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Einsatzkultur als Traditionsquelle: Wie mit den Auslandseinsätzen eine neue militärische Kultur in die Bundeswehr kam

26/2017
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Mit den Auslandseinsätzen der Bundeswehr bildete sich unter den deutschen Soldatinnen und Soldaten eine militärische Einsatzkultur heraus, die sich an den Realitäten und den Gefechtserfahrungen im Ausland ausrichtet. Gleichzeitig taten sich in der Bundeswehr Freiräume für individuelle Aushandlungsprozesse eines soldatischen Selbstverständnisses und Traditionsverständnisses auf. Diese Freiräume konnten erst durch das Ausbleiben der Herausbildung einer Traditionslinie entstehen, welche den neuen Einsatzrealitäten Rechnung trägt. Die Einsatzkultur füllt dieses Vakuum. Damit geht jedoch in Teilen ein apolitisches Selbstverständnis um einen Kämpfertypus einher, welches kaum mit der pluralistischen Gesellschaft Deutschlands oder den komplexen Anforderungen humanitärer Interventionen in Einklang zu bringen ist. Umso wichtiger sind die Fragen: Welcher Stellenwert muss der Einsatzkultur bei der Neuformulierung der Richtlinien zum Traditionsverständnis und zur Traditionspflege in der Bundeswehr zukommen? Und wie kann diese in eine bundeswehreigene Tradition überführt werden?

Die Bundeswehr steht als weltweit agierende Einsatzarmee in einem Prozess der stetigen Veränderung und Transformation. Dieser dynamische Wandel hat sich mit der deutschen Beteiligung an Auslandseinsätzen beschleunigt und definiert sich entlang eines erweiterten Auftragsspektrums, eines umfassenden Fähigkeitsprofils und globaler Einsatzräume. Für die „Bundeswehr im Einsatz“ sind somit Out-of-Area-Einsätze zum Zwecke der internationalen Krisenbewältigung und Konfliktverhütung inzwischen fester Bestandteil geworden. Dies hat direkte Auswirkungen auf den dienstlichen und kulturellen Alltag der Bundeswehrangehörigen, aber auch auf die Verankerung der Streitkräfte in der Zivilgesellschaft. Die jüngste Debatte um ein belastbares Traditionsverständnis für die Truppe ist hierfür beispielgebend.

Auf institutioneller Ebene bedingte das deutsche Engagement in internationalen Einsätzen die Entstehung einsatzorientierter Strukturen sowie einen kontinuierlichen technischen und strukturellen Transformationsprozess der Bundeswehr. Eine parallele und zielstrebige Herausbildung einer Traditionslinie, die sich an den neuen Einsatzerfahrungen orientiert, blieb jedoch aus. Infolge wurden innerhalb der deutschen Streitkräfte Rollenkonflikte um das soldatische Selbstverständnis aufgeworfen. Die Soldatinnen und Soldaten sehen sich heute mit den Erfordernissen einer berufsethischen Neuorientierung und Sinngebung konfrontiert. Sie stehen der Herausforderung gegenüber, sich in einer Armee zu verorten, die komplexen sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen unterliegt, wechselnden Gefährdungspotenzialen Rechnung tragen muss und sich durch einen fortwährenden Transformationsprozess im Veränderungsstress befindet.

Was ist Einsatzkultur?

Unter den benannten Rahmenbedingungen taten sich in der Truppe Freiräume für individuelle Aushandlungsprozesse eines soldatischen Berufsbildes und Traditionsverständnisses auf. In eben diese Freiräume trägt eine Generation von einsatz- und kampferfahrenen Bundeswehrsoldaten ihre Einsatzrealitäten und Gefechtserfahrungen hinein. Die damit einhergehende Tradierung von Einsatzerfahrungen findet Ausdruck in einer Vielzahl von Symbolisierungen und subkulturellem Brauchtum, das von den Soldatinnen und Soldaten in Form einer Einsatzkultur gepflegt wird. Hierzu zählen unter anderem spezifische Abwandlungen von Ausrüstungsgegenständen und Uniformteilen, die Stärkung von kameradschaftlichen Beziehungen und das Aufkommen informeller Verfahrensweisen bei unterschiedlichsten Abläufen, die sich an den Notwendigkeiten der Auslandseinsätze ausrichten. Das vornehmliche Mittel des Erhalts und der Verbreitung dieser Einsatzkultur sind die Geschichten aus den Einsatzgebieten. Die Erzählungen sind durch eine authentische Perspektive der Einsatzsoldaten selbst geprägt und haben zumeist Einsatzbelastungen, Gefechtshandlungen sowie Grenzsituationen zum Gegenstand.

