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Kernseminar: Gysi fordert Schulterschluss in Syrien

Donnerstag, 21. April 2016

Im Kernseminar der Bundesakademie fordert der langjährige Vorsitzende der Linken im Bundestag, Gregor Gysi, eine Annäherung zwischen Washington und Moskau zur Beilegung des Syrienkonfliktes.

Gregor Gysi an einem Rednerpult

Gregor Gysi, zuletzt 2005 bis 2015 Fraktionsvorsitzender der Linken im Bundestag. Foto: Die Linke

Nur die USA und Russland gemeinsam könnten genügend Druck ausüben, um eine friedliche Lösung des bereits seit fünf Jahren andauernden Syrienkonfliktes zu finden, sagte der Linken-Politiker Gregor Gysi vor Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Kernseminars für Sicherheitspolitik der BAKS. Er räumte ein, dass dieser gemeinsame Weg für den amerikanischen Präsidenten Barack Obama und den russischen Präsidenten Wladimir Putin kein leichtes Unterfangen sei. Dazu müssten zunächst erhebliche politische und auch persönliche Verstimmungen zwischen beiden Seiten ausgeräumt werden.

Ein markanter Auslöser der amerikanisch-russischen Diskrepanzen sei die geradezu fatale Einordnung Russlands als "Regionalmacht" durch Obama im März 2014 gewesen. Spätestens das habe heftig am politischen Ego des Kremlchefs gekratzt und zu einer deutlichen Reaktion des "Tiger-Ringers" Putin geführt, zuletzt untermauert durch die demonstrative militärische Unterstützung des Assad-Regimes.

Rückbesinnung auf das Völkerrecht als verbindlicher Ordnungsrahmen

Ungeachtet der Tiefe der atmosphärischen Verstimmung zwischen Washington und Moskau deuteten jüngste Maßnahmen und Verlautbarungen jedoch auf die Bereitschaft beider Regierungen hin, eine gemeinsame Linie zu finden. Als Beleg für diese Einschätzung verwies Gysi auf den Abzug russischer Truppen aus Syrien und die "angepasste Rhetorik" aus dem Weißen Haus, wonach die Forderung relativiert wurde, der syrische Präsident Baschar al-Assad müsse sein Amt sofort aufgeben.

In seiner weiteren Bestandsaufnahme zur außenpolitischen Lage stellte Gysi den fünf Vetomächten im VN-Sicherheitsrat ein denkbar schlechtes Zeugnis aus. Durch wechselseitige Verletzungen internationaler rechtlicher Vereinbarungen und Standards – seitens des Westens etwa auf dem Balkan bei der Abspaltung des Kosovo von Serbien, andererseits durch Russland im Zuge des Referendums auf der Krim zur Abspaltung der Halbinsel von der Ukraine – sei das Völkerrecht erodiert.

Um weitere globale Destabilisierungen zu vermeiden, ist es nach Gysis Einschätzung wichtig, zum Völkerrecht als systemübergreifenden Ordnungsrahmen zurückzukehren. Dadurch bestehe auch wieder die Chance, sich von politisch und menschlich desaströsen "Entweder-oder-Logiken" zu lösen. Genau das – Verhandlungen der Ukraine "entweder" mit der EU "oder" mit Russland – habe letztlich zu Instabilität und Gewalt in der Ukraine geführt.

Ungelöste Flüchtlingsfrage birgt sicherheitspolitischen Sprengstoff

Nach Meinung von Gysi verschaffe "das Gerede über Obergrenzen und Zäune" der Politik allenfalls eine Pause, es löse aber keine Probleme. Das Gebot der Stunde laute vielmehr: Die Politik muss ihre Bemühungen sehr viel stärker als bisher auf die Bekämpfung von Fluchtursachen richten. Wenn es nicht gelinge, Armut, Ungleichheit und die Zerstörung natürlicher Lebensgrundlagen wirksam anzugehen, seien dauerhafte Fluchtbewegungen von Millionen schutzbedürftiger Menschen in bereits überforderte Aufnahmeländer im Süden, aber auch in den Norden unausweichlich. Ein derartiger Migrationsprozess berge enorme Destabilisierungsgefahren.

Gysi warnte in diesem Zusammenhang vor einem Zerfall Europas; dieser könne zu einer "sicherheitspolitischen Katastrophe" führen, an deren Ende auch bis vor kurzem für unmöglich erachtete kriegerische Auseinandersetzungen in Europa stehen könnten. Gysi verwies zudem auf die weltweit immer extremer ausfallenden Einkommensunterschiede: Die 62 reichsten Menschen auf der Erde verfügten über dasselbe Vermögen wie die untere Hälfte der gesamten Weltbevölkerung zusammen, das heißt, wie rund 3,6 Milliarden Menschen. Es sei an der Zeit, dass die Politik für mehr globale Verteilungsgerechtigkeit eintrete.

Auf die Frage, welche konkreten Schritte er vorschlagen würde, unterstrich Gysi zum einen die Notwendigkeit, flucht- und migrationsbezogene Arbeitsplätze für den ärmeren Teil der deutschen Bevölkerung zu schaffen; diesen Bundesbürgern müsse deutlich gemacht werden, dass sich die Politik auch um ihre Belange kümmere und sie von der Aufnahmebereitschaft Deutschlands profitierten. Das reduziere auch die Anfälligkeit für rechtspopulistische beziehungsweise nationalkonservative Politikangebote.

Innere Sicherheit braucht mehr Menschen, nicht mehr Technik

Zum anderen schlug Gysi die Einrichtung des neuen Berufsbildes der Integrationslehrerin beziehungsweise des Integrationslehrers vor, der das gesamte Spektrum integrationsrelevanter Fragen abdecke: von der Entwicklung von Perspektiven für die berufliche Qualifizierung bis hin zur Vermittlung zentraler gesellschaftlicher Werte. Ersteres sei dabei von besonderer Bedeutung, denn "ohne berufliche Integration gebe es keine wirkliche Integration".

In seiner Analyse zur inneren Sicherheit in Deutschland äußerte Gysi deutliche Kritik an der in den vergangenen Jahren forcierten Videoüberwachung im öffentlichen Raum und an der Entwicklung der personellen Ausstattung der Polizei. Nach Einschätzung Gysis habe sich der "Ersatz von Personal durch Kameras" nicht bewährt. Der verstärkte Rückgriff auf moderne Überwachungstechnik bei gleichzeitigem Personalabbau im Vollzugsdienst habe nicht zu einer spürbaren Verringerung der Verbrechenszahlen in Deutschland geführt. Videoüberwachung sei kein probates Abschreckungsmittel gegen kriminelle Machenschaften. Man benötige dafür mehr Polizeikräfte.

Autor: Martin Schuldes