Arbeitspapiere

Die Mär von der multipolaren Weltordnung: Hegemonie in der Sicherheitspolitik des 21. Jahrhunderts

5/2015
Autor/in: 
Multipolarität wird gern als Wunschvorstellung genannt, wenn es um die Weltordnung des 21. Jahrhunderts geht. Doch die Geschichte zeigt: Multipolarität ist ein Übergangszustand, der Instabilität und Krisenanfälligkeit mit sich bringt. Hegemonie hingegen, im besten Falle wohlwollende, ist eine Konstante in der Sicherheitspolitik, denn sie ist für einen längeren Zeitraum stabil. Doch was bedeutet diese Erkenntnis für Länder wie Deutschland und ihre Außen- und Sicherheitspolitik heute?

Der vermeintliche Aufstieg Chinas, der angebliche Abstieg der USA und viele neue Mächte auf der Weltbühne – das Modewort der Zeit heißt Multipolarität. Im Mittelpunkt steht die Frage, ob der bipolaren (Kalter Krieg) und unipolaren (USA in den 1990er Jahren) tatsächlich die viel beschworene multipolare Welt auf Dauer nachfolgt.

Eine Vielzahl von Hinweisen und ein Blick in die Vergangenheit zeigen nämlich, dass sich Multipolarität vor allem durch zwei Eigenschaften auszeichnet: Sie ist instabil und sie ist vorübergehend. Damit ist sie auch normativ problematisch, denn Instabilität und Krisenanfälligkeit sind im Allgemeinen nicht erstrebenswert. Für die Sicherheitspolitik ist ein ganz anderer Faktor entscheidend: Hegemonie.

Hegemonie klingt zunächst negativ, verbindet man mir ihr doch imperiale Systeme, deren innerer Zusammenhalt auf Autorität und Einschüchterung basiert. Es gibt aber auch den integrierenden Hegemon, der – wie etwa die USA in der NATO – die Souveränität von Nationalstaaten weitgehend respektiert. Dieses hegemoniale System beruht auf Partizipation und Kooperation nach innen.

Was folgt daraus? Zum einen kann man die Ausrichtung der Außen- und Sicherheitspolitik auf eine multipolare Welt (Institutionen, Organisationsstrukturen und Verwendung von Ressourcen) kritisch hinterfragen. Zum anderen ergeben sich Schlussfolgerungen für die außenpolitische Orientierung. Man kann Akzente setzen in den Beziehungen zu potentiellen Hegemonen und multipolaren Foren.

Hegemonie bestimmt die Sicherheitspolitik, Multipolarität ist ein Zwischenstadium

Der Blick in die Geschichte zeigt, dass ein stabiles Machtgefüge meist von Hegemonie geprägt ist. Dabei gilt das Prinzip wonach einzig ein einzelner Staat, der Hegemon, eine sicherheitspolitische Ordnung bereitstellen und aufrechterhalten kann.

Es muss aber nicht immer derselbe Staat Hegemon sein, Wechsel sind möglich. Wenn der alte Hegemon durch einen neuen abgelöst wird, bestimmt eine Phase hegemonialer Transformation die weltweite Sicherheitslage. Diese Umbruchsphase ist von vorübergehender Multipolarität gekennzeichnet, die meist Instabilität und Krisenanfälligkeit nach sich zieht. Gerade mittelgroße Mächte gewinnen in dieser Phase an sicherheitspolitischem Einfluss, allerdings nur vorübergehend. Für diese mittelgroßen Länder eröffnet das eine Wahl zwischen aktiverer Außenpolitik auf regionaler und globaler Ebene einerseits und sicherheitspolitischer Zurückhaltung andererseits.

Die Annahme, dass eine Gruppe solcher Staaten oder internationaler Organisationen im Sinne von Multilateralität bzw. Multipolarität dauerhaft in die Rolle des Hegemon schlüpft und dessen Aufgaben, also die Bereitstellung und Erhaltung einer globalen Sicherheitsarchitektur, übernimmt, erscheint fraglich. Eine multipolare Weltordnung ersetzt nicht die Vorherrschaft eines einzelnen Akteurs, sie ist lediglich charakteristisch für eine Übergangszeit.