Die Einsatzkultur und ihre Auswirkungen

Somit entwickeln bereits Bundeswehrangehörige ohne persönliche Einsatzerfahrungen relativ genaue Vorstellungen von der Einsatzkultur und der Bedeutung einer persönlichen Teilnahme an einem Auslandseinsatz. Eine Einsatzteilnahme wird infolge für die Soldatinnen und Soldaten zur Initiationsleistung innerhalb der Bundeswehr, wodurch sie in die inoffizielle Statusgruppe der „Einsatzerfahrenen“ aufgenommen werden und hierdurch Anerkennung und sozialen Aufstieg außerhalb der formalen Karrierelaufbahnen erfahren. Mit der weiteren Zunahme von Einsatz- und Gefechtserfahrungen werden zudem informelle Strukturen, die auch aus der Einsatzkultur hervorgehen, immer resistenter gegen institutionelle Einflüsse, und formal gültige Hierarchien laufen Gefahr relativiert zu werden. Dies wird zusätzlich durch den Umstand verstärkt, dass in der Bundeswehr erstmalig vor allem junge Soldatinnen und Soldaten der niedrigeren Dienstgradgruppen von Einsatzerfahrungen höchster Intensität berichten können.

Darüber hinaus werden mit dem gemeinsamen Erfahrungsschatz aus den Einsätzen informelle Strukturen bedeutsamer als abstrakte Konzepte und Wertevorstellungen. Entsprechend ist eine militärische Binnenkultur, an deren Spitze die Führungskonzeption der Inneren Führung und das gültige Leitprinzip des Staatsbürgers in Uniform stehen, der Gefahr ausgesetzt, unter den Militärangehörigen an Bedeutung für das eigene berufliche Selbstverständnis und die soldatischen (Einsatz-)Realitäten zu verlieren.

Immer mehr Einsatzsoldatinnen und -soldaten richten sich weniger an dem jeweiligen politisch festgelegten Ziel eines Auslandseinsatzes aus. Stattdessen wird zumeist um der Teilnahme selbst willens an einem Auslandseinsatz der Bundeswehr teilgenommen und sich vor Ort in erster Linie an den scheinbaren Erfordernissen der soldatischen Realitäten im Einsatzgebiet orientiert – wozu in den meisten Fällen auch die Befähigung zum Kampf gehört. Das Selbstverständnis des Kämpfers passt jedoch kaum in die zivile und pluralistische Gesellschaft Deutschlands und macht es dem Teil der Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr, welche sich vornehmlich auf dieses Verständnis stützen, umso schwerer, einen Weg zu finden, welcher die gesellschaftliche Anerkennung und zugleich den professionalisierten Selbstanspruch gewährleistet. Viele Bundeswehrangehörige glauben diesen Weg in der militärischen Einsatzkultur zu finden. Entsprechend wird durch die Soldatinnen und Soldaten die „Tradition des Einsatzes“ mit Tugendvorstellungen von Kameradschaft, Tapferkeit und Pflichtbewusstsein verbunden, die für sie als traditionswürdig gelten und innerhalb der Truppe als genuin soldatische Werte angesehen werden. Unter diesen Gesichtspunkten sollte ein überarbeiteter Traditionserlass die Einsatzkultur und ihre soziale Wirkkraft in der Truppe anerkennen und politisch einordnen.

Die Einsatzkultur als Traditionslinie?

Die aktuellen Herausforderungen und Erfahrungen der Auslandseinsätze haben innerhalb der Bundeswehr neben einer neuen Einsatzkultur auch eine neue Form der Tradierung entstehen lassen: soldatisches Brauchtum und einsatzbezogene Erzählungen aus der unmittelbaren Nahwelt der Soldatinnen und Soldaten. Dieses Brauchtum ist dabei nicht der Inhalt, sondern nur die Form mittels welcher die Einsatzkultur weitergegeben wird. Für die Soldatinnen und Soldaten besteht dabei die Möglichkeit der Mitgestaltung, denn Brauchtum erwächst im Gegensatz zu den offiziellen Traditionslinien der Bundeswehr zumeist direkt aus der Truppe heraus. Vielmehr ist soldatisches Brauchtum unmittelbar im gelebten Alltag der Soldatinnen und Soldaten verankert und vermag es, in einem greifbareren Zusammenhang Orientierung im Dienst zu geben.

