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Zusammenfassung des Moduls 6: Regionale Herausforderungen. Revolution und Regimewandel: Analyse des Transformationsprozesses in der arabischen Welt.

Montag, 11. Juni 2012

Ursachen und Einflussfaktoren der Umbrüche in der arabischen Welt

Der Tahrir-Platz stand 2011 im Mittelpunkt der ägyptischen Revolte.

Am Tahrir-Platz wird weiter demonstriert
Quelle: Bundesakademie für Sicherheitspolitik

Seit Dezember 2010 hat sich die arabische Welt nahezu vollständig verändert. Durch die Massendemonstrationen und Aufstände von Marokko bis Saudi-Arabien sind jahrzehntelange politische und wirtschaftliche Verkrustungen aufgebrochen. Von Protesten ausgenommen blieben lediglich die Vereinigten Arabischen Emirate und Katar.

Auch wenn sich die gesellschaftlich-politischen Träger der Proteste und die von ihnen artikulierten Anliegen von Land zu Land unterscheiden, so lassen sich doch Gemeinsamkeiten und Parallelen erkennen. Der Protest richtete sich gegen autokratische Regime, bei denen Geheimdienste und Sicherheitsapparat wesentlicher Garant der Systemstabilität waren. Hinzu kommen ineffiziente ökonomische Strukturen, die häufig von engen Verflechtungen zwischen Wirtschaft und Machtapparat geprägt waren, einhergehend mit einer hohen Arbeitslosigkeit. Etwa 70 % der Bevölkerung in den arabischen Staaten ist jünger als 30 Jahre und sieht aufgrund der politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen weder eine ökonomische noch eine soziale Perspektive. Insofern geht es den Protestierenden in erster Linie um wirtschaftliche und politische Teilhabe sowie um die Einhaltung grundlegender Menschen- und Freiheitsrechte.

Neben den grundlegenden Ursachen für die Proteste wurden auch mögliche weitere Einflussfaktoren einer näheren Betrachtung unterzogen. Als Katalysator für die Protestbewegungen dürften in erster Linie neue Formen der Kommunikation eine Rolle gespielt haben. Neben der Bildung einer zumindest teilweise unabhängigen Presse in einigen Ländern haben insbesondere Mobiltelefone und soziale Netzwerke zu einer starken öffentlichen Mobilisierung und Ausweitung der Proteste geführt. Daneben hat für die „revolutionäre Ansteckung“ über Ländergrenzen hinweg der katarische Satellitensender „Al Jazeera“ eine entscheidende Rolle gespielt. Als weiteres Muster zeigte sich, dass dem Militär eine entscheidende Bedeutung für den Verlauf der Auseinandersetzungen zukam. Bei einer raschen Solidarisierung der Armee mit der Protestbewegung kam es zu einem relativ gewaltarmen Führungswechsel, wie in Tunesien und Ägypten. Bei einer Aufspaltung war ein bewaffneter Machtkampf die Folge, wie in Libyen und Jemen. Blieb die Armee in weiten Teilen dem Regime gegenüber loyal, wie in Syrien, wirkte sich das in einer massiven und rücksichtslosen Unterdrückung der Proteste aus.

Einzelbetrachtung der Staaten in Nordafrika und im arabischen Raum

Bei der Einzelbetrachtung der Staaten lässt sich – auch wenn die Grenzen oft fließend sind – im Grundsatz zwischen „Transformationsstaaten“ (in denen ein durchgreifender Wandel des politischen Systems stattfindet), „Status-Quo-Staaten“ (in denen bisher die Kontinuität des politischen Systems prägend ist, auch wenn diese mit einzelnen Reformen verbunden sein kann) und Bürgerkriegsstaaten unterscheiden – also Staaten, in denen bürgerkriegsähnliche Zustände herrschten oder herrschen.

