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Auf Eis gelegt: Sicherheitspolitik und internationale Beziehungen in der Arktis nach der Zeitenwende

8/2022
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Die Arktis wurde lange Zeit als eine von internationalen Ereignissen und Spannungen andernorts isolierte Region wahrgenommen und ihr damit ein Ausnahmecharakter zugesprochen. Der russische Einmarsch in der Ukraine im Februar 2022 hat jedoch auch in der Arktis eine neue Ära eingeläutet. Zwar werden die Auswirkungen auf die regionale Sicherheitspolitik trotz eines NATO-Beitritts Finnlands und Schwedens wahrscheinlich begrenzt bleiben. Doch die regionale Zusammenarbeit mit Russland wurde aufgrund des Krieges auf Eis gelegt. Eine zentrale Herausforderung für die Arktis und für die nicht-arktischen Staaten wie Deutschland wird darin bestehen, wichtige Errungenschaften dieser regionalen Zusammenarbeit zu erhalten, ohne bei der Ausgrenzung von Putins Russland Abstriche zu machen.

Ein U-Boot hat beim Auftauchen das Packeis des Nordpols durchbrochen.

Während des Kalten Krieges gewann die Arktis große strategische Bedeutung. Bis heute finden U-Bootmanöver in der Region statt - einschließlich des Auftauchens durch das Packeis, wie es das Jagd-U-Boot USS Connecticut hier 2018 demonstriert. Foto: U.S. Pacific Fleet/Flickr/CC BY-NC 2.0

Jahrzehntelang haben sowohl Politiker als auch Wissenschaftler der Arktis einen Ausnahmecharakter zugesprochen und argumentiert, dass die Beziehungen zwischen den Staaten in der Region vom Auf und Ab der Weltlage abgeschirmt seien – und auch sein sollten. Am 3. März 2022 wurden allerdings die Grenzen dieses Ausnahmecharakters deutlich, als alle Mitglieder des Arktischen Rates (Arctic Council) – außer Russland – beschlossen, die Arbeit des Rates als Reaktion auf den russischen Einmarsch in der Ukraine auszusetzen.[1] Andere Kooperationsgremien in der Arktis folgten diesem Beispiel, darunter am 9. März der Euro-Arktische Barents-Rat (Barents Euro-Arctic Council), dem die nordischen Länder, die Europäische Union und Russland angehören. Doch welche Auswirkungen hat Russlands Krieg auf die Arktis, wenn man davon absieht, dass die regionale Zusammenarbeit auf Eis gelegt wurde? Welche Folgen könnte und sollte er langfristig für die Sicherheitspolitik und die internationalen Beziehungen in der Region haben? Was wird die Mitgliedschaft Finnlands und Schwedens in der NATO bedeuten? Wie sind die Aussichten für die künftige Zusammenarbeit in der Arktis und wie können nicht-arktische Staaten wie Deutschland dazu beitragen, wichtige Errungenschaften, insbesondere im Governance-Bereich zu bewahren?

Was ist die Arktis?

Die Arktis wird im Allgemeinen als das Gebiet nördlich des nördlichen Polarkreises definiert (siehe Abb. 1 unten). Als ein in erster Linie von Staaten umgebener Ozean, unterscheidet sich die Arktis stark von der Antarktis als einem unbewohnten Kontinent, der von Ozeanen umgeben ist. Die fünf Anrainerstaaten der Arktis – Kanada, Dänemark (Grönland), Norwegen, Russland und die Vereinigten Staaten – haben in der Erklärung von Ilulissat im Mai 2008 bestätigt, dass das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen die primäre Rechtsgrundlage für die Seegrenzen und die Governance der Arktis darstellt.

Die Arktis als eine zusammenhängende Region zu betrachten, ist analytisch in vielerlei Hinsicht hilfreich. Gleichwohl ist es wichtig, zu verstehen, dass die Arktis ein riesiges Gebiet ist, das beträchtliche lokale Unterschiede aufweist. Während der nordamerikanische Teil und der eurasische Teil dünn besiedelt und weitgehend unzugänglich sind, ist der kleinere, europäische Teil der Arktis vergleichsweise stark von menschlicher Aktivität geprägt.