Den Anspruch an eine Orientierung haben auch die offiziellen Traditionslinien der Bundeswehr. Die Grundlage für diese Traditionslinien wird durch die Richtlinien zum Traditionsverständnis und zur Traditionspflege in der Bundeswehr aus dem Jahr 1982 – dem sogenannten Traditionserlass – sowie durch die Rechtsstaatlichkeit im Sinne des Grundgesetzes vorgegeben. Die insgesamt drei offiziellen Traditionslinien bilden:

  • die preußische Heeresreform der Jahre 1807 bis 1814,

  • der militärische Widerstand gegen den Nationalsozialismus und gegen das NS-Regime,

  • die eigene Geschichte der Bundeswehr seit ihrem Gründungsjahr 1955 sowie ihre gesellschaftliche Verankerung.

Für die genauere Ausgestaltung der Traditionen waren in der Vergangenheit allerdings weite Freiräume gegeben. So galt es laut des letzten Traditionserlasses, dass Tradition angesichts der in einer pluralistischen Gesellschaft variierenden Verbindlichkeit historischer Ereignisse und Gestalten stets auch eine persönliche Entscheidung sei. Unter diesen Rahmenbedingungen und in Verbindung mit den Auslandseinsätzen wurde schließlich die Bundeswehr selbst zum wichtigsten Traditionsgeber unter den drei Traditionslinien – einschließlich der Einsatzkultur und militärischer Subkulturen.

Während die Eigentradition der Bundeswehr somit zunehmend an Bedeutung gewinnt, besteht jedoch in Bezug auf die unmittelbaren Kampferfahrungen der Auslandseinsätze kein klarer historischer Bezugspunkt für die Soldatinnen und Soldaten – denn keine der drei Traditionslinien bezieht sich explizit auf Kampfhandlungen. In Ermangelung eines solchen Traditionsangebotes wurden in der Truppe immer wieder Bezüge zur Wehrmacht hergestellt. Verbrechen während des Zweiten Weltkrieges, die in direkter Verbindung zur Wehrmacht stehen, wurden dabei teilweise ausgeblendet. Dieses Ausblenden seitens der Soldatinnen und Soldaten geschieht – und das ist ausdrücklich zu betonen – zumeist ohne politische Motivation. In erster Linie werden bei derartigen Wehrmachtsbezügen unter einem rein funktionalen Aspekt Orientierungspunkte für historische Kampferfahrungen gesucht. Infolge haben mit den Auslandseinsätzen der Bundeswehr – insbesondere dem Afghanistaneinsatz – die Bezugnahmen zur Wehrmacht anfangs noch zugenommen, werden jedoch inzwischen von der Einsatzkultur als Traditionsgrundlage kontinuierlich wieder verdrängt. Der Historiker Sönke Neitzel etwa sagte kürzlich in einem Interview mit dem Spiegel: „Mit den Einsätzen in Afghanistan gibt es nun eine eigene Tradition, auf die man sich besinnen kann.“ Die Eigentradition der Bundeswehr ist für die Angehörigen der Streitkräfte deutlich präsenter als historische Bezugspunkte, die weit in der Vergangenheit liegen und abstrakt erscheinen.

Die Bundesministerin der Verteidigung Dr. Ursula von der Leyen hat mit dem Auftrag, den gültigen Traditionserlass von 1982 überarbeiten zu lassen, eine notwendige Entscheidung getroffen, welche bereits mit den ersten Auslandseinsätzen der Bundeswehr hätte ergriffen werden müssen. Denn der aktuelle Erlass mit dem Dreiklang seiner historischen Traditionslinien bietet für die Bundeswehr als eine Einsatzarmee mit einer sich immer weiter verfestigenden Einsatzkultur keine hinreichende Traditionsgrundlage mehr.

Die Bundeswehrangehörigen im Fokus

Im Zuge der laufenden Debatte um das Traditionsverständnis der Bundeswehr ist mit Blick auf die Auftragslage und die weltweiten Einsatzverpflichtungen die Frage nach der individuellen Überzeugung der Soldatinnen und Soldaten zu stellen. Dies hat dahingehend besondere Bedeutung, als dass es sich beim Soldatenberuf um einen Gesinnungsberuf handelt und persönliche Überzeugungen maßgeblich die Dienstausübung beeinflussen. Streitkräftebefragungen ergaben in diesem Zusammenhang, dass Soldatinnen und Soldaten, welche nach 1990 in die Bundeswehr eintraten, ihr berufliches Selbstverständnis vorrangig am Auslandseinsatz ausrichten. Diese Ausrichtung steht in unmittelbarer Verbindung zur Einsatzkultur, die sich immer mehr um ein professionelles und funktionales Berufsbild formiert.

