Zwei Szenarien für das Jahr 2035 zum Thema Rohstoffe, Lieferketten und die Zukunft der Wirtschaft
Rohstoffsicherheit ist längst keine alleinige Domäne der Wirtschaft mehr. Die Kontrolle von Rohstoffvorkommen, Schlüsseltechnologien und Handelswegen ist für Großmächte eine Angelegenheit nationaler Industrie- und Sicherheitspolitik. In der strategischen Auseinandersetzung zwischen den USA und China sind Rohstoffe längst zu einer geopolitischen Waffe geworden. Doch welche Rolle spielt Europa hierbei, was kann Deutschland unternehmen? Gelingt es dem alten Kontinent, eine eigenständige Rohstoffgeopolitik zu verfolgen und sich im nächsten Jahrzehnt technologisch und geoökonomisch zu behaupten? Zwei Szenarien, die Wege aufzeigen, aber auch die Folgen von fehlendem entschlossenem Handeln verdeutlichen.
Resources made in Europe – Europa behauptet sich im geopolitischen Rohstoffringen
Als Chinas Vorsprung bei den Zukunftstechnologien uneinholbar schien, gelang es der EU im letzten Moment, über ihren Schatten zu springen und einen bahnbrechenden Entschluss zu fassen. Mit knapper Mehrheit wurde ein Vorschlag der EU-Kommission im Europäischen Rat angenommen und eine eigene EU-Rohstoffagentur gegründet. Diese wurde mit einem europäischen Sondervermögen Europe Resource Revival in Höhe von 20 Milliarden Euro für 15 Jahre ermächtigt, Europas Position auf den internationalen Rohstoffmärkten zu verbessern und wieder Kontrolle über die eigenen Lieferketten zu erlangen. Auf fast allen Sektoren war der alte Kontinent abgeschlagen: die Abhängigkeit von Rohstoffimporten aus China bei den strategischen Mineralien und Industriemetallen lag seit drei Jahrzehnten konstant bei 100 Prozent.
Es gelang Europa nicht, die dringend benötigten Rohstoffe in entsprechenden Mengen aus heimischen Lagerstätten zu fördern und zu verarbeiten. Hohe Energiepreise, Bürgerproteste und lange Genehmigungsverfahren standen einer europäischen Rohstoffautonomie im Weg. Doch mit der neuen EU-Rohstoffagentur, die in enger Zusammenarbeit mit der europäischen Industrie und den Mitgliedsstaaten mit bedeutenden Rohstoffvorkommen zusammenarbeitete, zeigten sich bereits nach zehn Jahren erste Erfolge. Aus zahlreichen Rohstoffprojekten entwickelten sich wettbewerbsfähige Minen, die mit neuester Technologie und minimalen Natureingriffen maßgeblich zu Europas Rohstoffversorgung beitrugen und internationale Vorzeigeprojekte wurden. Aus dem sächsischen Erzgebirge wurde Lithium, Zinn und Indium gefördert, aus Schweden kamen die wichtigen schweren Seltenen Erden und dem unabhängigen Grönland gelang es, mithilfe europäischer Unternehmen die dortigen seltenen Mineralien umweltverträglich abzubauen. Vormals umstrittene Rohstoffprojekte in Serbien und auf der Iberischen Halbinsel konnten durch beharrlichen politischen Dialog mit den Kommunen doch noch umgesetzt werden.
Sie galten als Prototypen eines sauberen Bergbaus der Zukunft. Die europäische Rohstoffagentur konnte mit geballter Finanzkraft und befreit von der üblichen Brüsseler Bürokratie strategische Rohstoffprojekte auf der ganzen Welt identifizieren und vor China entwickeln. Die einstigen Partnerschaften mit rohstoffreichen Ländern in Afrika, Lateinamerika und Asien, die oft wirkungslos blieben, konnten erfolgreich wiederbelebt und neue auf den Weg gebracht werden. Europa hatte erkannt, dass die alte Entwicklungszusammenarbeit aus Dialog, Regeln und Belehrung nichts brachte. Fortan sollten Rohstoffprojekte mit erheblichen Infrastrukturinvestitionen in den Ländern und in engem Schulterschluss mit der europäischen Wirtschaft realisiert werden. Hierbei hatte Brüssel von China gelernt. Straßen öffnen Türen. Straßen, Minen und europäische Nachhaltigkeitstechnologien sicherten Erfolg und langfristige politische Unterstützung. Europa zeigte sich lernfähig und etablierte sich neben China und Japan als eigenständiger geopolitischer Akteur auf den internationalen Rohstoffmärkten.