Transformationsstaaten

Die zentralen Transformationsstaaten sind bisher Tunesien und Ägypten; die Entwicklungen in Ägypten, dem traditionell einflussreichsten und bevölkerungsstärksten arabischen Land, haben im Verlaufe unseres Moduls eine besondere Rolle gespielt und wurden im Rahmen einer einwöchigen Studienreise nach Kairo vertieft.

Ägypten und Tunesien wiesen schon vor dem Umbruch wichtige strukturelle Gemeinsamkeiten auf (nominell republikanische Staatsform – im Gegensatz zu den ebenfalls zahlreichen Monarchien im arabischen Raum – mit mächtigen Parallelstrukturen zu den offiziellen Institutionen; Regime, die sich selbst reproduzierten; Wirtschaftsoligarchien und eine  starke Verflechtung von politischer und wirtschaftlicher Macht; herausragende Stellung der Sicherheitsapparate, vor allem des Militärs und der Gemeindienste). Nach dem Umbruch ist beiden Staaten zum Einen gemein, dass trotz eines Sturzes der vorherigen Herrscher die grundlegenden staatlichen Institutionen und Strukturen vollständig erhalten geblieben sind, zum Anderen, dass ein demokratischer Wandel mit Parlaments- sowie Präsidentschaftswahlen und einem verfassungsgebenden Prozess stattfindet. Beide Staaten werden wohl auch künftig über ein Präsidialsystem verfügen, während die Stellung des Präsidenten und sein Verhältnis zu Parlament und Regierung noch im Detail geklärt werden müssen. Sowohl Tunesien als auch Ägypten stehen vor großen Herausforderungen, zu denen in beiden Ländern neben der wirtschaftlichen Entwicklung und einer Zukunftsperspektive für die große Zahl an jungen Menschen unter 25 Jahren vor allem eine durchgreifende Reform des Sicherheitssektors zählt. Die enorme Größe der Sicherheitskräfte und deren große Bedeutung für den Beschäftigungssektor ist deshalb ein Reformhindernis und eine erhebliche Hypothek für den demokratischen Wandel. Beiden Staaten gemein ist schließlich, dass noch nicht ausgemacht ist, dass die Transformation zu einem demokratisch legitimierten und stabilen politischen System gelingen wird. Vor allem in Ägypten besteht vor dem Hintergrund zahlreicher offener Fragen – wie etwa der Frage nach der künftigen Stellung die Militärs und der Sicherheitskräfte sowie deren politischer und rechtlicher Kontrolle – noch die Gefahr, dass die Machtübergabe an frei gewählte Institutionen scheitert. Sowohl in Ägypten als auch – wenn auch in weniger ausgeprägtem Ausmaß – in Tunesien haben 2011 die ersten Wahlen zum Parlament (Ägypten) bzw. zur Verfassungsgebenden Versammlung (Tunesien) dazu geführt, dass islamistische Parteien (Ennahda in Tunesien, Muslimbrüder und Salafisten in Ägypten) die dominanten politischen Kräfte geworden sind. Auch wenn unklar bleibt, welche langfristigen Vorstellungen diese Kräfte für die politische Entwicklung in den jeweiligen Ländern haben, deutet sich an, dass die moderaten islamistischen Parteien (Ennahda; Muslimbrüder) die dauerhafte Entfaltung eines pluralistischen demokratischen Systems unterstützen und ihre Anliegen innerhalb eines solchen Systems im Wettbewerb mit anderen Kräften durchsetzen wollen. Dies gilt auch für sensible Fragen wie die praktische Bedeutung des islamischen Rechts im Rechtssystem und die Rolle von Frauen in Staat und Gesellschaft.

