Die Europäische Union als Sicherheitspolitischer Akteur

Soldaten unterschiedlicher Nationen halten eine große EU Fahne hoch

Die Europäische Union als Sicherheitspolitischer Akteur

Zwei Szenarien für das Jahr 2035 – Die EU als Sicherheitspolitischer Akteur

Die Europäische Union im Jahr 2035 – ein Flickenteppich aus 27 Teilen, der kaum Sicherheit bietet oder eine zusammengewachsene Gemeinschaft, die ein resilientes Schwergewicht darstellt? Was passiert, wenn die EU nicht zusammenarbeitet sondern jedes Mitglied auf Einzellösungen pocht und was geschieht, wenn die Union ihre Bestimmung erfüllt und zusammenwirkt, das zeigt AKJS Mitglied und Europaabgeordnete Hannah Neumann anhand von zwei möglichen Szenarien. Welches es wird, liegt in unserer Hand. Foto: European Parliament/Pietro Naj.-Oleari

Ein Fels in der Brandung: Europa hat gelernt, gemeinsam zu handeln

Ein Donnerstagmorgen im Oktober 2035. In mehreren EU-Staaten laufen Übungen zur Krisenvorsorge: Bevölkerungsalarm, koordinierte medizinische Simulationen, zivile Versorgungsketten werden getestet: ein EU-weiter Preparedness Day. Während die Lagezentren in Warschau, Rom und Brüssel in Echtzeit miteinander vernetzt sind, überprüft eine multinationale Truppe in Riga die Einsatzfähigkeit der gemeinsamen Luftabwehr.

Die Einsicht kam nicht als große Revolution, sondern als Kette mutiger politischer Entscheidungen. Weil die geopolitischen und Klimarisiken zu groß wurden, um weiter zu zögern. Und weil sich eine neue politische Generation durchgesetzt hat, die bereit war, deutlich europäischer zu denken. Die EU hat ihre sicherheitspolitischen Kompetenzen gestärkt, den Verteidigungsmarkt schrittweise konsolidiert und unnötige Doppelstrukturen abgebaut.

Mitgliedstaaten teilen Fähigkeiten, planen koordiniert und investieren gezielter und stärker über gemeinsame Mechanismen. Die Menschen wissen, wie sie sich im Ernstfall verhalten müssen. Die Union ist kein Superstaat, aber sie ist ein verlässliches Schutzversprechen geworden. Weil sich die Einsicht durchgesetzt hat: Sicherheit gibt es nur gemeinsam.

Im Bereich Cyber wurde das neue Europa zuerst sichtbar: Die Abhängigkeit von den USA war für alle gleichermaßen ein Problem. Kein Land hatte etablierte Strukturen, es ging einfach nur gemeinsam. Die EU baute einen gemeinsamen digitalen Abwehrschirm auf – mit klarer Governance, einem geteilten Lagebild, einem permanenten Lagezentrum, europäischer Cloudstruktur und konkurrenzfähigen KI Anwendungen.

Die economies of scale wurden erfolgreich genutzt, Strukturen wurden skalierbar. Was im Digitalen gelang, wurde auf andere Bereiche übertragen: gemeinsame Frühwarnsysteme, abgestimmte Vorratshaltung, ressortübergreifende Planung. Schutzmaßnahmen gegen Naturkatastrophen, Produktionsstätten für Impfstoffe, Aufklärungseinheiten gegen hybride Angriffe im Ostseeraum, all das wurde Realität.

Deutschland übernahm Verantwortung, die Bundesregierung 2025 nahm sich selbst beim Wort. Milliardeninvestitionen aus Sondervermögen und Lockerung der Schuldenbremse wurden so eingesetzt, dass sie auch den europäischen Partnern nutzten. Gemeinsame Projekte wurden Schritt für Schritt zu einer echten Alternative für nationale Engstirnigkeit. Und mit der Gründung einer europäischen Verteidigungsbank stand erstmals ein strategisches Finanzierungsinstrument zur Verfügung, ohne die Transformation in anderen Politikbereichen zu gefährden.

Europa hat sich im Sturm der globalen Zeitenwende als Fels in der Brandung bewährt und wurde zur attraktiven Partnerin für die wieder wachsende Gruppe der Staaten, die der Überzeugung sind, dass Kooperation, die Einhaltung internationalen Rechts und ein gerechtes Wachstum die besten Wege zu Wohlstand und Frieden sind.

