachdenklich. Eine trügerische Ruhe herrscht, während die Kinder spielen – anscheinend gehört der Ausnahmezustand an der baltischen Haffküste zur Normalität. Seit dem Beitritt Estlands, Lettlands und Litauens zur EU und NATO im Jahr 2004 war das Verhältnis mit ihrem großen Nachbarn nie wirklich spannungsfrei. Die Gründe dafür mögen vielfältig sein.
Estlands Orientierung gen Westen ist kein neues Phänomen. Die historischen Bande nach Mitteleuropa und insbesondere nach Deutschland sind eng und über Jahrhunderte gewachsen. Der Deutsche Orden und die Kaufleute der Hanse prägten schon früh das Land. Lange Zeit war Deutsch Behördensprache, und die baltendeutschen Korporationen hatten erheblichen Einfluss auf das studentische Leben an der Universität Dorpat. Während des estnischen Freiheitkrieges 1918 bis 1920 kämpfte das deutsche Baltenregiment tapfer für die junge Republik. Daran erinnert noch heute ein zweisprachiges Denkmal auf dem Domberg in Reval. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs treffen sich seit 1994 die Außenminister Deutschlands und der drei baltischen Staaten einmal im Jahr. Der damalige Außenminister Klaus Kinkel bezeichnete Deutschland einst als den „Anwalt der Balten“ in Europa.
Bei einer russischen Invasion stünde die NATO mit unterlegenen Kräften da
Offensichtlich betrachtet Russland die drei baltischen Staaten aber im Kern als integralen Bestandteil der eigenen Einflusssphäre. Seit den Entwicklungen in Georgien 2008, aber spätestens seit Ausbruch der Ukrainekrise in 2014 wächst in den baltischen Staaten die Sorge vor dem übermächtigen Nachbarn – der Vertrauensverlust ist erheblich. Und das nicht ganz unberechtigt, wie ein Blick auf die nackten Zahlen zeigt. Bei einer russischen Aggression – die nicht in Gänze ausgeschlossen werden kann – stünde die NATO an ihrer empfindlichsten Stelle mit deutlich unterlegenen Kräften da.
Zwar hat die NATO an ihrer offenen Flanke seit der Krim mit Enhanced Forward Presence (eFP) reagiert und multinationale Bataillone in die baltischen Staaten sowie Polen entsandt. Ebenso steht der Eingreifverband Very High Readiness Joint Task Force (VJTF) in Brigadestärke bereit, aber die dramatische Unterzahl ist erschreckend. Hinzu kommen vielfältige russische Aktivitäten, die eine eindeutige Sprache sprechen: Etwa militärische Luftfahrzeuge mit ausgeschaltetem Transponder, das strategische Großmanöver Sapad 2017 der weißrussischen und russischen Streitkräfte oder Aktivitäten im Cyberraum.
Infrastrukturell ist Estland noch fast ausschließlich an Russland gebunden
Aber die militärische Dimension stellt nicht die einzige Herausforderung dar. Der Anteil der russischen Gemeinschaft von rund einem Viertel der estnischen Gesamtbevölkerung ist kennzeichnend. Die Beziehung zwischen Mehrheits- und Minderheitsbevölkerung ist spannungsgeladen und von gegenseitigem Misstrauen geprägt. Neben dem mangelnden Integrationswillen vieler Russen mag auch das erheblich divergierende Geschichtsbild dazu beitragen. Die „Befreiung“ Estlands durch die Rote Armee 1944 war nach den Erfahrungen der Jahre 1940/41 für das estnische Volk die Fortsetzung von Fremdbestimmung und totalitärer Zwangsherrschaft. Geschichtspolitik und Erinnerung sind und bleiben identitätsstiftend.
Die hohe Abhängigkeit von Energieträgern aus Russland trägt ihr Übriges bei. Infrastrukturell ist Estland noch fast ausschließlich an seinen Nachbarn angebunden. Im Krisenfall können solche Abhängigkeiten fatal sein. Erste Schritte zur Diversifizierung der Versorgung sind angelaufen, wie die Anbindung an das finnische Elektrizitätsnetz zeigt. Umfangreicher Handel und Investitionen sowie eine enge wirtschaftliche Verflechtungen können aber auch zur Stabilität in der gesamten Region beitragen. Insgesamt ist das Verhältnis ambivalent.
Beeindruckend ist der Umgang mit neuen Technologien. Estland gilt als Pionier der Digitalisierung. Mit Wille und Motivation haben sich die Esten geschickt positioniert und auf Weltklasse-Niveau in Sachen e-Government katapultiert. Beispielsweise ermöglicht die sog. e-Residency das Erstellen von digitalen Signaturen, die Gründung von Unternehmen oder die Einreichung einer elektronischen Steuererklärung. Damit ist Estland ein Paradebeispiel für die effiziente Digitalgesellschaft.
Der Vernetzte Ansatz wird von staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren gelebt
Wie an den Gesprächsrunden im estnischen Außenministerium und dem Oberkommando der Streitkräfte deutlich wurde, ist das richtige Mindset grundlegend für Effizienz in Entscheidungsfindung und Umsetzung von Maßnahmen. Deutlich ausgeprägt sind Schärfe in der Bedrohungswahrnehmung und ein unbedingter Verteidigungswille, trotz deutlicher Übermacht des potentiellen Gegners. Jährliche Großübungen mit über 10.000 Reservisten sind auch ein eindrucksvoller Beweis für Wehrhaftigkeit und Rückhalt in der Bevölkerung. Ein ranghoher Militär fasst die Lage mit der eindeutigen Botschaft zusammen: „Es muss Metall im Wald stehen!“ – Die territoriale Integrität ist demnach nicht verhandelbar und wird unter allen Umständen, gegen jeden Gegner und mit allen verfügbaren Mitteln verteidigt.
Im Gesamtkontext des Seminars sind die parteiübergreifende Einigkeit in zentralen Sicherheitsfragen sowie der gelebte, vernetzte Ansatz staatlicher und nichtstaatlicher Akteure besonders bemerkenswert. Damit nimmt Estland nicht nur bei der Digitalisierung eine Vorreiterrolle ein. Auch in Fragen von strategischer Vorausschau und einem umfassenden Denken in Szenarien sowie des gesamtstaatlichen Handelns in Verbindung mit zügiger Entscheidungsfindung können Deutschland und Europa von dem Land im Baltikum viel lernen.
Autor: Philip Kraft