Auch Libyen muss zu den Transformationsstaaten gerechnet werden. Zwar ging dem Sturz und dem Tod des autokratischen Herrschers Oberst Gaddafi – im Gegensatz zu den Entwicklungen in Ägypten und Tunesien – ein monatelanger blutiger Bürgerkrieg einschließlich der militärischen Intervention des Nordatlantikpaktes (NATO) auf der Grundlage eines Mandats des UN-Sicherheitsrats (Resolution 1793) voraus und ist in Libyen die staatliche Ordnung vollständig zusammengebrochen, weshalb im Fall von Libyen auch von einem revolutionären Bruch mit dem früheren System gesprochen werden kann. Dennoch muss Libyen zu den Transformationsstaaten gezählt werden, da das Land mit Ägypten und Tunesien neben dem Sturz des herrschenden Regimes auf der Grundlage der am 3. August 2011 vom Nationalen Übergangsrat in Kraft gesetzten Übergangsverfassung wohl den Weg zu freien Parlamentswahlen (geplant für den 19. Juni 2012) und der Erarbeitung einer Verfassung gehen wird. Im Gegensatz zu der Lage in Ägypten und Tunesien ist Libyen – aufbauend auf einer durch eine hohe Tribalität geprägten Struktur der Gesellschaft – durch die Existenz zahlreicher hoch bewaffneter und durch keine funktionierende Zentralautorität (der Nationale Übergangsrat genießt kaum politische Legitimität) kontrollierten Milizen geprägt. Auseinandersetzungen auch gewalttätiger Form über die Verteilung von Einfluss, Macht und Öl-Ressourcen zwischen stammesbezogenen Milizen werden die nächste Zukunft des Landes mitprägen und stellen eine Hypothek für einen friedlichen Wandel dar. Auch ein Zerfall des Staates ist nicht auszuschließen.

Status-Quo-Staaten

In der zweiten Kategorie von Staaten befinden sich die status-quo Länder, in denen die Umbrüche bisher zu keinen grundlegenden Veränderungen der sozialen und politischen Ordnung geführt haben. Zu diesen Ländern gehören Algerien in Nordafrika und der Großteil der Golfstaaten der arabischen Halbinsel. In diesen Staaten kommt es z.T. weiterhin zu Demonstrationen, die sich für mehr Demokratie, politische Reformen und gesellschaftliche Erneuerung einsetzen. Eine Sonderrolle nehmen innerhalb dieser Gruppe Marokko und Jordanien ein.

In den meisten Golfstaaten haben die – ohnehin meist deutlich geringeren – Proteste kaum Auswirkungen gehabt. Die Reaktionen der Machthabenden konservativen Monarchien bestanden überwiegend in finanziellen „Zugeständnissen“ – wie der Anhebung von Löhnen und Gehältern oder der stärkeren Subvention von Grundnahrungsmitteln (z.B. im Oman) – und ggf. der Ankündigung begrenzter politischer Reformen. In den ölreichen Golfstaaten ist- mit Ausnahme von Bahrain – die Lage daher trotz gelegentlicher Demonstrationen grundsätzlich ruhig geblieben.

In Algerien haben zwar ebenfalls große Demonstrationen stattgefunden, diese verliefen aber – der blutige Bürgerkrieg Anfang der 1990er Jahre ist noch in aller Erinnerung – friedlich und richteten sich nicht auf einen Umsturz der politischen Ordnung. Die Reaktion bestand in der Aufhebung des Ausnahmezustands und der Ankündigung allgemeiner und freier Wahlen (die wohl Ende 2012 stattfinden werden).

Marokko und Jordanien stellen eine Ausnahme in dieser Staatengruppe dar, weil es nicht zu einem Umsturz der politischen Ordnung, aber doch einem politischen Wandel und zu einer politischen Re-formagenda in Form von Regierungsumbildungen, einem Prozess der tiefer greifenden Verfassungsreform und beabsichtigen Parlamentswahlen (Jordanien) bzw. zu deutlichen Schritten in Richtung einer Parlamentarisierung des politischen Systems (Marokko) gekommen ist. In Marokko geht die Tendenz dabei vorsichtig in Richtung einer konstitutionellen Monarchie (die in Wahlen siegreiche Partei wird künftig automatisch den Regierungschef stellen; bei den Wahlen 2011 haben sich islamistische Kräfte durchgesetzt). Beide Staaten – Jordanien und Marokko – zeichnen sich am Ende durch den Weg einer mehr oder weniger tief greifenden  „Reform von Oben“ aus.