ABBILDUNG 1. Die Arktis

Eine kurze Geschichte der Arktis

Während die indigenen Völker seit Jahrtausenden in der Arktis leben, kamen bis zum 20. Jahrhundert nur selten Besucher von außerhalb in den Großteil dieser Region. Doch während des Kalten Krieges gewann die Arktis plötzlich an strategischer Bedeutung. Mit der Entwicklung von Interkontinentalraketen und -bombern wurde sie zur direkten Schusslinie zwischen den beiden Supermächten. Infolgedessen wurden in der Region zahlreiche Frühwarnradare aufgestellt, wie zum Beispiel in Thule, Grönland. Seit den 1960er Jahren wurde die europäische Arktis auch aus Marinesicht zunehmend wichtiger. Von ihren Häfen auf der Kola-Halbinsel aus wurde die wachsende sowjetische Nordflotte zu einer Bedrohung für die Seeverbindungslinien der NATO über den Atlantik. In den späten 1970er und 1980er Jahren nahm die militärische Bedeutung der Region weiter zu, als sie zum Einsatzgebiet der nuklear bewaffneten Atom-U-Boote der Nordflotte wurde. Die Sowjetunion war bestrebt, diese U-Boote und ihre Stützpunkte in einer sich vor allem auf die Barentssee erstreckenden Bastion zu schützen (siehe Abb. 1 oben). Auch heute noch stellt der europäische Teil der Arktis aus militärstrategischer Sicht aufgrund dieser russischen U-Bootbastion den wichtigsten Teil der Arktis dar.

Ab 1985 schlug sich die Entspannung in den Ost-West-Beziehungen auch in der Arktis nieder. So rief der sowjetische Staatschef Michail Gorbatschow 1987 in einer berühmten Rede in Murmansk zur Einrichtung einer arktischen Friedenszone auf. Gorbatschows Rede hat nicht nur zur Idee des Ausnahmecharakters der Arktis beigetragen, sondern auch zum Ausbau der Zusammenarbeit in der Arktis in den 1990er Jahren. Unter den nach Ende des Kalten Krieges entstandenen internationalen Foren, die sich mit arktischen Angelegenheiten befassen, ist der 1996 gegründete Arktische Rat zum wichtigsten Gremium geworden.

Mit dem Ende des Kalten Krieges nahm die militärische Bedeutung der Arktis schnell ab. Seit der Jahrtausendwende haben allerdings zwei neue Themen zu erneuter internationaler Aufmerksamkeit beigetragen: zum einen die Einschätzung, dass sich ein großer Teil der noch unentdeckten weltweiten Erdölressourcen in der Arktis befindet – zum anderen das wachsende Bewusstsein für den rapiden Klimawandel in der Region. Anfangs rief das vor allem kommerzielles Interesse und Sorgen um die Umwelt hervor.

Im Jahr 2007 änderte sich die Wahrnehmung jedoch abermals, einhergehend mit einer allgemeinen Verschlechterung der Beziehungen zwischen Russland und seinen Nachbarn in der Arktis. Das Aufstellen einer russischen Flagge auf dem Meeresboden am Nordpol Anfang August 2007 trug zur Entstehung der Idee eines Wettstreits beziehungsweise eines „great game“ um die Arktis bei. Aufgrund der Kombination aus Ressourcenreichtum, ungeklärten Grenzen und der Öffnung wichtiger neuer Schifffahrtswege deuteten sich abermals Großmachtrivalitäten und Konflikte an.

Betreffende Warnungen erwiesen sich jedoch als übertrieben. Aus dem angekündigten Erdölrausch in der Arktis ist wenig geworden, und das kommerzielle Interesse an der transarktischen Schifffahrt ist weit hinter den Vorhersagen zurückgeblieben. Zudem fallen die Seegrenzstreitigkeiten der Arktis im Vergleich zum Südchinesischen Meer und sogar zum östlichen Mittelmeer eher unkompliziert aus. Das Klima in der Arktis erwärmt sich in der Tat rapide – doch geopolitisch betrachtet ist die Region heute weit weniger heiß als manche behaupten. Aufgrund der vorhergesagten Rivalitäten und Konflikte in der Arktis ist jedoch viel von der Idee des Ausnahmecharakters der Arktis verlorengegangen. Während die Veränderungen eher rhetorischer als realer Natur sind, wurde die Arktis in den letzten Jahren auf internationalem Parkett gleichsam normalisiert. Das zeigt sich deutlich an dem Schwerpunkt, den die USA auf die Bekämpfung des angeblichen chinesischen Einflusses in der Region legen.

