Arbeitspapiere

Ein historisches Momentum im Nahen Osten: Neue Chancen und Herausforderungen für ein europäisches Engagement in der Golfregion

6/2021
Nach der Wahl von US-Präsident Joe Biden ergeben sich für die Europäische Union neue Chancen, sich politisch, wirtschaftlich und diplomatisch in den Krisen im Nahen und Mittleren Osten zu engagieren. Vor allem eine engere Zusammenarbeit mit den arabischen Golfstaaten bietet sich an. Diese vollziehen einen vorsichtigen Kurswechsel, der sich in verstärkter Annäherung an den regionalen Rivalen Iran niederschlägt. Die EU kann eine historische Chance nutzen, indem sie diesen diplomatischen Kurs unterstützt und ihre Stärken in den Bereichen Wirtschaftsförderung, Entwicklung und Klimaschutz einbringt.

In den letzten Jahren verfolgten die arabischen Golfmonarchien Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) und Katar eine Außenpolitik, welche die Krisen in der Region – wie insbesondere im Jemen sowie die Rivalität mit Iran – verschärft hat. Auch aufgrund der Unterstützung des damaligen US-Präsidenten Donald Trump sahen sich die VAE und Saudi-Arabien ermutigt, ihre regionalen und ideologischen Interessen mit zunehmender Kompromisslosigkeit zu verfolgen, was sich unter anderem in der Blockade Katars zwischen Juni 2017 und Januar 2021 niederschlug. Gemeinsam mit den anderen Blockadestaaten nahmen Saudi-Arabien und die VAE vor allem das pragmatische Verhältnis zwischen Katar, Iran und der Türkei sowie die katarische Unterstützung für islamistische Gruppierungen wie die Muslimbrüder ins Visier.

Iran und die Türkei gelten aus saudischer und emiratischer Sichtweise als ärgste Konkurrenten um die Vorherrschaft in der Region, während der politische Islamismus nach dem Vorbild der Muslimbrüder als weitere Bedrohung ihrer Herrschaft wahrgenommen wird. Die Blockade sollte Katars konzilianten Kurs gegenüber diesen Akteuren beenden, was allerdings nicht gelang. Stattdessen kam es zu tiefen Verwerfungen innerhalb des Golfkooperationsrates (Gulf-Cooperation-Council - GCC), zu dem neben den Blockadestaaten und Katar auch Oman und Kuwait gehören. Dies führte dazu, dass insbesondere Iran seinen Einfluss in der Region ausweiten konnte, was sich unter anderem in einer verstärkten iranischen Präsenz im Jemen niederschlug. Dies hat die Sicherheitslage Saudi-Arabiens verschlechtert und die Region weiter destabilisiert.

Die gravierenden Probleme innerhalb des GCC sorgten auch auf europäischer Seite für große Bedenken: Die Golfstaaten sind längst zu einem wichtigen Handelspartner für die Mitgliedsstaaten der EU geworden, fungieren als Lieferanten von Erdöl sowie -gas und sind strategische Alliierte in einer fragilen Region. Besonders im Kampf gegen den Terrorismus und beim Schutz von maritimen Handelswegen setzen westliche Staaten seit Jahrzehnten auf die Zusammenarbeit mit den Partnern am Golf. Auch im Bereich der Digitalisierung kooperieren vor allem europäische Staaten, wenn es darum geht, neue Technologien und digitale Infrastruktur in der Region aufzubauen. Weiterhin ist die EU daran interessiert, mit den Golfstaaten im Bildungs-, Forschungs- und Raumfahrtbereich und bei alternativen Energien, Lebensmittelsicherheit und Migrationsmanagement zu kooperieren, wie in den Recommendations on EU-GCC relations vom Juli 2020 ausgeführt wird.