Bürgerkriegsstaaten

In den hier zusammengefassten – und in sich sehr unterschiedlichen – „Bürgerkriegsstaaten“ Syrien, Jemen und Bahrain ist bisher kein Wandel zu erkennen. Vielmehr sieht es danach aus, dass die Konflikte, insbesondere in Syrien, zu einem Bürgerkrieg mit einer hohen Anzahl an Zivilopfern eskalieren werden; ein Ende ist zurzeit nicht absehbar. Es besteht derzeit keinerlei Hoffnung auf eine politische Reform, auch wenn im Februar 2012 das Assad Regime eine propagandistische Reform der Verfassung angekündigt hat und im Mai 2012 Parlamentswahlen hat durchführen lassen. Diese waren jedoch substanzlos und unglaubwürdig und haben vielmehr zur weiteren Verschärfung des Konfliktes in Syrien beigetragen. Denn es zeichnet sich ab, dass der Konflikt nicht nur zwischen dem Regime und den Aufständischen weiter eskaliert, sondern dass auch ein konfessioneller Konflikt zwischen den Parteien ausbricht. Eine (westliche) militärische Intervention im Sinne von „Libyen 2“ wird es nicht geben, zumal die UN unter ihrem Sonderbeauftragten Kofi Annan die Aufgabe hat, eine langfristig tragfähige Vereinbarung zwischen den kämpfenden Parteien zu finden. Assad wird hierdurch nicht geschwächt bzw. zum Abdanken gezwungen werden (können), dazu ist seine Macht noch zu stark. Eine Post-Assad-Führung ist – auch wegen großer Zerstrittenheit innerhalb der syrischen Opposition – nicht absehbar.

Die Situation stellt sich in Bahrain ähnlich dar: eine Politik der Herrschaftssicherung durch Gewalt gegen das eigene Volk ohne erkennbaren Willen für Reformen. Insbesondere ist es Bahrein nicht gelungen, im Gegensatz zu den anderen Golfstaaten, durch „Geschenke“ an die Bevölkerung, diese zu beruhigen. Nach blutigem Niederschlagen der Proteste vor allem durch das militärische Eingreifen vor allem Saudi Arabiens hat sich die Lage seit Mitte 2011 zwar beruhigt, die Konflikte schwelen aber weiter und können jederzeit wieder blutig ausbrechen. Im Jemen ist es nach anhaltenden blutigen Auseinandersetzungen im Jahr 2011 zwar zum Rückzug des Machthabers Saleh gekommen, aber weder zu einem politischen Wandel noch dazu, dass von Stabilität und Frieden im Land gesprochen werden kann.

In den Bürgerkriegsstaaten finden eine auf Herrschaftssicherung ausgerichtete arabische Restauration und keine Revolution statt. Folglich zermürbt der jeweilige Regimeerhalt die Aufständischen, die mit weiteren Repressalien zu rechnen haben. Die Gefahr, dass in der Opposition radikalere, islamistisch geprägte Kräfte an Bedeutung zunehmen und der Kampf in Form von Terrorismus fortführen, ist nicht gering.

Die Rolle der Streitkräfte während der Umbrüche

Die Streitkräfte der arabischen Staaten im Nahen Osten und in Nordafrika (MENA-Staaten) haben eine zentrale, in Teilen sogar entscheidende Rolle bei den gesellschaftlichen Umbrüchen in der arabischen Welt gespielt und besaßen daher auch in unserem Modul eine besondere Bedeutung. Vergleiche zwischen den verschiedenen Staaten sind hierbei kaum angeraten, da die Rolle der Armeen in den Gesellschaften der MENA-Staaten sehr unterschiedlich ausgeprägt ist. Überwiegend haben die Armeen eine eher mäßigende, zurückhaltende Rolle im Rahmen der Umbrüche gespielt und damit wesentlich den Verlauf der Ereignisse bestimmt. Syrien und Libyen haben allerdings gezeigt, dass hier die Machthaber auch während der Unruhen Einfluss und Befehlsgewalt über die Armeen behielten, während in Ägypten und Tunesien die Armeen sich aus verschiedenen Gründen eher als Teil des Volkes gesehen haben und schnell auf Distanz zum umstrittenen Regime gegangen sind. Hier bietet sich auf jeden Fall ein tieferer Blick in die Geschehnisse an.