Peking steht im Erzgebirge – Europa wird von der Rohstoffmacht China endgültig ins Abseits gedrängt
Wir schreiben das Jahr 2035. Fünf Jahre sind vergangen, seitdem die EU-Kommission ihre einst ehrgeizigen Ziele im Zuge des Critical Raw Materials Act evaluiert und konsterniert festgestellt hat, dass sie kein einziges erreicht hat. Elf Jahre zuvor, im Jahr 2024, verkündete die damalige Kommission ihre neue Rohstoffstrategie: Bis zum Jahr 2030 sollten 10 Prozent der strategischen Mineralien und Metalle, die für die grüne Energiewende unentbehrlich sind, in der EU gefördert werden. 40 Prozent sollten in der EU weiterverarbeitet und 25 Prozent durch Recycling wiedergewonnen werden. Und die Importabhängigkeit von Drittstaaten sollte nur noch 65 Prozent betragen.
Kurz um: Der alte Kontinent wollte wieder verstärkt in den industriellen Metallerzbergbau einsteigen, um die massive Abhängigkeit von China von teilweise bis zu 100 Prozent zu verringern und bei den Batterietechnologien aufzuholen. Seltene Erden, Lithium, Kupfer und weitere Industriemetalle sollten aus Sicherheits- und Nachhaltigkeitsgründen Made in Europe sein. Doch der EU und ihren Mitgliedsstaaten gelang es nicht, über das Stadium von politischen Absichtserklärungen und halbherzigen Subventionen hinauszukommen. Die alten strukturellen Probleme – Bürokratismus, zu wenig Risikokapital, kaum mehr eigene Rohstoffunternehmen mit Expertise – verhinderten die Reindustrialisierung des darbenden europäischen Bergbaus.
Schlimmer noch: Chinesische Rohstoffunternehmen bauten ihre führende Position auf den Wertschöpfungsketten aus und dominierten bald auch technologisch den Recyclingsektor. Die vormals schmutzigen Seltenen Erden aus Chinas Provinzen konnten mit neuester Technologie aus Elektrogeräten, Batterien und Windkraftanlagen zurückgewonnen werden. Mit massiven Subventionen, Industriespionage und der Kontrolle über Lieferketten und Verarbeitungstechnologien avancierte die Volksrepublik zur führenden Rohstoff- und Clean-Tech-Supermacht des 21. Jahrhunderts. Dieser Sogwirkung konnte sich die alte europäische Industrie nicht entziehen. Wer den Zug zu den neuen Clean-Tech-Industrien nicht verpassen wollte, musste in China vertreten sein. Patente, Technologien, Ingenieurskunst und Unternehmergeist: alles ballte sich dort. Made in Germany verlor an Bedeutung, Made in China stand nunmehr für Premiumqualität. Protektionistische Schranken halfen nicht mehr. Konsequent verfolgten chinesische Rohstoffunternehmen ihre globale Übernahmestrategie auch in der EU: im sächsischen Erzgebirge, im westdeutschen Oberrheingraben und auf der Iberischen Halbinsel.
Überall waren chinesische Partner an den dortigen Projekten beteiligt. Vor Ort wehten über den Projektstätten das europäische Sternenbanner und die rote Fahne Pekings. Ohne chinesisches Know-how und Finanzkraft konnte Europa keine Rohstoffe mehr eigenständig fördern, geschweige denn verarbeiten. Europäische Rohstoffautonomie blieb nur noch eine Ph(r)ase der Vergangenheit. Mit China als alter und neuer Clean-Tech-Supermacht erlebten die europäisch-chinesischen Beziehungen ein Revival – mit Europa als zweitem abhängigen Juniorpartner Chinas neben Russland.
Das Denken in Szenarien zählt zum täglichen Handwerkszeug von Führungskräften in Politik, Behörden, Wirtschaft und Zivilgesellschaft – und zu den Methoden der Strategischen Vorausschau, wie sie die BAKS vermittelt. Anlässlich des zehnjährigen Bestehens des Arbeitskreises Junge Sicherheitspolitik haben wir zehn AKJS-Angehörige gebeten, zehn Jahre in die Zukunft zu blicken und zwei Szenarien zu entwerfen: Was wäre der sicherheitspolitische worst case? Und wie soll sich Deutschland stattdessen aufstellen, um als freiheitliche Demokratie in einem sicheren Europa zu bestehen? Ihre Einschätzungen und Empfehlungen erscheinen hier in loser Folge.