Nach der Wahl Je Bidens findet in den Golfstaaten jedoch ein Umdenken statt: Die Beilegung der Katar-Krise im Januar 2021 ist hierfür das beste Beispiel. Speziell Saudi-Arabien muss sich nun neuen Gegebenheiten anpassen. Während Trump den interventionistischen Kurs der saudischen Führung unter dem jungen Kronprinzen Muhammad bin Salman noch weitgehend befürwortete, kritisiert Biden dessen militärisches Vorgehen im Jemen und die schlechte Menschenrechtslage. Mit der von Biden genehmigten Veröffentlichung eines geheimdienstlichen Berichts, der den Kronprinzen der direkten Mittäterschaft bei der Ermordung des saudischen Journalisten Jamal Khashoggi 2018 in Istanbul beschuldigt, ist der Druck auf Saudi-Arabien nochmals gestiegen. So kündigte Biden an, das bilaterale Verhältnis neu auszurichten, indem er militärische Unterstützung für Saudi-Arabien im Jemen deutlich reduziert und gleichzeitig die Verhandlungen mit dem saudischen Rivalen Iran um dessen Atomprogramm wiederaufnimmt.

Weiterhin leiden alle Golfstaaten unter wirtschaftlichen Problemen, die sich durch den Ausbruch der Coronapandemie und den gefallenen Ölpreis noch verschärft haben: Dieser „doppelte Schock“ setzt die Golfmonarchien unter enormen Druck, ihren jungen Bevölkerungen Zukunftsperspektiven zu bieten, Arbeitsplätze zu schaffen und den traditionellen Sozialvertrag zu transformieren. In den vergangenen Jahrzehnten basierte das Verhältnis zwischen Herrschereliten und Gesellschaften auf der Bereitstellung von elementaren Gütern wie kostenloser Bildung, Gesundheit oder Steuerfreiheit durch den Staat, während von der Bevölkerung Loyalität für die jeweiligen Herrschaftssysteme eingefordert wurde. Doch dieses System steht vor dem Kollaps, sodass die Golfstaaten ihre von Öl und Gas abhängigen Wirtschaftssysteme schneller und umfassender diversifizieren müssen als bisher.

Alle Golfstaaten sind daher auf regionale Stabilität angewiesen: Zum einen brauchen sie internationale Investitionen, um das Vertrauen in den Wirtschaftsstandort Golf wiederherzustellen, welches durch die Krisen in der Region gelitten hat. Zum anderen müssen die Herrscher ihren Gesellschaften konkrete Perspektiven für Wohlstand und Sicherheit bieten. Der „doppelte Schock“ hat viele ambitionierte Pläne zwischenzeitlich zum Erliegen gebracht. Dies kann auch die Legitimation der Herrscher gefährden: Sie müssen beweisen, dass sie in der Lage sind, die sozioökonomischen Probleme zu lösen, indem sie Arbeitsplätze schaffen und den Privatsektor stärken. Vor diesem Hintergrund vollzieht sich derzeit ein vorsichtiger Kurswechsel: Nach der Krise um Katar zeigt sich vor allem Saudi-Arabien daran interessiert, weitere regionale Spannungen abzubauen. Im Jemen ist die saudische Regierung dringend darauf angewiesen, den Konflikt zu deeskalieren. So hat sie die direkten Gespräche mit den von Iran unterstützten Houthis ausgeweitet und ihnen einen Waffenstillstand angeboten, obwohl die Houthis ihre Raketenangriffe auf saudische Ziele deutlich erhöht haben. Auch haben die Biden-Administration, die Vereinten Nationen und lokale Vermittler wie Oman ihre Bemühungen zur Beilegung des Konflikts intensiviert. Im April kam es darüber hinaus zu direkten Gesprächen zwischen iranischen und saudischen Geheimdienstdelegationen im Irak – eine bemerkenswerte Entwicklung, nachdem das saudisch-iranische Verhältnis in den letzten Jahren von Eskalation und gegenseitiger Dämonisierung geprägt war.