Als Gemeinsamkeit lässt sich aber festhalten, dass besonders die Offiziere der Armeen Teil der gesellschaftlichen Elite sind und sich dort auch deutlich positioniert sehen. Die ehemaligen Machthaber (u.a. Mubarak, Gaddafi) sind aus der Armee hervorgegangen, beziehungsweise haben mit der Durchsetzungskraft der Streitkräfte Ihre Position eingenommen und gehalten. Die Gefügigkeit der Streitkräfte erkauften sich die Machthaber oftmals durch Übertragung besonderer Privilegien für die Soldaten. So besitzt beispielsweise das Militär in Ägypten nach wie vor eigene Industriebetriebe und Firmen. Der Profit geht unmittelbar in die Kassen der Kommandeure, die ihrerseits Anteile an das Offizierskorps weitergeben.  Auf diese Privilegien und Einkommensquellen wollen die Militärs natürlich auch in der neuen Konstellation der Regierungen nicht verzichten, auf der anderen Seite müssen sich die neuen  Regierungen der Gefolgschaft des Militärs sicher sein. Dies bietet die ideale Basis für den Fortbestand des Privilegiensystems für das Militär, das offenbar auch von der Gesellschaft akzeptiert wurde und wird.

Die Gründe, warum sich das Militär in Ägypten und Tunesien bereits in einer frühen Phase  auf die Seite der Aufständischen schlug sind vermutlich vielschichtig. Die Überlegung der Generalität, nach dem sich abzeichnenden Umsturz wieder eine einflussreiche Rolle spielen zu wollen, stand sicherlich im Vordergrund. In Ägypten bot sich dem Militär zudem die einzigartige Chance, dem nicht geliebten Polizei- und Sicherheitsapparat endlich die Stirn bieten zu können. Gleichzeitig rutschte das Militär in Ägypten mehr oder weniger ungewollt in die Position, zumindest vorübergehend, den Staat zu führen, bzw. führen zu müssen. Das Militär war offenbar die einzige Organisation, die diese Führungsleistung zu diesem Zeitpunkt  übernehmen konnte. Gleichzeitig wird eingeschätzt, dass das Militär schnellstmöglich die Macht wieder abgeben will, da es nicht die Konsequenzen verfehlter Regierungsführung „ausbaden“ will. Zudem wäre damit gegebenenfalls auch der vorhandene Kredit in der Bevölkerung schnell verspielt. Ein anderer Grund für die schnelle Parteinahme mit der Bevölkerung könnte in der Wehrpflicht bestanden haben. Volk und Militär fühlten sich verbunden, dienen war Teil der gesellschaftlichen Pflicht. Zusammen mit dem hohen Ansehen des Militärs ergab sich damit die herausragende Position der Streitkräfte besonders in Ägypten. Die Soldaten waren nicht bereit auf Ihr Volk zu schießen, offenbar im deutlichen Unterschied zu den oftmals ausländischen Söldnern Gaddafis.

Rolle des politischen Islam

Im Modul sind wir u.a. der Frage nachgegangen, ob nach dem „Arabischen Frühling“ der politische Islam in den Transformationsstaaten auf dem Vormarsch ist.

