Selbstbehauptung oder Ohnmacht der Demokratie

Panzerhaubitzen der Bundeswehr fahren durch ein Wohngebiet

Selbstbehauptung oder Ohnmacht der Demokratie

Deutschland 2035: Zwei Wege – Selbstbehauptung oder Ohnmacht der Demokratie

Globale Instabilität, wirtschaftliche Herausforderungen und konkrete Bedrohungen – ist Deutschland auf Dauer fähig, als wehrhafte Demokratie seine Interessen und Werte nach innen wie außen zu verteidigen? Das heutige Russland gilt als größte Bedrohung für Europa. Deutschlands äußere Sicherheit kann nachhaltig gestärkt werden, wenn politische Weitsicht, strategisches Durchhaltevermögen und transparente Kommunikation mit der Bevölkerung konsequent zusammengeführt werden. Was passiert, wenn dies gelingt und was, wenn es nicht gelingt? Autor Philipp Lange zeichnet zwei Szenarien zur Gesamtverteidigung. Foto: Bundeswehr/Neumann

Realistisch bis optimistisch: Abschreckung wirkt

Deutschland im Jahr 2035: Ein selbstbewusstes Deutschland feiert 80 Jahre Verantwortung in der NATO und das Bestehen der Bundeswehr. Der Weg dahin war nicht leicht. Rückblickend war insbesondere das Jahr 2029 eine Belastungsprobe, aber nicht nur für das Militär. Erholt von den hohen Verlusten, des schließlich im Jahr 2027 eingefrorenen Angriffskrieges auf die Ukraine zu den Bedingungen Russlands, versuchte es, durch Truppenaufmärsche an der NATO-Ostflanke und massive hybride Angriffe die Allianz zu destabilisieren – doch Deutschland und seine Partner reagierten entschlossen, geschlossen und vorbereitet. Der zweite Krieg, der nun innerhalb weniger Jahre Osteuropa bedrohte, wurde diesmal durch glaubhafte Abschreckung verhindert.

Die Weichen dazu wurden wenige Jahre zuvor gestellt. Spätestens 2025 wurden im Rahmen einer „Zeitenwende 2.0“ die Dringlichkeit zum Ausbau der nationalen Verteidigungsfähigkeit breit anerkannt und strategische Reformen in Bund und Ländern umgesetzt. Die Gesamtverteidigung wurde ressort- und länderübergreifend organisiert, politisch im Bundeskanzleramt gesteuert und klar priorisiert. Die deutsche Brigade in Litauen war 2027 einsatzbereit. Wenig später war die Bundeswehr bereit, binnen weniger Tage weitere kampfstarke Verbände ins Baltikum zu verlegen – unterstützt durch ein belastbares zivil-militärisches Netzwerk in Bund, Ländern, Kommunen und der Wirtschaft. Moderne Luftverteidigung, Mittelstreckenraketen, Cyberabwehr und interoperable Strukturen stellten sicher: Deutschland war umfassend militärisch handlungsfähig, konnte glaubhaft abschrecken und war nicht erpressbar.

Auch die zivilen Strukturen funktionierten und boten keine Lücke für äußere Aggression: Der Bevölkerungsschutz war erprobt, die Kommunikation zwischen allen Ebenen stabil – selbst unter Stresslagen anhand realistischer Kriegsszenarien funktionsfähig. Die Angriffe auf Energie- und Datennetze des Sommers 2029 konnten abgewehrt oder schnell kompensiert werden. Attentate wurden verhindert. Der Wille zur Selbstbehauptung war als so selbstverständlich in Politik, Medien und Gesellschaft verankert, dass die hybriden Angriffe auf Deutschland nicht zum Spielball des Wahlkampfes 2029 werden konnten. Die Gesellschaft war resilient – durch Aufklärung, Übung und eine neue Kultur der Sicherheitsvorsorge und Selbstwirksamkeit.

Diese Entwicklungen stärkten einerseits die Bundesregierung in ihrer geschlossenen Haltung innerhalb der NATO. Andererseits entlasteten sie die Bundeswehr, sodass diese sich auf ihren militärischen Kernauftrag konzentrieren konnte. Die „Drehscheibe“ funktionierte auch unter Belastung. Schnell konnten Kräfte der Alliierten und der Bundeswehr zu Abschreckung an die NATO-Außengrenze verlegt werden. Russland erkannte die Entschlossenheit und Reaktionsfähigkeit der Allianz. Es hatte auch Deutschland unterschätzt. Eine Eskalation hätte keinen schnellen Erfolg gebracht und genau das war entscheidend im Kalkül des Kremls. Der Konflikt blieb unterhalb der Schwelle eines offenen Krieges, auch wenn hybride Aktionen fortgeführt wurden. Diplomatische Verhandlungen untermauert mit militärischer Stärke führten zu einer Deeskalation.