Beispiel: Die G20 gelten als institutionalisierte Multipolarität. Auch wenn diese „Steuerungsgruppe“ in Fragen von Handels-, Wirtschafts-, und Finanzpolitik durchaus Achtungserfolge erzielen konnte, ist ihre sicherheitspolitische Bilanz schwach. Ganz im Gegenteil zur institutionalisierten Hegemonie der NATO und, für die Zeit seines Bestehens, des Warschauer Pakts in sicherheitspolitischen Fragen. Hier garantiert ein Hegemon (die USA bzw. Sowjetunion) Ordnung und Handlungsfähigkeit.

Das Beispiel des Warschauer Pakts zeigt die unmittelbare, schicksalhafte Verknüpfung von Ordnung im internationalen System mit dem Hegemon: Verliert der Hegemon Wille und Fähigkeit zur Aufrechterhaltung seiner Führungsposition, erodiert auch „seine“ Sicherheitsordnung.

Multipolarität bedeutet meist Instabilität und Krisenanfälligkeit

Warum aber ist Multipolarität instabil und krisenanfällig? Ein historischer Vergleich zeigt, dass zwei Faktoren dabei entscheidend sind. Derzeit öffnet sich ein „Window of Opportunity“ für Staaten, um ihren machtpolitischen Einfluss zu vergrößern oder Grenzen zu verschieben (Russland-Ukraine-Krise, Nahost). Grund dafür ist, dass eine hegemoniale Ordnung, die eine Verschiebung des Status Quo verhindert, vorübergehend nicht vorherrscht. Darüber hinaus begründet die voranschreitende Globalisierung eine enge wirtschaftliche Vernetzung weltweit.

Eine vergleichbare Situation zeigt die Geschichte: Vor einhundert Jahren, zu Beginn des 20. Jahrhunderts, drangen aufstrebende Mächte (das Deutsche Reich, Russland, die USA) in globale Machtsphären vor und forderten das ihnen nach eigenem Dafürhalten zustehende Mitspracherecht in der Weltpolitik ein. Der damalige Hegemon Großbritannien befand sich im Abstieg und war nicht mehr in der Lage, diesen Bestrebungen Einhalt zu gebieten und die Weltordnung zu stabilisieren. Auch damals herrschte eine enge wirtschaftliche Verflechtung vor.

Die Parallelen sind offensichtlich: In beiden Phasen, am Anfang des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts, zeichnet sich durch den Aufstieg neuer Mächte Multipolarität ab. In beiden Phasen kann die enge wirtschaftliche Verflechtung den Ausbruch von Konflikten nicht verhindern. In beiden Phasen ist die sicherheitspolitische Ordnung instabil und krisenanfällig.

Und in beiden Phasen ist das Unvermögen der internationalen Gemeinschaft, Konflikte zu beenden und in Sicherheitsfragen Stabilität zu wahren, bezeichnend. Kurzum: Beide Phasen zeigen die Charakteristika einer Phase hegemonialer Transformation.

Im letzten Jahrhundert wüteten in Folge von Instabilität und Krisenanfälligkeit zwei Weltkriege, bis der Aufstieg der USA sowie vorübergehend der Sowjetunion als Hegemone die Ordnung wiederherstellte und eine stabile Sicherheitsarchitektur entstand.

Heute zeigen die Krisen und Konflikte in der Ukraine, im Nahen und Mittleren Osten, in Teilen Afrikas und wieder auf die Tagesordnung gehobene Territorialstreitigkeiten in Südostasien exemplarisch, dass die Sicherheitslage instabiler und krisenanfälliger geworden ist. Gleichzeitig versinnbildlicht die folgenlos gebliebene Überschreitung der von den USA gezogenen „Roten Linien“ in Syrien, dass eine hegemoniale Ordnung derzeit nicht mehr existiert.

Ob sich die Konflikte unserer Zeit in historischer Analogie zu den Weltkriegen zu Flächenbränden ausweiten, kann nicht mit Sicherheit vorhergesagt werden. Zu erwarten ist jedoch, dass die hohe Anzahl derzeitiger Krisen und bewaffneter Konflikte in vielen Weltregionen ein vorübergehendes Phänomen bleibt, das im Zusammenhang mit multipolarer Instabilität steht.