Der Krieg gegen die Ukraine und die regionale Sicherheit in der Arktis

Mit Blick auf die regionale Sicherheit in der Arktis fallen die Auswirkungen der russischen Aggression gegen die Ukraine begrenzt aus. Der Hauptgrund dafür ist, dass der größte Teil der Arktis nicht nur weit von der Ukraine entfernt, sondern auch (noch) weitgehend unbewohnt und unzugänglich ist. Aber selbst im geographisch näher liegenden und stärker bevölkerten europäischen Teil der Arktis waren die Auswirkungen begrenzt. Der Oberbefehlshaber der norwegischen Streitkräfte erklärte beispielsweise im Frühjahr 2022 wiederholt, es gebe keine Anzeichen für eine erhöhte Bedrohung oder für ungewöhnliche russische Militäraktivitäten im europäischen Norden. Solche Aktivitäten sind in der Tat geringer als gewöhnlich, da Truppenteile und Schiffe der Nordflotte für den Krieg gegen die Ukraine verlegt wurden.

So sind die nun von der NATO ergriffenen Verteidigungsmaßnahmen vor allem darauf ausgerichtet, die Land- und Luftstreitkräfte in den östlichen Mitgliedsstaaten zu stärken. Norwegen und Island haben keine Battle Groups angefragt, wie sie in die Slowakei, nach Rumänien und nach Bulgarien verlegt wurden – und Dänemark hat auch keine Präsenz der Allianz in Grönland angefordert. Über die Frage einer NATO-Präsenz in Kanada oder Alaska als eine Reaktion auf den Krieg wurde wahrscheinlich nicht einmal nachgedacht. Dennoch ist die regionale Sicherheit in der Arktis nicht unberührt geblieben. Die aufkommende Vorstellung eines Wettstreits um die Region hat zur Einrichtung arktisspezifischer vertrauensbildender Kooperationen geführt – ein weiteres Beispiel für den Ausnahmecharakter dieser Weltgegend. Eine solche Institution ist der 2010/2011 geschaffene Arctic Security Forces Roundtable (ASFR).[2] Nachdem die NATO-Staaten nach der russischen Annexion der Krim 2014 die militärische Zusammenarbeit mit Russland– auch jene im Rahmen des ASFR – eingestellt hatten, wurde 2015 ein Arctic Coast Guard Forum eingerichtet, um den Dialog über maritime Sicherheit weiterzuführen. Im Frühjahr 2022 wurde auch dieses Forum ausgesetzt. Zwar wurden einige bilaterale Kontakte fortgeführt, aber es gibt mit Russland keinen multinationalen Dialog mehr zu den Sicherheitsfragen in der Arktis.

Auswirkungen einer NATO-Mitgliedschaft Finnlands und Schwedens

How will Finland and Sweden joining NATO – and thus all Arctic states except Russia becoming NATO members – affect Arctic security? The impact should not be exaggerated. Finland and Sweden do not border the Arctic Ocean. Their Arctic security interests and concerns are therefore primarily tied to their northern land territories. While Sweden does not have a land border with Russia, the border between Finland and Russia will double the length of the land border between NATO and Russia when Finland joins. Finland, like Sweden (and Norway and Denmark), seems likely to adopt a policy of not allowing the permanent stationing of allied combat forces, or presence of nuclear weapons, on its territory in peacetime. Still, Finland’s entry into NATO may both intensify and change Russia’s regional threat perceptions.

Finnish and Swedish membership might lead to more NATO training and exercises in the European Arctic, including activity closer to Russia. It will probably not, however, entail any major change in NATO’s posture in or policy towards the wider Arctic. The attention to the Arctic will likely remain limited and tied mainly to assessments of the security implications of climate change. While particularly Norway for some years promoted increased emphasis on Arctic issues in NATO, this subsided after 2014. Moreover, Canada’s position is that NATO’s purview in the Arctic is limited to the area of responsibility of NATO’s operational commander (SACEUR) – a point prime minister Justin Trudeau clearly alluded to at a press conference with NATO secretary general Jens Stoltenberg on 26 August 2022. This area is “the High North” in NATO terminology and as the reference to it in paragraph eight of the 2022 Strategic Concept confirms, NATO’s perspective is on the North Atlantic, not the wider Arctic.

Längerfristige sicherheitspolitische Auswirkungen

Es ist davon auszugehen, dass der Krieg und die Sanktionen Russland militärisch und wirtschaftlich erheblich schwächen. Geschieht das, wird Russland gezwungen sein, bei der Neugliederung seiner Streitkräfte Prioritäten zu setzen. Die Verlegung neuer NATO-Kräfte nach Ostmitteleuropa dürfte es erforderlich machen, dass Russland die Boden- und Luftstreitkräfte entlang seiner westlichen Grenzen priorisiert. Ein geschwächtes Russland wird sich jedoch noch stärker auf nukleare Abschreckung stützen. So könnten die nuklear bewaffneten Atom-U-Boote noch wichtiger werden. Dies hat mindestens zwei mögliche Konsequenzen für die regionale Sicherheit in der Arktis.

