Zwei Szenarien für das Jahr 2035 – Selbstbehauptung oder Ohnmacht der Demokratie
Globale Instabilität, wirtschaftliche Herausforderungen und konkrete Bedrohungen – ist Deutschland auf Dauer fähig, als wehrhafte Demokratie seine Interessen und Werte nach innen wie außen zu verteidigen? Das heutige Russland gilt als größte Bedrohung für Europa. Deutschlands äußere Sicherheit kann nachhaltig gestärkt werden, wenn politische Weitsicht, strategisches Durchhaltevermögen und transparente Kommunikation mit der Bevölkerungkonsequent zusammengeführt werden - doch geschieht das nicht, drohen Handlungsunfähigkeit und Instabilität, zeigen diese Szenarien.
Foto: Bundeswehr/Neumann
Abschreckung wirkt
Deutschland im Jahr 2035: Ein selbstbewusstes Deutschland feiert 80 Jahre Verantwortung in der NATO und das Bestehen der Bundeswehr. Der Weg dahin war nicht leicht. Rückblickend war insbesondere das Jahr 2029 eine Belastungsprobe, nicht nur für das Militär. Russland versuchte, erholt von den hohen Verlusten des schließlich 2027 zu Bedingungen des Kremls eingefrorenen Angriffskrieges gegen die Ukraine, durch Truppenaufmärsche an der NATO-Ostflanke und massive hybride Angriffe die Allianz zu destabilisieren – doch Deutschland und seine Verbündeten reagierten entschlossen, geschlossen und vorbereitet. Ein zweiter Krieg, der nun innerhalb weniger Jahre Osteuropa bedrohte, wurde durch glaubhafte Abschreckung verhindert.
Die Weichen dazu wurden wenige Jahre zuvor gestellt. Spätestens 2025 waren im Rahmen einer „Zeitenwende 2.0“ die Dringlichkeit zum Ausbau der nationalen Verteidigungsfähigkeit breit anerkannt und strategische Reformen in Bund und Ländern wurden umgesetzt. Die Gesamtverteidigung wurde ressort- und länderübergreifend organisiert, politisch im Bundeskanzleramt gesteuert und klar priorisiert. Die deutsche Brigade in Litauen war 2027 einsatzbereit. Wenig später war die Bundeswehr bereit, binnen weniger Tage weitere kampfstarke Verbände ins Baltikum zu verlegen – unterstützt durch ein belastbares zivil-militärisches Netzwerk in Bund, Ländern, Kommunen und der Wirtschaft. Moderne Luftverteidigung, Mittelstreckenraketen, Cyberabwehr und interoperable Strukturen stellten sicher: Deutschland war umfassend militärisch handlungsfähig, konnte glaubhaft abschrecken und war nicht erpressbar.
Auch die zivilen Strukturen funktionierten und boten keine Lücke für äußere Aggression: Der Bevölkerungsschutz war erprobt, die Kommunikation zwischen allen Ebenen stabil – und selbst unter Stresslagen anhand realistischer Kriegsszenarien funktionsfähig. Die Angriffe auf Energie- und Datennetze des Sommers 2029 konnten abgewehrt oder zumindest schnell kompensiert werden. Attentate wurden verhindert. Der Wille zur Selbstbehauptung war entgegen vieler Stimmen so klar in Politik, Medien und Gesellschaft verankert, dass die hybriden Angriffe auf Deutschland nicht den Wahlkampf 2029 unterminierten. Die Gesellschaft erwies sich resilient – durch Bildung, Übung und eine neue Kultur der Sicherheitsvorsorge und Selbstwirksamkeit.
Diese Entwicklungen stärkten einerseits die Bundesregierung in ihrer geschlossenen Haltung innerhalb der NATO. Andererseits entlasteten sie die Bundeswehr, sodass diese sich auf ihren militärischen Kernauftrag konzentrieren konnte. Die logistische Drehscheibe funktionierte auch unter Belastung. Schnell konnten Kräfte der Alliierten und der Bundeswehr zu Abschreckung an die NATO-Außengrenze verlegt werden. Russland erkannte die Entschlossenheit und Reaktionsfähigkeit der Allianz. Es hatte auch Deutschland unterschätzt. Eine Eskalation hätte keinen schnellen Erfolg gebracht und genau das war entscheidend im Kalkül des Kremls. Der Konflikt blieb unterhalb der Schwelle eines offenen Krieges, auch wenn hybride Aktionen fortgeführt wurden. Diplomatische Verhandlungen untermauert mit militärischer Stärke führten zu einer Deeskalation.
Deutschland wurde durch den heißen Sommer 2029 sicherheitspolitisch gestärkt. Die Bundesrepublik hatte gezeigt, dass sie als Eckpfeiler der Vereidigung Europas Verantwortung übernimmt. Im Jahr 2035 gilt Deutschland als politischer, wirtschaftlicher und militärischer Stabilitätsanker in der Europäikschen Union - nicht perfekt, aber strategisch denkend, realistisch handelnd und vorausschauend investierend. Die Lehre aus dem Beinahe-Krieg von 2029: Nur wer für den worst case vorbereitet ist, kann den Frieden und Freiheit sichern - nicht als Option, sondern als Fundament der Zukunft Europas.