Multipolarität: Indiz für einen Wechsel im System, aber nicht für einen Systemwechsel

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion war die Annahme weit verbreitet, dass die USA als „einzig verbliebene Supermacht“ der Hegemon unserer Zeit sind, der die globale Sicherheitsarchitektur in einer unipolaren Welt herstellt und aufrechterhält. Schlagworte wie „end of history“ und „Friedensdividende“ veranschaulichen die damalige Stimmung.

Heute hingegen wird über einen möglichen Abstieg der USA gemutmaßt. Gleichzeitig wird der Aufstieg neuer Mächte viel diskutiert. In erster Linie zählen dazu China, Indien und Brasilien. Zudem werden unter anderem Mexico, Nigeria, Indonesien, die Türkei oder auch Deutschland als dauerhaft einflussreiche Akteure der Zukunft genannt. Dabei wird erwartet, dass sich regionaler Blöcke im machtpolitischen Fahrwasser regionaler Führungsmächte herausbilden und im Ergebnis eine dauerhaft multipolar austarierte Weltordnung entsteht.

Der Ausgang dieser Entwicklung, also welche Staaten auf- und welche absteigen oder welche stagnieren werden, ist nicht vorherzusagen. Klar ist jedoch, dass die Weltordnung im Umbruch ist und der Einfluss von Staaten sich verschiebt. Viele der genannten Länder verfolgen eine selbstbewusste und eigenständige Außenpolitik, die sich vom „Westen“ zunehmend emanzipiert.

Aber: Sowohl das Abflauen des Wirtschaftswachstums und politisch unruhige Verhältnisse in Brasilien, Russland oder der Türkei als auch die weiterhin starke Stellung der USA zeigen, dass diese Verschiebung von Einfluss nicht zwangsläufig dauerhaft sein muss. Strategische Veränderungen im Energiesektor, gute Wirtschaftsperspektiven und die demografische Entwicklung weisen sogar darauf hin, dass der vermeintliche Niedergang Amerikas einmal mehr verfrüht verkündet wird. Wenn, dann ist offenbar ein Wechsel im System anzunehmen, ein Systemwechsel hingegen nicht.

Vorübergehende Multipolarität: Was bedeutet das für die Sicherheit?

Blickt man in die Kristallkugel, so kann die Phase hegemonialer Transformation auf zwei Arten verlaufen: Entweder vollzieht sich die Ablösung des Hegemon langwierig und gewaltfrei oder als gewaltsamer Umsturz in Form globaler Ausscheidungskriege. Dabei schwächen sich die beteiligten Akteure gegenseitig solange, bis ein einzelner nationalstaatlicher Akteur im relativen Verhältnis zu seinen Kontrahenten eine Position erlangt, die ihn zur Ausübung hegemonialer Dominanz befähigt.

Das größte Potential, in Zukunft die globale Sicherheitspolitik zu bestimmen, kann den USA und China beigemessen werden, sowohl einzeln als auch gemeinsam (als G2). Beide Länder nutzen die Phase hegemonialer Transformation und die vorübergehende Multipolarität, um sich zu positionieren – das zeigen strategische Neuausrichtungen und die Artikulation langfristiger Ambitionen.

Schlussfolgerungen: Was bedeutet das für die Debatte?

Entgegen der weit verbreiteten Ansicht vieler Beobachter und Experten muss die Welt im 21. Jahrhundert nicht unbedingt multipolar sein. Und: Auch wenn eine multipolare Welt gerechter erscheint, ist sie nicht unbedingt friedlicher und sicherer.

Integrierende Hegemonie, die Einbeziehung vieler Akteure unter der Vorherrschaft einer wohlwollenden Führungsmacht, hat in der Vergangenheit langfristig für sicherheitspolitische Stabilität gesorgt. Der Abstieg eines Hegemon hingegen führt zu Instabilität und Krisenanfälligkeit des internationalen Systems – das mögen jene Bedenken, die schon seit langem die Multipolarität als Heilsbringer für Frieden und Gerechtigkeit herbeisehnen.

Matthias Kennert arbeitet im Seminar für Sicherheitspolitik der Bundesakademie für Sicherheitspolitik in Berlin. Der Autor gibt seine persönliche Meinung wieder.

Arbeitspapier Sicherheitspolitik, Nr. 5/2015 | Copyright: Bundesakademie für Sicherheitspolitik Seite 1/4