Erstens könnten die russischen militärischen Ressourcen in der Region in noch größerem Maße als heute in der europäischen Arktis konzentriert werden. Angesichts begrenzter Mittel dürfte der Verstärkung der U-Bootbastion der Vorzug gegenüber Stützpunkten und Kräften in entlegeneren Teilen der Arktis eingeräumt werden. Zudem könnte sich mit dem NATO-Beitritt Finnlands, wie bereits erwähnt, Russlands Bedrohungswahrnehmung in der Region verstärken und verändern. Moskau könnte sich insbesondere veranlasst fühlen, seine Verteidigung der Murmanbahn zu verstärken, die von Sankt Petersburg nach Murmansk, unweit der finnischen Grenze, verläuft. Diese Eisenbahnlinie stellt eine wichtige Verbindung zur Halbinsel Kola dar. Ist sie unterbrochen, wie im Jahre 2020, als eine Brücke eingestürzt war, wirkt sich dies umgehend auf die dortigen zivilen und militärischen Aktivitäten aus.

Zweitens könnte Russlands Sensibilität gegenüber der Präsenz ausländischer Streitkräfte in der Region zunehmen. In den letzten Jahren haben sich US-amerikanische und britische Marineschiffe sowie strategische Bomber der USA in die Nähe der Kola-Halbinsel gewagt. Es gab auch Spekulationen darüber, dass sowohl die Royal Navy als auch die U.S. Navy Fahrten im Rahmen der Schifffahrtsfreiheit durch die Nordostpassage planen. Hier ist eine erste Empfehlung zu geben: In einer Situation erhöhter Spannungen und gesteigerter Sensibilität Russlands für die Sicherheit seiner nuklearen U-Bootflotte sollten die NATO-Bündnispartner ihre militärischen Aktivitäten um die Halbinsel Kola besonders sorgfältig prüfen. Ein geschwächtes Russland – ein verwundeter Bär – könnte aggressiver handeln, um die Kronjuwelen seiner nationalen Sicherheit zu schützen. Vorsicht seitens der NATO sollte hier nicht als Zugeständnis oder als nachgiebiges Verhalten interpretiert werden, sondern eher als vernünftiges Eskalationsmanagement.

Der Krieg gegen die Ukraine und die internationalen Beziehungen in der Arktis

Im Gegensatz zu den begrenzten sicherheitspolitischen Folgen für die Arktis sind die Auswirkungen des Krieges auf die Beziehungen mit Russland in der Region insgesamt tiefgreifender und reichen deutlich über das Einfrieren der Zusammenarbeit hinaus. Die Wirtschaftssanktionen, die nach der ersten Aggression Russlands gegen die Ukraine im Jahr 2014 verhängt wurden, haben die Investitionsmöglichkeiten in der russischen Arktis, insbesondere im Erdölsektor, erkennbar eingeschränkt. Die Sanktionen des Jahres 2022 werden eine noch größere Wirkung haben. Für den Teil der Nordostpassage, der sich von Nowaja Semlja bis zur Beringstraße erstreckt (siehe Abb. 1 oben), verwendet Russland den Begriff „Nördlicher Seeweg“. In den letzten Jahren hat Moskau (wieder) Stützpunkte entlang Russlands arktischer Küste eingerichtet, um seine Souveränität in einem ressourcenreichen und symbolisch wichtigen Teil des Landes zu schützen. Die Einrichtungen spielen jedoch auch eine Rolle dabei, sowohl den militärischen als auch den zivilen Transitverkehr durch den „Nördlichen Seeweg“ zu ermöglichen.