Deutschland wurde durch den heißen Sommer 2029 sicherheitspolitisch gestärkt. Es hatte gezeigt, dass es als Eckpfeiler der Vereidigung Europas Verantwortung übernimmt. Im Jahr 2035 gilt Deutschland als politischer, wirtschaftlicher und militärischer Stabilitätsanker in Europa. Nicht perfekt, aber strategisch denkend, realistisch handelnd und vorausschauend investierend. Die Lehre aus dem Beinahe-Krieg von 2029: Nur wer für den „worst case“ vorbereitet ist, kann Frieden sichern. Nicht als Option, sondern als das Fundament einer sicheren Zukunft in Frieden und Freiheit.
 

Jena und Auerstedt 2.0

Rückblick aus dem Jahr 2035: Deutschland und Europa haben vor sechs Jahren einen Krieg gegen Russland verloren. Für weite Teile Europas nicht im klassischen Sinne einer Besetzung, aber politisch, psychologisch, gesellschaftlich und strategisch.

Das Drehbuch der Aggression offenbarte sich für viele trotz klarer Indikatoren erst im Nachhinein. In Deutschland kam es im Sommer 2029 - mitten in der Hauptphase des Wahlkampfs zur Bundestagswahl - zu koordinierten Cyberangriffen, großflächigen Waldbränden, Störungen der Satellitenkommunikation und gezielten Anschlägen auf Infrastruktur. Politische Uneinigkeit und föderales Kompetenzgerangel verhinderten zunächst eine gemeinsame Analyse und schließlich effektive Gegenmaßnahmen. Zeitgleich erhöhte Russland mit Großmanövern und nuklearer Rhetorik den Druck auf das Baltikum. Warnsignale wie der Test einer Trägerrakete auf ein Ziel in Ostsee zwischen Rügen und Bornholm wurden als „Säbelrasseln“ verharmlost, auch um die Bevölkerung nicht zu verunsichern. Nach dem Verstreichen eines Ultimatums von 72 Stunden erfolgte die punktuelle Besetzung neuralgisch wichtiger Knotenpunkte in den baltischen Staaten durch vermeintlich pro-russische Kräfte.

Die USA zögerten – warum den schwachen Europäern erneut helfen? Die NATO war wie gelähmt – ein Ergebnis jahrelanger hybrider Operationen und geopolitischer Fehleinschätzungen. Deutschland hätte Truppen und auch Zivilstrukturen mobilisieren müssen, allein schon, um der Rolle als „strategische Drehscheibe“ gerecht zu werden. Aber es kam zu spät und zu wenig. Die Bundeswehr war zur Krisenbewältigung im Inland gebunden, um den überforderten Bevölkerungsschutz zu unterstützen. Eine schnelle Verstärkung der Truppen an der NATO-Ostflanke blieb aus. Die Unfähigkeit, als logistische „Drehscheibe“ für das Bündnis zu funktionieren, wurde zum Symbol für Deutschlands sicherheitspolitisches Scheitern.

Zivile Unruhen verschärften die Lage: In Ostdeutschland bildeten sich „Selbstschutzgruppen“ in „kriegswaffenfreien Friedenszonen“, wichtige Infrastrukturen wurden blockiert, in Großstädten kam es zu Ausschreitungen. Ein zunehmend polarisierter Bundestag konnte letztendlich nicht die notwendige Zweidrittelmehrheit für die Ausrufung des Spannungsfalls bilden. Der Staat erschien handlungsunfähig und kaum zum Schutz der eigenen Bevölkerung fähig. Russland schuf in dieser Lage Fakten, als man in der NATO noch über die Ausrufung des Bündnisfalls debattierte. Die baltischen Staaten wurden teilbesetzt. Obwohl die dennoch vorhandenen deutschen Kräfte in Litauen bereit waren, tapfer zu kämpfen, waren auch diese ohne Verstärkung schnell isoliert. In Folge von Verhandlungen wurde die Rückführung aller NATO-Truppen ausgehandelt mit dem Preis der „Neutralität“ der baltischen Staaten.

Sechs Jahre danach hat Deutschland diese Folgen noch nicht bewältigt. Der Verlust an Einfluss, Glaubwürdigkeit und Vertrauen scheint kaum wiederherstellbar. Auch das Vertrauen der Bundeswehr in die politische und militärische Führung ist zerrüttet. „Kriegstüchtigkeit“ existiert nur noch auf dem Papier. Die Wirtschaft erlitt durch zusammenbrechende Lieferketten und Energieengpässe einen Strukturbruch. Ohnmacht und Misstrauen nach innen, aber auch gegenüber den früheren Partnern im Ausland dominieren das gesellschaftliche Klima, verbunden mit Radikalisierung und Desinformation. Statt Reformen aus dieser Niederlage wie zur Zeit der preußischen Reformen in die Wege zu leiten, setzte ein strategischer Rückzug in eine vermeintlich sichere Isolation und Neutralität ein. Das neubeschworene Ideal einer neutralen Zivilmacht wurde zum Deckmantel für eine geopolitische Selbstaufgabe. 2035 war Deutschland ein innerlich und äußerlich geschwächter Staat, dessen freiheitliche Zukunft in einem trügerischen Frieden ungewiss schien.