Jeder ist sich selbst der Nächste: Viele Investitionen, aber keine Sicherheit

Ein Freitagnachmittag im April 2035. In Barcelona bricht der Nahverkehr zusammen, in Neapel fällt das Trinkwasser aus, in Brüssel steht das Mobilfunknetz still. Gleichzeitig kursieren gefälschte Videos über angebliche NATO-Angriffe, eine russische Spezialeinheit liefert sich ein Scharmützel mit polnischen Grenztruppen. Und Den Haag kämpft inmitten dessen noch mit den Folgen einer erneuten Flutkatastrophe.

Während einzelne Mitgliedstaaten den nationalen Krisenmodus ausrufen, fehlt es an gemeinsamen europäischen Reaktionsmechanismen. Ein Kontinent mit 27 unterschiedlichen Reaktionsplänen, 27 verschiedenen Fahrzeugtypen, Cyberabwehrzentren, Löschflugzeugen – von allem zu wenig, wenn überhaupt vorhanden. Und ohne gemeinsame Antwort. Weil man nie bereit war, das nationale Denken zu überwinden – und Europas sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit ernsthaft aufzubauen.

Dabei wussten wir es besser: Dass wir gemeinsam auf Krisen und Bedrohungen reagieren sollten. Dass 27 nationale Sicherheits- und Verteidigungspolitiken auch 27 Mal Verwaltung, technische Standards und unnötige Kosten bedeuten. Dass wir mit koordinierten Vorsorgemaßnahmen Krisen vorbeugen könnten, statt ständig hinterherzurennen. Dass gemeinsame Verteidigung nur funktioniert, wenn man sie auch gemeinsam entscheidet, koordiniert und umsetzt. Dass jeder auf sich alleine gestellt den anstehenden Aufgaben nicht gewachsen sein wird.

Aber wir haben uns dagegen entschieden. Gegen gemeinsame Sicherheit. Gegen ein handlungsfähiges Europa und damit für den nationalen Flickenteppich. Die europäischen Initiativen der vergangenen Jahre waren zahlreich – aber scheiterten an nationalen Egoismen. Das European Defence Industry Programme EDIP sollte die Industrie bündeln, doch jeder Mitgliedstaat wollte seine Partikularinteressen durchsetzen. Die Preparedness Strategy klang auf dem Papier nach strategischer Weitsicht – doch sie blieb ein Papiertiger, weil die Mitgliedstaaten auf nationalen Zuständigkeiten beharrten.

Statt koordiniert vorzusorgen, bauten die reichen Länder eigene Strukturen auf, ärmere blieben außen vor. Und die strategische Ausrichtung europäischer Verteidigung im Weißbuch zur Zukunft der Europäischen Verteidigung? Scheiterte an kurzsichtigen nationalen Präferenzen. Gerade Deutschland spielte dabei eine tragische Rolle. Uns allen war klar: Wenn Deutschland vorangeht, könnte es Europa mitziehen, zum Vorteil Aller. Das Sondervermögen war die Chance.

Aber Deutschland entschied sich für politische Bequemlichkeit. Der neue Koalitionsvertrag lobte europäische Sicherheitspolitik in jedem zweiten Absatz – aber wenn es konkret wurde, fehlte jede Ambition und die Bereitschaft, Teile der Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu vergemeinschaften. Das Ergebnis? Ein Europa der 27 Einzelteile, die nicht wirklich zusammenarbeiten. Und all das zu einem Preis, den wir uns längst nicht mehr leisten können – weder finanziell noch sicherheitspolitisch. Wir, die 500 Millionen Menschen starke Volkswirtschaft, die die Anführerin der freien Welt hätte werden können, sind nur noch leichte Beute.

Das Denken in Szenarien zählt zum täglichen Handwerkszeug von Führungskräften in Politik, Behörden, Wirtschaft und Zivilgesellschaft – und zu den Methoden der Strategischen Vorausschau, wie sie die BAKS vermittelt. Anlässlich des zehnjährigen Bestehens des Arbeitskreises Junge Sicherheitspolitik haben wir zehn AKJS-Angehörige gebeten, zehn Jahre in die Zukunft zu blicken und zwei Szenarien zu entwerfen: Was wäre der sicherheitspolitische worst case? Und wie soll sich Deutschland stattdessen aufstellen, um als freiheitliche Demokratie in einem sicheren Europa zu bestehen? Ihre Einschätzungen und Empfehlungen erscheinen hier in loser Folge.