Jena und Auerstedt 2.0
Rückblick aus dem Jahr 2035: Deutschland und Europa haben vor sechs Jahren einen Krieg gegen Russland verloren - für weite Teile Europas nicht im klassischen Sinne einer Besetzung, aber politisch, psychologisch, gesellschaftlich und strategisch.
Das Drehbuch der Aggression offenbarte sich für viele trotz klarer Indikatoren erst im Nachhinein. In Deutschland kam es im Sommer 2029 - mitten in der Hauptphase des Wahlkampfs zur Bundestagswahl - zu koordinierten Cyberangriffen, großflächigen Waldbränden, Störungen der Satellitenkommunikation und gezielten Anschlägen auf Infrastruktur. Politische Uneinigkeit und föderales Kompetenzgerangel verhinderten zunächst eine gemeinsame Analyse und schließlich effektive Gegenmaßnahmen. Zeitgleich erhöhte Russland mit Großmanövern und nuklearer Rhetorik den Druck auf das Baltikum. Warnsignale wie der Test einer Rakete auf ein Ziel in Ostsee zwischen Rügen und Bornholm wurden als „Säbelrasseln“ verharmlost, auch um die Bevölkerung nicht zu verunsichern. Nach dem Verstreichen eines Ultimatums von 72 Stunden erfolgte die punktuelle Besetzung neuralgisch wichtiger Knotenpunkte in den baltischen Staaten durch vermeintlich pro-russische Kräfte.
Die USA zögerten – warum den schwachen Europäern erneut helfen? Die NATO war wie gelähmt – ein Ergebnis jahrelanger hybrider Operationen und geopolitischer Fehleinschätzungen. Deutschland hätte Truppen und auch Zivilstrukturen mobilisieren müssen - allein schon, um der Rolle als logistische Drehscheibe gerecht zu werden. Aber es kam zu spät und zu wenig. Die Bundeswehr war zur Krisenbewältigung im Inland gebunden, um den überforderten Bevölkerungsschutz zu unterstützen. Eine schnelle Verstärkung der Truppen an der NATO-Ostflanke blieb aus. Die Unfähigkeit, als Drehscheibe für das Bündnis zu funktionieren, wurde zum Symbol für Deutschlands sicherheitspolitisches Scheitern.
Zivile Unruhen verschärften die Lage: In Ostdeutschland bildeten sich „Selbstschutzgruppen“ in „kriegswaffenfreien Friedenszonen“, wichtige Infrastrukturen wurden blockiert, in Großstädten kam es zu Ausschreitungen. Ein zunehmend polarisierter Bundestag konnte letztendlich nicht die notwendige Zweidrittelmehrheit für die Ausrufung des Spannungsfalls bilden. Der Staat erschien handlungsunfähig und kaum zum Schutz der eigenen Bevölkerung fähig. Russland schuf in dieser Lage Fakten, als man in der NATO noch über die Ausrufung des Bündnisfalls debattierte. Die baltischen Staaten wurden teilbesetzt. Obwohl die dennoch vorhandenen deutschen Kräfte in Litauen bereit waren, tapfer zu kämpfen, waren auch diese ohne Verstärkung schnell isoliert. In Folge von Verhandlungen wurde die Rückführung aller NATO-Truppen ausgehandelt mit dem Preis der „Neutralität“ der baltischen Staaten.
Sechs Jahre danach hat Deutschland diese Folgen noch nicht bewältigt. Der Verlust an Einfluss, Glaubwürdigkeit und Vertrauen scheint kaum wiederherstellbar. Auch das Vertrauen der Bundeswehr in die politische und militärische Führung ist zerrüttet. „Kriegstüchtigkeit“ existiert nur noch auf dem Papier. Die Wirtschaft erlitt durch zusammenbrechende Lieferketten und Energieengpässe einen Strukturbruch, und das Land rutschte in eine tiefe Rezession. Ohnmacht und Misstrauen nach innen, aber auch gegenüber den früheren Partnern im Ausland dominieren das gesellschaftliche Klima, verbunden mit Radikalisierung und Desinformation. Statt Reformen aus dieser Niederlage wie zur Zeit der preußischen Reformer in die Wege zu leiten, hat ein strategischer Rückzug in eine vermeintlich sichere Isolation und Neutralität eingesetzt. Das neubeschworene Ideal einer - nun neutralen - Zivilmacht wird zum Deckmantel geopolitischer Selbstaufgabe. 2035 ist Deutschland ein innerlich und äußerlich geschwächter Staat, dessen freiheitliche Zukunft in einem trügerischen Frieden ungewiss scheint.
Das Denken in Szenarien zählt zum täglichen Handwerkszeug von Führungskräften in Politik, Behörden, Wirtschaft und Zivilgesellschaft – und zu den Methoden der Strategischen Vorausschau, wie sie die BAKS vermittelt. Anlässlich des zehnjährigen Bestehens des Arbeitskreises Junge Sicherheitspolitik haben wir zehn AKJS-Angehörige gebeten, zehn Jahre in die Zukunft zu blicken und zwei Szenarien zu entwerfen: Was wäre der sicherheitspolitische worst case? Und wie soll sich Deutschland stattdessen aufstellen, um als freiheitliche Demokratie in einem sicheren Europa zu bestehen? Ihre Einschätzungen und Empfehlungen erscheinen hier in loser Folge.