Neben Russlands Interesse an ausländischen Investitionen für die Erschließung von Erdölvorkommen in der Arktis ist sein Interesse, an der Schifffahrt in der Arktis zu verdienen, wahrscheinlich ein wichtiger Grund dafür, dass Moskau die Entwicklung einer völkerrechtsbasierten Governance der Region unterstützt hat. Russland hat den Enthusiasmus seiner arktischen Nachbarn für die Einhaltung des UN-Seerechtsübereinkommens in der Arktis geteilt, da es davon selbst profitiert hat. Die Sanktionen des Jahres 2022 werden die Aussichten auf profitable Schifffahrt entlang des „Nördlichen Seewegs“ allermindestens verringern. Selbst Zahlungen für die Unterstützung durch russische Eisbrecher – welche passierende Schiffe nach Ansicht Russlands leisten sollten – könnten nun schwierig werden. Wenn Russland seine Ambitionen in Bezug auf den „Nördlichen Seeweg“ letztendlich aufgibt, kann das ebenso dazu führen, dass Moskau auch seine konstruktive Rolle in der Arktis-Governance aufgibt.

Im April 2022 hat Präsident Wladimir Putin betont, dass Russland seine Ambitionen in der Arktis nicht reduzieren werde. Putin hat jedoch zugegeben, dass die neuen Sanktionen Wirkung zeigen und erklärt, dass sich Russland aktiver an der Zusammenarbeit in der Arktis mit Ländern und Bündnissen von außerhalb der Region beteiligen müsse.[3] So ist eine wahrscheinliche Auswirkung der neuen Sanktionen, dass Russland noch stärker von chinesischen Investitionen und vom Engagement Chinas abhängig werden wird – auch in der Arktis. Dies schließt nicht nur die Gewinnung von Ressourcen ein, sondern auch die Verwirklichung der russischen Ambitionen in Bezug auf die Schifffahrt in der Region – entlang der „polaren Seidenstraße“, wie es in der chinesischen Terminologie heißt. Bislang waren die Investitionen Chinas in der Arktis zwar bescheiden, doch Russlands Verzweiflung könnte neue, lukrative Möglichkeiten mit sich bringen. Sollte China, das sich selbst als „arktisnaher Staat“ definiert, durch Russland in der Arktis stärker Fuß fassen, könnte dies die regionalen Beziehungen verkomplizieren, insbesondere, weil die Vereinigten Staaten betont haben, (auch) in der Arktis gegen China vorgehen zu wollen.

Ein Neustart in der Zukunft?

Die Aussichten für eine Zusammenarbeit mit Russland in der Arktis sind somit düster. Die Ausgrenzung Russlands und die Sanktionen werden wahrscheinlich noch lange bestehen bleiben. Russland wird jedoch hoffentlich eines Tages als verantwortlicher Akteur in die internationale Gemeinschaft zurückkehren. Wenn das eintritt, stellt die Arktis eine Region dar, die eine große Bedeutung für Russland hat, und in der es gemeinsame Interessen mit seinen Nachbarn hat. Es ist kein Zufall, dass mehrere US-Regierungen die Arktis als eine Region betrachtet haben, in der eine Verbesserung der Beziehungen zu Russland möglich erscheint. Die Arktis hat noch immer das Potenzial, sich eines Tages für eine Wiederaufnahme der Zusammenarbeit mit einem veränderten Russland als nützlich zu erweisen.

Die Bedeutung des Arktischen Rates wird mitunter übertrieben. Es handelt sich hierbei nicht um ein Entscheidungsgremium, das Regeln festlegt oder über Grenzen entscheidet. Das Mandat des Rates ist recht eng gefasst: als „hochrangiges Forum“ soll er „Zusammenarbeit, Koordinierung und Interaktion [...] insbesondere im Hinblick auf die nachhaltige Entwicklung und den Umweltschutz in der Arktis“.[4] Trotz des begrenzten Geltungsbereichs ist der Rat zur Hauptplattform für die arktische Zusammenarbeit geworden und hat viele externe Beobachter angezogen. Trotz der Vorstellung eines Wettstreits um die Arktis und dem darin vermittelten Bild eines Niemandslandes, um das die Großmächte konkurrieren, ist die Region bislang tatsächlich ein wichtiger und in einigen Bereichen wegweisender Schauplatz für internationale Zusammenarbeit gewesen. Ein gutes Beispiel hierfür ist das aus dem Jahr 2018 stammende Übereinkommen zur Verhinderung unregulierter Hochseefischerei im zentralen Nordpolarmeer, das nicht nur von den arktischen Staaten, sondern auch von der Europäischen Union und von China unterzeichnet wurde.