Das Königreich möchte Iran dazu bewegen, die Unterstützung für die Houthis einzustellen, während die iranische Führung im Gegenzug eine konstruktive saudische Haltung gegenüber den Nuklearverhandlungen einfordert. Zwar befindet sich dieser Austausch noch in einer fragilen Phase und kann schnell torpediert werden; dennoch zeigt er ein Umdenken auf Seiten Saudi-Arabiens gegenüber Iran: Die saudische Führung scheint verstanden zu haben, dass antiiranische Provokation die eigene Position eher schwächt und sieht sich daher gezwungen, auf Teheran zuzugehen. Katar hat sich als möglicher Vermittler angeboten, und Oman und Kuwait sehen eine Annäherung zwischen den regionalen Rivalen ebenfalls positiv: Sie sind angewiesen auf regionale Stabilität, um zwischen den beiden Schwergewichten nicht zerrieben zu werden.

Ein Momentum für die europäische Diplomatie

Eine solche Situation der vorsichtigen Entspannung bietet der EU eine Gelegenheit, mit politischen und wirtschaftlichen Maßnahmen und Angeboten Unterstützung zu leisten. Für die EU besitzt die Golfregion geostrategische Relevanz. Daher ist es in ihrem Interesse, diplomatische Annäherung und regionale Integration zu fördern. Gleichzeitig besteht mit der neuen US-Administration eine Option, Anreize für die Golfstaaten zu schaffen, den Weg des Dialogs weiterzugehen und somit die europäische Rolle als Vermittler in regionalen Krisen stärken. Die EU hat diese Chance erkannt: So wurde im Januar 2021 das Projekt Enhanced EU-GCC Political Dialogue, Cooperation and Outreach ins Leben gerufen, welches innerhalb von drei Jahren die politische Zusammenarbeit mit allen Golfstaaten intensivieren soll. Daneben soll ein EU-GCC Dialogue on Economic Diversification der engeren wirtschaftlichen Koordination zwischen der EU und den Golfstaaten dienen. Das Ziel ist, die Kooperationsvereinbarung zwischen der EU und dem GCC aus dem Jahr 1988 sowie weitere Abkommen mit einzelnen Golfstaaten mit konkreten politischen und wirtschaftlichen Maßnahmen zu komplementieren. Solche Instrumente könnten verstärkt genutzt werden, um die Annäherung zwischen Iran und den Golfstaaten konstruktiv zu begleiten und zu unterstützen.

Adressierung von gemeinsamen Herausforderungen und Förderung des Dialogs

Iran und die Golfstaaten sehen sich ähnlichen Herausforderungen gegenüber: Eine rasch wachsende, junge Bevölkerung muss in den Arbeitsmarkt integriert werden, um soziale Unzufriedenheit zu verhindern. Die gesundheitspolitischen Probleme sind durch den Ausbruch der Corona-Pandemie auf beiden Seiten ebenfalls gestiegen, ebenso wie die durch den Klimawandel ausgelösten Gefahren von Verwüstung, Wassermangel und Naturkatastrophen. Drogenschmuggel, Korruption und Menschenhandel sind weitere destabilisierende Faktoren. Doch auch eine immer stärker vernetzte und digitalisierte Gesellschaft fordert mehr Mitspracherechte ein. Autokratische Regierungssysteme wie jene am Golf stehen daher langfristig in der Verantwortung, neue partizipative Formen der politischen Mitbestimmung ihren Bevölkerungen zu ermöglichen, da besonders die jüngeren Bevölkerungsschichten auf der Halbinsel zunehmend nach solchen Rechten verlangen.