Ferner hat sich innerhalb der Einsatzkultur auch eine Subkultur herausgebildet, die sich an einem apolitischen Kämpfertypus ausrichtet und welche zulasten einer werte- und normenbasierten Politisierung des soldatischen Selbstverständnisses geht. Diese Vorstellung um ein Kämpferbild findet sich vorwiegend in der Teilstreitkraft Heer, da diese den mit Abstand größten Anteil infanteristischer Verbände vereint. Das Heer stellt überdies die meisten gefechtserfahrenen Soldatinnen und Soldaten. Dies begründet sich in der nur bedingten Nutzbarmachung eines waffentechnischen Vorsprungs, was gerade in asymmetrischen Konflikten auch weiterhin boots on the ground notwendig macht. Zumal fehlen den Angehörigen von Kampftruppen im Vergleich zu anderen Bundeswehrangehörigen, die beispielsweise als Sanitäter, Logistiker oder Informatiker eingesetzt sind, die Möglichkeit, ihre dienstlichen (kampfbezogenen) Aufgaben in einen zivilen Bezug zu setzen. Infolge sind es die infanteristischen Verbände, welche zum zentralen Kulturträger der Einsatzkultur sowie der Subkultur eines Kämpfertypus geworden sind und dabei Einfluss auf die gesamte Bundeswehr nehmen.

Einsatz- und Subkultur bieten den Soldatinnen und Soldaten – im Gegensatz zur Konzeption der Inneren Führung oder dem Traditionserlass – eine direkte subjektive Erfahrbarkeit und suggerieren ihnen eine unmittelbare Zweckmäßigkeit. Auch neu formulierte Richtlinien für das Traditionsverständnis der Bundeswehr werden durch die Soldatinnen und Soldaten vor dem Hintergrund ihrer persönlichen Einsatzerfahrungen bewertet werden. Es muss folglich den Einsatzerfahrungen und den soldatischen Realitäten Rechnung getragen, diese hinreichend gewürdigt sowie möglichst reibungsfreie Anknüpfungspunkte angeboten werden. Insbesondere sind Angehörige aller Dienstgradgruppen zwingend in den Prozess der Überarbeitung des Traditionserlasses einzubeziehen.

Zukunftsaussichten und Handlungsbedarf

Die Bundeswehr wird auch in Zukunft in der Rolle einer weltweit agierenden Einsatzarmee gefordert sein. Infolgedessen wird sie sich auch weiterhin in einem stetigen Transformationsprozess befinden, über den die militärische Organisationsstruktur immer wieder neu an den Auslandseinsätzen ausgerichtet wird. Neben den damit einhergehenden Veränderungen auf der technischen und strukturellen Ebene wird sich damit ebenfalls immer wieder der soziale und dienstliche Alltag der Bundeswehrangehörigen im In- und Ausland verändern. Gleichzeitig wird mit der Fokussierung auf die Auslandseinsätze die Einsatzkultur zunehmend an Einfluss auf die soldatischen Lebenswelten erlangen. Sie wird dabei nicht lokal an die Einsatzgebiete gebunden bleiben, sondern wird bis in den dienstlichen Alltag an den Bundeswehrstandorten in Deutschland hineinwirken. Diese Entwicklung hat längst eingesetzt und wird mit weiteren Einsatzerfahrungen deutscher Soldatinnen und Soldaten an Bedeutung für das soldatische Selbstverständnis nochmals hinzugewinnen.

Umso wichtiger ist es, gerade den noch jungen Rekrutinnen und Rekruten bereits zu Beginn ihres Militärdienstes ein verständliches Traditions- und Kulturangebot zu bieten, welches sich nicht nur auf Einsatz und Kampf bezieht, sondern der Komplexität verschiedener Einsatzszenarien gerecht wird und gesamtgesellschaftlich tragbar ist. Dabei gilt es, die Eigentradition der Bundeswehr zu stärken und sie sich begleitend hierzu in einem politisch klar gesetzten Rahmen entwickeln zu lassen. Wenn es mit der Neuformulierung des Traditionserlasses nicht gelingen sollte, unkontrolliertes Brauchtum und das einsatzbedingte Selbstverständnis eines archaischen und apolitischen Kämpfertypus einzufangen, wird dies weitreichende Folgen für die Bundeswehr als Einsatzarmee haben. Denn ein solches, rein funktional definiertes Berufsbild steht im Gegensatz zum Anforderungsprofil der Auslandseinsätze und klammert jene Fähigkeiten aus, welche nicht genuin militärisch sind aber in den Einsatzgebieten der Bundeswehr enorme Bedeutung haben. Die dortigen asymmetrischen und hochdynamischen Einsatzfelder erfordern von jeder Soldatin und jedem Soldaten interkulturelle Kompetenzen und zivile Fähigkeiten, die in einem archaischen Berufsbild nicht repräsentiert werden. Um die vielfältigen Anforderungen zu erfüllen, braucht es vielmehr eine Traditionsgrundlage, die demokratische Grundwerte verinnerlicht, emotional wirkmächtig ist und zugleich für das Gefechtsfeld taugt.

