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Kernseminar: Neukölln keineswegs nur Problembezirk

Donnerstag, 19. Mai 2016

„Bildung ausbauen, Engagement fördern und Anreize setzen“ – diese Schlagworte begleiteten das Kernseminar der BAKS beim Besuch in Berlin-Neukölln am 11. Mai als wichtige Faktoren für gelingende Integration.

Zahlreiche Menschen stehen und gehen entlang einer Einkaufsstraße in Berlin-Neukölln.

Stadtleben in Neukölln: So sehr der Stadtteil heute von massiven Herausforderungen gezeichnet und als Problembezirk bekannt ist, bietet er zugleich viele Erfolgsgeschichten.
Foto: Mike Herbst/flickr/CC BY-SA 2.0/Bildausschnitt

Neukölln steht im Fokus der Diskussion um die Arbeit mit durch Migration geprägten sozialen Brennpunkten in Deutschland. Als Stadtteil hat sich Neukölln in wenigen Jahren radikal verändert. Exemplarisch hierfür steht die Entwicklung an der Grundschule in der Köllnischen Heide: Anfang der 80er Jahre betrug der Anteil der Schüler mit Migrationshintergrund zehn Prozent. Heute beträgt ihr Anteil über 90 Prozent – allerdings insbesondere aus bildungsfernen Familien. Dies, so die Schulleitung im Gespräch mit dem Kernseminar, sei die entscheidende Herausforderung für die Arbeit: Den an sich hoch motivierten Grundschulkindern fehle die Förderung von Bildung in der Familie. Schulen, so wurde betont, könnten nur etwa 25 Prozent der Werte- und Wissensprägung eines Kindes leisten.

Ferien sind ein Trauma – und eine Chance für den Salafismus

Die Familie ist in der Pflicht, versagt aber vor dem Hintergrund mangelhaft integrierter Elterngenerationen, hoher Arbeitslosigkeit und fehlender Perspektiven. Außerhalb des Schulangebots liegen die Kinder brach. „Freizeit und Ferien“, so heißt es vor Ort, „sind für die Kinder ein Trauma, voller Langeweile – nach den Ferien ist die Festplatte gelöscht!“ Und viel mehr: Nachdem schulbegleitende Ferienangebote in ihrer finanziellen Förderung zunehmend eingeschränkt oder gar komplett gestrichen werden, stehen gerade die Kinder arbeitsloser Eltern außerhalb der Schulzeit auf der Straße und werden reihenweise von salafistischen Koranschulen eingesammelt – eine Katastrophe für die Integrationsbemühungen der Schulen.

Teilnehmer des Kernseminars der BAKS stehen vor einer Wand mit Plakaten in einer Schule.

Das Kernseminar bei der Führung durch die Grundschule an der Köllnischen Heide. Foto: BAKS

Dem Lehrermangel muss begegnet werden

Angesichts des fehlenden Familienrückhalts müssen Lehrer gezielter auf die Arbeit vorbereitet werden. Der Lehrermangel in Berlin trifft Neukölln umso härter. Nur sehr wenige Lehramtsstudierende entscheiden sich bewusst für die Arbeit in Problembezirken. Die Schulleitung plädiert hier für eine für die Lehrerausbildung verpflichtende Phase in schwierigem Umfeld sowie entsprechende finanzielle Anreize. „Auf Gutmenschentum allein können wir uns nicht verlassen, Lehrer müssen für schwierige Arbeit entsprechend bezahlt werden.“

Doch gerade das persönliche Engagement der Lehrer und des Umfelds der Schule ist bisher der entscheidende Faktor, der die angesichts der massiven Herausforderungen bemerkenswerte Erfolgsquote von 25 Prozent an Gymnasien wechselnde Kinder erklärt: Ein Großteil des Inventars entstammt Spenden, die Lehrerschaft engagiert sich sowohl in der privaten Freizeit sowie mit eigenen finanziellen Mitteln für die Weiterentwicklung der Schule und des Schulangebots. Staatliche Programme und Unterstützung leisten vieles, doch belasten die Schulkräfte auch bürokratische Auflagen sowie Einschränkungen in der Arbeit: „Es hängt am Ende doch von Personen ab – das Engagement, aber auch der Dialog mit der Politik“, unterstreicht die Schulleitung die Wichtigkeit der persönlichen Einstellung.

Ein Schulgebäude mit Schulhof

Die Schule an der Köllnischen Heide. Foto: BAKS

Bildung, Bildung, Bildung!

Hoch motiviert begegnete auch Bezirksbürgermeisterin Dr. Franziska Giffey (SPD) dem Kernseminar im Mittagsgespräch: „150 Nationen und Ethnien, 42 Prozent Migrationshintergrund, 17 Prozent Schulabbrecher, bis zu 30 Prozent Arbeitslosigkeit in Teilen Neuköllns und 150 behördlich bekannte Intensivtäter sind eine Herausforderung.“ Neukölln ist heute Hipster-Partylocation wie zugleich auch Ort von Zwangsheiraten und Parallelgesellschaften. Als Frau spürt Giffey die Extreme des Stadtteils besonders: „Es gibt viele Erfolgsgeschichten“, erläutert die Politikerin, „doch eine Handschlagsverweigerung bei der Einbürgerungsfeier frustriert!“