Bereits in der Vergangenheit haben unterschiedliche europäische Dialogformate das Ziel verfolgt, Akteure aus Iran und den Golfstaaten an einen Tisch zu bringen. Dazu gehören zum Beispiel Initiativen des Instituts der Europäischen Union für Sicherheitsstudien (EUISS) oder des Bonner Forschungsinstituts CARPO. Europa könnte auf diesen Erfahrungen aufbauen und bereits bestehende Netzwerke nutzen. Momentan bietet sich für die EU eine historische Gelegenheit, einen solchen Austausch voranzutreiben, da die regionale Polarisierung abnimmt: Iran sowie die Golfstaaten zeigen eine größere Bereitschaft, sich stärker als bisher auf gemeinsame Herausforderungen zu konzentrieren, um die regionale Stabilität und damit auch ihre eigene Machtposition nicht zu gefährden. Es steht außer Frage, dass solche Initiativen einen sicherheitspolitischen Dialog zwar nicht ersetzen, aber sinnvoll ergänzen können. Die EU besitzt dafür geeignete Instrumente und wird in Iran und den Golfstaaten gleichermaßen als konstruktiver und vertrauenswürdiger Akteur geschätzt.

Förderung konkreter regionaler Zusammenarbeit

Neben den Kapazitäten, Dialogformate einzurichten, verfügt die EU auch über die passenden Instrumente, konkrete Möglichkeiten der Zusammenarbeit in bestimmten Sektoren anzubieten. Mit den Programmen Erasmus Mundus und Erasmus+ hat die EU Möglichkeiten, die den bildungspolitischen Austausch erweitern und sich auch für eine intensivierte regionale Zusammenarbeit im Bildungsbereich sowie in der Jugendförderung anbieten könnten. So könnten Stipendienprogramme für golfarabische und iranische Studierende eine interessante Option darstellen und direkten Austausch fördern. In der Unternehmensentwicklung hat die EU in den vergangenen Jahren mehrere Programme wie Erasmus for Young Entrepreneurs entwickelt, die Kleinunternehmen und Start-Ups unterstützen. Solche Vorhaben könnten auch in der Golfregion und in Iran auf Interesse stoßen, um dringend notwendige Jobs im Privatsektor zu schaffen.
In energiepolitischen Bereichen durchlaufen alle Golfstaaten eine fundamentale Transformation, um sich unabhängiger von fossilen Ressourcen aufzustellen und den Herausforderungen des Klimawandels entgegenzutreten. Da die Mitgliedstaaten der OPEC einschließlich Saudi-Arabien und Iran als Hauptproduzenten von Öl und Gas von den Auswirkungen des Klimawandels zunehmend stärker betroffen sind, befinden sie sich in einem Dilemma: Zum einen ist man fiskalisch auch noch für die kommenden Jahrzehnte auf petrochemische Erzeugnisse angewiesen. Zum anderen wird die Erkenntnis, dass jede weitere Tonne an gefördertem Öl oder Gas zusätzlich den globalen CO2-Haushalt belastet, längst in den politischen und öffentlichen Diskursen der Golfstaaten kontrovers debattiert. Da die Folgen des Klimawandels globaler Natur sind, sollte es auch im Interesse der EU sein, den öl- und gasfördernden Staaten alternative Anreize anzubieten, um sich stärker als bisher auf regenerative Energiesysteme zu konzentrieren.

Hier bieten sich umfassende Kooperationsmöglichkeiten: Bereits seit 2010 besteht mit den Golfstaaten das EU-GCC Clean Energy Network, welches verstärkt regionale Kooperation im Energiebereich unterstützen könnte. Auch innerhalb der Golfregion wächst das Interesse an transnationalen Initiativen, wie die durch Saudi-Arabien im März 2021 ins Leben gerufene Middle East Green Initiative zeigt, die darauf abzielt, auf regionaler Ebene gemeinsame Herausforderungen bezüglich des Klimawandels und des Umweltschutzes zu thematisieren. Kooperationen in Form von Joint Ventures wie das spanisch-emiratische Torresol Energy-Projekt oder der saudisch-deutschen Partnerschaft im Bereich Wasserstoff können hierbei als weitere Möglichkeiten des Wissenstransfers und der wirtschaftlichen Zusammenarbeit angesehen werden. Gleichzeitig würde dies den Vorteil mit sich bringen, dass man im Bau- und Energiesektor den in der Region zunehmend offensiver auftretenden chinesischen Unternehmen Konkurrenz schaffen könnte. Die Initiierung eines unterstützenden Fonds aus Mitteln der EU zur Förderung nachhaltiger Energiesysteme in der Region, aber auch darüber hinaus, könnte ebenso ein Baustein solch einer Initiative sein wie die Wiederbelebung des ehemaligen deutschen Vorzeigeprojekts DESERTEC. Mit einer einheitlichen europäischen Strategie zur Unterstützung in den zu transformierenden Bereichen kann die EU somit nicht nur einen Beitrag zur Bewältigung des Klimawandels schaffen, sondern auch ein Gegengewicht zum chinesischen Einfluss in der Region.