Was einer Neuformulierung folgen muss

Mit der Neuformulierung der Richtlinien zum Traditionsverständnis muss ein politisch legitimiertes Konzept der Orientierung entstehen, das einsatznah, nachhaltig und an den soldatischen Realitäten ausgerichtet ist. Um dies mit Blick in die Zukunft auch dauerhaft gewährleisten zu können, muss sich beständig und konsequent dem Forschungsfeld „Bundeswehr“ angenommen und die soldatischen Lebenswelten von „unten nach oben“ erfasst werden. Da moderne Streitkräfte komplexe Organisationen sind, variiert der gelebte Dienstalltag von Bundeswehrangehörigen je nach ihrer konkreten Tätigkeit drastisch. Das Spektrum reicht von Logistiklager oder Werkstatt über Schreibtisch und Konferenzraum bis hin zu Gefechtsfahrzeug oder Schießbahn. Insbesondere subkulturelles Brauchtum (aus der Truppe erwachsene, wiederkehrende Gewohnheiten und ritualisierte Handlungen, die neben den politisch legitimierten Traditionslinien existieren), sowie die militärische Einsatzkultur und ihre Rückwirkungen auf den Alltag der gesamten Bundeswehr müssen in den Fokus gestellt werden. Subjektive Lebenswirklichkeiten sind dabei zwingend zu erfassen und sich von der technokratisch-funktionalen Vorstellung einer homogenen Masse von Befehlsempfängern zu verabschieden. Stattdessen muss sich der Heterogenität einer kollektiven Armee angenommen werden.

Dies setzt einen genauen Blick auf die tägliche Realität des Dienstes voraus, welcher sich mittels der bisherigen Zugänge, wie etwa standardisierte Fragebögen nach einer Einsatzteilnahme, nur bedingt realisieren lässt. Eine wissenschaftliche Alternative, Einsatzkultur stichhaltig zu erschließen und militärische Lebenswelten zu verstehen, wäre, eine dichte, ethnologische Perspektive auf die Streitkräfte einzunehmen. Eine solche Perspektive zeichnet sich durch einen qualitativen Forschungsansatz und eine uneingeschränkte Teilnahme am Alltag der Soldatinnen und Soldaten aus. Hierdurch können Bewusstsein und Verhalten von Militärangehörigen als autonome Leistungen von Individuen abgebildet werden. Dieses ethnografische Vorgehen bietet die Chance, ein binnenkulturelles Monitoring für die Bundeswehr zu konstituieren und zukünftigen Traditionsdebatten vorauszugreifen.

Die bereits heute stark ausgeprägte Heterogenität des Dienstalltags in der Bundeswehr und die damit zusammenhängenden Subkulturen dürften sich mit zukünftigen gesellschaftlichen Herausforderungen und dem zunehmenden Kampf um den Cyber- und Informationsraumraum noch weiter ausdifferenzieren. So werden sich die zukünftig im neuen Organisationsbereich CIR eingesetzten Soldatinnen und Soldaten in ihrem Selbstverständnis kaum auf das unmittelbare Gefecht beziehen. Diese Entwicklungen gilt es im Auge zu behalten, um den Soldatinnen und Soldaten bereits frühzeitig Orientierungspunkte geben zu können. Die Disziplin der Ethnologie kann mit ihrer Methodenvielfalt hierbei einen entscheidenden Beitrag leisten, sofern ihr die Zugänge zur Bundeswehr ermöglicht werden.

Philipp Fritz promoviert und arbeitet am Exzellenzcluster „Die Herausbildung normativer Ordnungen“ der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Neben seiner wissenschaftlichen Tätigkeit ist er Oberleutnant der Reserve mit Einsatzerfahrung. Der Autor gibt seine persönliche Meinung wieder.

Copyright: Bundesakademie für Sicherheitspolitik | ISSN2366-0805 Seite 1/5

 

Arbeitspapier Thema: 
Bundeswehr
Zivil-Militärische Beziehungen
Region: 
Deutschland
Schlagworte: 
Bundeswehr
Zivil-Militärische Beziehungen
Deutschland