Die bislang durchgeführten demokratischen Wahlen in Marokko und Tunesien und insbesondere die Parlamentswahlen in Ägypten haben deutlich gemacht, dass nicht die Reformer und Träger der Protestbewegungen den neuen politischen Ordnungen in den Transformationsstaaten ihre Gestalt geben werden, sondern vornehmlich islamisch inspirierte Kräfte ihre politischen Ziele mit Hilfe ihrer errungenen Mandate durchsetzen können. Vieles spricht dafür, dass sich der islamische Trend in den in 2012 noch anstehenden Wahlen in Algerien, Libyen und Jordanien fortsetzen wird. Es dürften wohl die BürgerInnen in den ärmeren, ländlichen Regionen gewesen sein, die den KandidatInnen der islamischen politischen Gruppierungen einen Wahlerfolg bescherten. Die islamisch ausgerichteten Parteien bilden hierbei keinen einheitlichen Block, sondern stehen für ein breites Spektrum des politisch ausgerichteten Islam, wobei die Vertreter des gemäßigten Islam, wie die Muslimbruderschaft in Ägypten, den Schwerpunkt in den Parlamenten bilden.

Im Ergebnis beansprucht der politische Islam in allen Ländern Nordafrikas nicht nur mehr Legitimität, sondern auch eine politische Führungsrolle im jeweiligen Land. Dabei halten VertreterInnen des gemäßigten islamischen Spektrums eine Vereinbarkeit von Islam mit demokratischen Strukturen und Werten für möglich. Dennoch stellen sich folgende Fragen:

- Welche Auswirkungen auf Politik, Wirtschaft und Gesellschaft sind von einer durch die Scharia beeinflussten Regierungsarbeit und Rechtsetzung  zu erwarten?

- Welche Rechte und welches Ausmaß an Toleranz werden sich die religiösen und säkularen Minderheiten erhalten können?

- Wie wird die künftige Rolle der Frau definiert werden?

- Wie kann den islamischen Kräften der wirtschaftliche Neubeginn gelingen?

Diese Fragen konnten nicht abschließend beantwortet werden. Vieles, vor allem die desolaten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen sprechen dafür, dass die islamischen Wahlsieger, die ganz überwiegend dem gemäßigten Flügel zuzurechnen sind, eher einen Weg einschlagen werden, wie ihn Erdogan und seine AKP in der Türkei gegangen sind. Die weitere Entwicklung in der Region dürfte aber auch stark vom weiteren Transitionsprozess in Ägypten maßgeblich mitgeprägt werden.

Für die deutsche und europäische Außen- und Sicherheitspolitik bedeutet dies, das Verhältnis zum politischen Islam neu zu definieren und mit den gemäßigten islamischen Kräften in den Transformationsländern in einen intensiveren Dialog zu treten, um – sofern überhaupt möglich – einen Einfluss auf den weiteren Demokratisierungsprozess nehmen zu können. Auch die noch stabilen arabischen Monarchien am Golf werden ihr Verhältnis zu den Transformationsstaaten neu definieren müssen, da das Modell des politischen Islam in Konkurrenz zu ihren Herrschaftssystemen treten wird.

Europäische und deutsche Handlungsoptionen in Nordafrika

Derzeit besitzt die Europäische Union nur sehr eingeschränkte Möglichkeiten, die weitere Entwicklung der Ereignisse in Nordafrika und im arabischen Raum insgesamt mit zu gestalten. Europäische Hilfsangebote werden in der Region nicht selbstverständlich angenommen, auch da die (ökonomische) Abhängigkeit der arabischen Staaten (in Nordafrika) von Deutschland und von der EU insgesamt eher gering ist. Aus Sicht der nordafrikanischen Länder kommt – neben der kolonialen Vergangenheit – auch der scheinbare Kurswechsel der EU und der westlichen Länder zwischen wertegeleiteter und interessengeleiteter Außenpolitik hinzu. Die europäischen Länder haben mit deren alten Regimen zusammengearbeitet, da in diesen die stabilisierenden Faktoren der Region gesehen wurden. Hierdurch wurde viel an Glaubwürdigkeit verspielt.