Weitere Kooperationsmöglichkeiten existieren in der Entwicklungspolitik: Insbesondere die vier Golfstaaten Saudi-Arabien, VAE, Kuwait und Katar haben sich seit den 1970er Jahren als relevante Akteure in der Entwicklungszusammenarbeit und der humanitären Hilfe etabliert. Zwar geriet deren humanitäres Engagement oftmals in die Kritik, weil die Golfstaaten mithilfe ihrer Entwicklungspolitik die Verbreitung intoleranter Ideologien wie den saudischen Wahhabismus oder gar terroristische Gruppierungen gefördert haben, doch in den letzten Jahren lässt sich auch hier ein Umdenken beobachten: Alle Golfstaaten haben die Kontrollmechanismen ihrer Geberorganisationen, der religiösen Stiftungen und der privaten Organisationen deutlich verschärft. Außerdem suchen sie zunehmend den Dialog mit multilateralen und internationalen Organisationen: Mittlerweile besitzen die Golfstaaten Teilnehmerstatus im Ausschuss für Entwicklungshilfe der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und engagieren sich weniger in der humanitären Hilfe und intensiver in der nachhaltigen Entwicklungspolitik.

Regionale Foren wie die Arabische Koordinierungsgruppe, zu der die nationalen Entwicklungsfonds der Golfstaaten sowie die arabischen multilateralen Entwicklungsagenturen gehören, bieten funktionale Institutionen der regionalen Entwicklungspolitik. Insbesondere Organisationen wie die Islamische Entwicklungsbank können daher als potenzielle Partner für einen stärkeren Dialog zwischen der für Entwicklungspolitik zuständigen EU-Kommissionsabteilung International Partnerships und regionalen Akteuren dienen. Immerhin zählen bei der Islamischen Entwicklungsbank nicht nur die Golfstaaten, sondern auch Iran zu den einflussreichen Mitgliedern. Bislang ist es nur in einem Fall in den palästinensischen Gebieten zu einer gemeinsamen Projektfinanzierung der Entwicklungsbank und der EU gekommen, doch das Interesse an einer Ausweitung dieses Engagements besteht auf beiden Seiten. Als Resultat könnte die Zusammenarbeit mit solchen Organisationen auch den Dialog zwischen den Golfstaaten und Iran ausbauen und konkrete Maßnahmen im Infrastruktur-, Bildungs- oder Wassersektor initiieren.

Chancen und Risiken für verstärktes Handeln der EU

Der EU bieten sich also konkrete Handlungsfelder und Instrumente, um das Momentum der regionalen Deeskalation positiv zu begleiten. Gleichzeitig böte sich Europa mit einem solchen Engagement auch die Möglichkeit, kritische Themen wie den Schutz von Menschenrechten anhand bestimmter Projekte zu diskutieren. Mittlerweile scheint sich die Einsicht bei den Golfstaaten sowie Iran zu verfestigen, dass regionale Stabilität in beiderseitigem Interesse liegt und dafür auch Kompromisse eingegangen werden müssen. Dieses Klima des Dialogs sollte die EU nutzen, indem sie die eigenen Stärken betont, die bereits bestehenden Instrumente an die regionalen Notwendigkeiten anpasst und sie um neue Formate ergänzt.