Dennoch ist das Entwicklungspotential da: Mit Produktionsstätten global agierender Unternehmen sowie mit jüngst aufgetretenen Startups bietet Neukölln Arbeitsplätze. Auch wird der Stadtteil zunehmend attraktiv als Lebensmittelpunkt für Studierende, junge Akademiker sowie auch junge Familien mit Bildungshintergrund. „Ein Aufbrechen der von Migrationshintergrund dominierten Schulen kann gelingen“, betont Giffey. „Insbesondere durch engagierte Eltern erhalten festgefahrene Strukturen in Neukölln an Dynamik.“ Doch auch die Bezirksbürgermeisterin gesteht ein, dass nicht alles auf den Schultern Einzelner und junger Familien lasten darf: „Ein starker Staat muss in extremen Situationen eingreifen können und insbesondere Kinder aktiv schützen.“ Schon jetzt investiert Neukölln einen überwiegenden Teil des Haushalts in den Sozialbereich. „Bildung ist der Schlüssel für weitere Fortschritte in der Integration. Zugleich hängt die weitere Entwicklung des Stadtteils stark vom Erfolg im Kampf gegen kriminelle Strukturen ab“, verweist Giffey auch auf die soeben erfolgte Razzia gegen arabische Clanstrukturen in Neukölln und den Kampf gegen radikale Einflüsse in Teilen der islamischen Gemeinde.

Die Teilnehmer des Kernseminars gemeinsam mit der Bezirksbürgermeisterin von Neukölln Dr. Franziska Giffey.

Besuch bei der Bezirksbürgermeisterin von Neukölln Dr. Franziska Giffey. Foto: BAKS

Erfolgsprojekte in Zivilgesellschaft und Moscheen – Begegnung schafft Vertrauen

So sehr Neukölln von massiven Herausforderungen gezeichnet und als Problembezirk bekannt ist, bietet der Stadtteil zugleich eine große Anzahl an Erfolgsgeschichten: Mentoring- und Buddy-Initiativen sowie Projekte wie „Stadtteilmütter“ übernehmen Verantwortung dort, wo Familien bisher an den Problemen scheitern. Glaubensstätten wie die Şehitlik-Moschee fördern als Ort der Begegnung und Vertrauensbildung wie auch für die konkrete Hilfestellung für angekommene Flüchtlinge den Austausch zwischen deutscher, türkischer sowie islamischer Gemeinschaft. Die Moschee engagiert sich als Bindeglied zu staatlichen Stellen und Sicherheitsbehörden, um durch Dialog, Transparenz und gegenseitiges Kennenlernen mögliche Hebel für Schlichtung, De-Eskalation und Prävention entwickeln zu können.

Doch, so betonen sowohl Polizeihauptkommissar Christian Horn sowie Ender Çetin, Vorstandsvorsitzender des Betreibervereins der Moschee, fehle es an hauptamtlichen Ansprechpartnern und Akteuren auf beiden Seiten: „Die Polizei braucht muslimische Seelsorger, die in Konflikt- bis hin zu Todesfällen psychologische Unterstützung leisten können und anerkannte Verantwortungsträger innerhalb der Polizeistrukturen sind“, unterstreicht Horn. „Auf Seiten der Moscheen fehlen in Deutschland ausgebildete Imame, die sowohl sprachlich als auch auf Basis ihres Verständnisses für die kulturellen und normativen Gegebenheiten in Deutschland als glaubwürdige Vertrauensperson in der Gemeinde aktiv sein können“, betont Çetin. „Eine körperschaftliche Anerkennung des Islam in Deutschland könnte in dieser Hinsicht ein wichtiger Schritt sein.“    

Nach wie vor schrecken viele muslimische Bewohner Neuköllns vor der Integration in als Begegnungsstätten wirkenden Moscheen zurück: „Angst vor einer gesellschaftlichen Stigmatisierung oder gar behördlichen Beobachtung könnten hierfür ein Grund sein“, erläutert Çetin. „Ob Muslime oder nicht: Alle Menschen brauchen eine Beschäftigung, Seelsorge und Gemeinschaften – die Gesellschaft und der Staat müssen hier Zugänge bieten. Sonst entstehen Parallelangebote. Im muslimischen Zusammenhang ist das die Chance für Radikale!“. 

Hauptgebäude und Minarett der Şehitlik-Moschee in Neukölln

Die Şehitlik-Moschee in Neukölln. Foto: BAKS

Engagement und Einsatz Einzelner müssen gestützt werden

Überzeugt von den Menschen, Skepsis mit Blick auf Strukturen – das Fazit des Kernseminars fiel nach einem spannenden Tag in Neukölln einstimmig aus: Das hohe Engagement aller in das Programm eingebundenen Gesprächspartner ist bemerkenswert. Von der besuchten Schule, über die Politik bis zu den Vertretern der Polizei und muslimischen Gemeinde beeindruckte der persönliche Einsatz und die menschliche Herangehensweise an die schwierigen Herausforderungen in Neukölln. Und so steht neben den höchst problematischen Strukturen von Clans, organisierter Kriminalität und radikalislamischer Einflüsse eine Vielzahl von durch Einzelpersonen und Gemeinschaften getragene Initiativen, die Tag für Tag Erfolge erarbeiten, zugleich aber auf Unterstützung von Behörden und in den Finanzen angewiesen sind.

Letztendlich hängt vieles von Menschen ab – doch Engagement und Einsatz dürfen nicht mit dem Rückzug staatlicher Verantwortung aus Problembereichen und mit einem Zurückschrecken vor politisch sicherlich brisanten Richtungsentscheidungen beantwortet werden. Neukölln zeigt, dass die Realitäten in Deutschland bereits geschaffen sind, und, dass diese durch die Migrationskrise möglicherweise auch noch verstärkt werden. Diese Realitäten müssen politisch anerkannt und angegangen werden.

Autor: Tomislav Delinic