Wesentliche Grundlagen für eine künftig erfolgreiche EU-Außenpolitik in Nordafrika sind Berechenbarkeit und Nachhaltigkeit ohne Richtungswechsel in der grundsätzlichen Ausrichtung oder sich wi-dersprechende Schwerpunktsetzungen bei Kooperationsprojekten. Aufgrund der fehlenden Abhängigkeiten scheidet dann Europa als Partner aus und Nordafrika wird sich anderweitig orientieren. Unter diesen Voraussetzungen gibt es in den folgenden Bereichen Handlungsoptionen:

  • Unterstützung beim Aufbau von Rechtsstaaten und Beratung beim Erstellen von Verfassungen;
  • Unterstützung beim Aufbau der Wirtschaft, vor allem der nicht öl-basierten Industrie- und Wirtschaftszweige. Hierfür sind Voraussetzungen wie vor allem Investitionssicherheit erforderlich;
  • Bildungstransfer, –aufbau und –kooperation in allen Bereichen (einschließlich beruflicher Bildung und Hochschulen) mit Blick auf wirtschaftliche Entwicklung und Perspektiven für junge Menschen;
  • Energiezusammenarbeit (Bewusstseinsveränderung für den Umgang mit Energie; know-how Transfer im Bereich erneuerbare Energie; Energieproduktion);
  • Sicherung der Grundbedürfnisse der Bevölkerung (in Bereichen wie Wasser, Energie und Nahrungsmittel), auch zur Eindämmung bzw. Vermeidung von Migrationsströmen. Hier kann die Europäische Union vor allem mit Beratungsangeboten zur Seite stehen;
  • Unterstützung von Demokratisierung. Dieser sicherlich besonders sensible Bereich erfordert eine Gratwanderung zwischen der Unterstützung entsprechender Gruppierungen und Prozesse und der Vermeidung von offensichtlichem Einmischen in die inneren Angelegenheiten der Staaten. Ziel wäre die Vermittlung demokratischer und menschenrechtlicher Werte als langfristiger Prozess.

Eine individuelle Betrachtung der nordafrikanischen Länder und eine jeweils gezielte Ausrichtung Europas auf die individuellen Rahmenbedingungen und relevanter Faktoren in den einzelnen Ländern ist hierbei für eine erfolgreiche Kooperation erforderlich. Wichtig ist eine modulare Integration der nordafrikanischen Länder in eine abgestimmte und ganzheitliche EU-Politik.

Auswirkungen auf den Nahost-Konflikt

Der seit mehr als sechs Jahrzehnten anhaltende Nahostkonflikt hat zwar allenfalls eine sehr untergeordnete Rolle für den Ausbruch der Umbrüche gehabt, der Umbruch in der arabischen Welt hat hingegen erhebliche Auswirkungen auf die politische und die Sicherheitslage im Nahen Osten und auf die Rahmenbedingungen im Nahostkonflikt. Mit dem Ende des Mubarak-Regimes hat Israel einen zentralen Garanten der eigenen Sicherheit eingebüßt. Der Bürgerkrieg in Syrien bedroht die Sicherheitslage Israels an seiner Nordgrenze und hat dazu massive Auswirkungen auf das Verhalten wichtiger politischer Verbündeter des syrischen Regimes (der Hamas und der Hisbollah). Auch wenn für die Menschen in den arabischen Ländern – hier vor allem in Ägypten – der Nahostkonflikt nicht im Mittelpunkt des Interesses steht, werden die künftig herrschenden politischen Eliten nur noch eingeschränkt bereit sein, mit Israel (sicherheits-) politisch oder ökonomisch (Energie!) zusammenzuarbeiten, solange sich keine politische Lösung des Nahostkonfliktes – einschließlich deutlicher Zugeständnisse von Israel – abzeichnet. Aus aktueller Sicht ist daher zwar nicht mit einer Eskalation der Spannungen oder gar Gewaltausbrüchen im Nahen Osten zu rechnen, aber mit einer Phase des Stillstands in bzw. des Abbruchs von Beziehungen und einer weiteren regionalen Isolation Israels.

Autor: Arbeitsgruppe "Afrika" des Seminars für Sicherheitspolitik