Allerdings sieht sich dieser Prozess auch mannigfaltigen Unwägbarkeiten gegenüber: Erstens fehlen der EU die Kapazitäten, um ein solches Vorgehen mit aller Kraft voranzutreiben. Europa befindet sich nach dem Brexit, den anhaltenden Konflikten zwischen den EU-Mitgliedsstaaten sowie aufgrund der Auswirkungen der Coronapandemie in einer Phase der Fragilität, die ein einheitliches Vorgehen erschwert. Zweitens verfolgen die EU und einzelne Mitgliedsstaaten häufig entgegengesetzte Interessen gegenüber den Golfstaaten und Iran. Drittens sollte Europa den Eindruck vermeiden, paternalistisch Einfluss nehmen zu wollen, sondern stattdessen auf die Interessen und Bedarfe der Konfliktparteien eingehen. Ein solches Vorgehen sollte auch berücksichtigen, eigene Programme und Initiativen flexibel an sich verändernde Gegebenheiten anpassen zu können. Gelingt dies nicht, droht Vertrauensverlust.

Diese Maßnahmen können viertens nur gemeinsam mit sicherheitspolitischen Initiativen wirken. Sollten die europäischen Akteure es nicht schaffen, möglichst einheitlich oder in Form einer Koalition der Freiwilligen zu agieren, wäre jede Initiative bereits von vornherein geschwächt und hätte nur bedingte Wirkungskraft. Die EU ist in diesem Bereich im Gegensatz zu den USA oder auch Russland und China kein relevanter Akteur, was auch in der Region so wahrgenommen wird. Gleichzeitig hat insbesondere Deutschland ein Interesse daran, Israels strategische Position in der Region nicht zu schwächen. Sollten die Verhandlungen mit dem Iran über das Atomabkommen erfolgreich sein, ist es unabdingbar, weitere Verhandlungen mit Akteuren außerhalb der Vertragsstaaten des Abkommens zu führen. Gerade nach den jüngsten Entwicklungen im Konflikt zwischen Israel und der Hamas sollten europäische Staaten vermittelnd zwischen den Konfliktparteien wirken. An einem dauerhaft schwelenden Konflikt in der Region hat weder Deutschland noch die Europäische Union ein Interesse. Deswegen sollten die Aktivitäten realistische Ziele verfolgen und keine übertriebenen Erwartungen wecken.

Dies betrifft auch den Zeithorizont: Insbesondere in Zeiten der Coronapandemie und hinsichtlich der anstehenden Präsidentschaftswahlen im Iran sollten rasche Angebote für die wirtschaftliche und entwicklungspolitische Zusammenarbeit unterbreitet werden, um zeitnah konstruktive Resultate erzielen zu können. Gleichzeitig sollte sich die EU bemühen, langfristig Vertrauen auf Basis eines intensivierten Dialogs herzustellen, um einen ganzheitlichen Ansatz zu verfolgen. Die jetzige Phase der vorsichtigen Annäherung sollte deswegen nicht ungenutzt verstreichen.

Stefan Lukas ist Politikwissenschaftler und Nahostanalyst und war unter anderem Lehrbeauftragter zur Sicherheitspolitik des Nahen und Mittleren Ostens an den Universitäten Jena und Greifswald. Neben seiner Tätigkeit als Gastdozent bei der Führungsakademie der Bundeswehr ist er Advisor bei der Gesellschaft für Sicherheitspolitik.

Dr. Sebastian Sons ist Wissenschaftler beim Bonner Forschungsinstitut Center for Applied Research with the Orient (CARPO) und Experte für die arabischen Golfstaaten. Er promovierte zur Arbeitsmigration von Pakistan nach Saudi-Arabien und ist Autor des Sachbuchs „Auf Sand gebaut. Saudi-Arabien – Ein problematischer Verbündeter“.

Die Autoren geben ihre persönliche Meinung wieder.

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