Um die Türen für eine zukünftige Wiederaufnahme der Zusammenarbeit mit Russland offenzuhalten, sollte ein Entfremden Moskaus vom Arktischen Rat und von anderen Schlüsselbausteinen der Arktis-Governance vermieden werden. Dies kann erreicht werden, indem diese so lange ihre Arbeit einstellen, bis sich Russland wieder beteiligen kann. Alternativ könnten die anderen Mitglieder die Zusammenarbeit ohne Russland fortsetzen, sollten dann aber ausdrücklich und konsequent die Tür für seine zukünftige, situationsabhängige Wiederaufnahme offenhalten. Die Entscheidung der Mitglieder des Arktischen Rats vom Juni 2022 hinsichtlich einer „begrenzten Wiederaufnahme“ der „nicht die Beteiligung [Russlands] vorsehenden Projekte“ deutet darauf hin, dass sie die zweite Option bevorzugen.[5] Die Verwaltung und Erhaltung der Arktis erfordern internationale Zusammenarbeit, und eine Zusammenarbeit in der Arktis ohne Russland ist nur begrenzt sinnvoll.

What can Germany do?

Insgesamt betrachtet kann derzeit niemand viel tun, um die regionale Sicherheit und die internationalen Beziehungen in der Arktis zu verbessern – außer natürlich Russland, das seine illegale und ungerechtfertigte Aggression gegen die Ukraine sofort beenden sollte. Um eine kontinuierliche nachhaltige Entwicklung zu unterstützen und die Arktis-Governance zu schützen, ohne dabei die vereinte Linie gegen Russland zu beschädigen, sollte Deutschland allerdings gemäß seinen 2019 erlassenen Leitlinien deutscher Arktispolitik internationale Bemühungen mit direkter oder indirekter Auswirkung auf die Region fördern und unterstützen. Das Pariser Klimaabkommen, die Ziele für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen und die Bestimmungen des Polar Code der International Maritime Organisation für Schiffe, die in polaren Gewässern betrieben werden, sind hierfür gute Beispiele. Sie alle haben sowohl Auswirkungen auf nationales Handeln Deutschlands als auch auf die internationale Arbeit im Rahmen der Vereinten Nationen, mit Russland als nur einem (unvermeidbaren) Teilnehmer unter vielen.

Ebenso sollte Deutschland weiterhin die Bemühungen der EU sowie anderer europäischer und internationaler Akteure auf den Gebieten der Forschung und des Kapazitätsaufbaus in der und für die Arktis unterstützen, beispielsweise im Rahmen der Europäischen Weltraumorganisation. Aufgrund der Weite und Unzugänglichkeit der Arktis sind Satelliten unverzichtbare Werkzeuge sowohl für die Sicherheit als auch für die Forschung in der Region – und es besteht ein eindeutiger Bedarf an erhöhter Satellitenkapazität für die Arktis. Zwar hat der Krieg in der Ukraine dazu geführt, dass die Beziehungen mit Russland auf Eis gelegt wurden, aber weder die arktischen noch die nicht-arktischen Beteiligten sollten ihre Aktivitäten und ihr Engagement in der Region stoppen. Tatsächlich ist die Fortsetzung der Zusammenarbeit in der Arktis nicht nur für sich genommen wichtig, sondern sie könnte sich eines Tages auch als nützlich erweisen, wenn die Bedingungen für eine Wiederaufnahme der Zusammenarbeit mit einem veränderten Russland gegeben sind. Dies liegt letztendlich sowohl im Interesse Russlands als auch aller anderen Staaten.

Dr. Paal Sigurd Hilde ist Associate Professor am Institute for Defence Studies, Norwegian Defence University College. Dieser Artikel spiegelt die persönliche Meinung des Autors wider.

Alle Ausgaben der Arbeitspapiere Sicherheitspolitik sind verfügbar auf:
www.baks.bund.de/de/service/arbeitspapiere-sicherheitspolitik

 

[1] Die Mitgliedstaaten des Arktischen Rates sind Kanada, Dänemark, Finnland, Island, Norwegen, Russland, Schweden und die USA.

[2] Neben den acht Mitgliedern des Arktischen Rates sind dem ASFR Frankreich, Deutschland, die Niederlande und das Vereinigte Königreich beigetreten. Russland war bis 2014 Mitglied des ASFR.

[3] Staalesen, Atle (2022): Isolated Russia says it will invite “non-Arctic” states to develop its North, The Barents Observer, 18. April.

[4] Übersetzung des Bundessprachenamtes aus der Declaration on the establishment of the Arctic Council vom 19. September 1996.

[5] Übersetzung des Bundessprachenamtes aus dem Joint Statement on Limited Resumption of Arctic Council Cooperation, vom 8. Juni 2022.

Arbeitspapier Thema: 
Internationale Institutionen
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Transatlantische Beziehungen
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