Zwei Szenarien für das Jahr 2035 – Russlands Angriffskrieg und Europas Wehrhaftigkeit
Europa und Russland im Jahr 2035 – Russland hat seinen Einfluss in Europa massiv ausgeweitet, Bündnisse und Partnerschaften sind zerbrochen und damit ist Russland auf dem Vormarsch - oder es kommt ganz anders: Die europäisch-russischen Beziehungen sind von Systemkonkurrenz und gegenseitiger Abschreckung geprägt. Sarah Pagung zeichnet zwei mögliche Szenarien, wie sich die Lage in den nächsten zehn Jahren entwickeln könnte und was das für Europa und Russland bedeuten würde. Foto:Bundeswehr/Neumann
Szenario: Von der Krise zum Katalysator - Europas Weg zur Wehrhaftigkeit?
Eine tiefe wirtschaftliche und sicherheitspolitische Krise Mitte der 2020er markierte den Ausgangspunkt der Entwicklung bis 2023: Die Trump-Administration stellte 2026 ihre Militärhilfe für die Ukraine nach monatelangem Streit mit Kyiv fast vollständig ein. Zugleich hatte Trumps aggressiver Handelskurs eine globale Rezession ausgelöst, die Europa hart traf. Ungeachtet dieser Widrigkeiten baute Europa auf Initiative Deutschlands und Polens die militärische Unterstützung für die Ukraine mit Hilfe einer Rüstungsinitiative aus, um zumindest einen Teil der wegfallenden US-Unterstützung zu kompensieren. Die Ukraine konnte trotz weiterer russischer Gebietsgewinne in der Region Sumy standhalten. Kyivs Lage blieb jedoch prekär.
Russland blieb entschlossen, den europäischen Zusammenhalt in dieser vulnerablen Lage - eine globale Rezession und des Zwists im transatlantischen Verhältnis - zu erschüttern. 2027 provozierte Russland einen bewaffneten Zwischenfall mit unmarkierten Soldaten an der estnisch-russischen Grenze in Narva, um die NATO zu testen. Die USA stimmten zwar der Auslösung des Artikel 5 zu, verweigerten jedoch substantielle Unterstützung, da es „ein europäischer Konflikt“ sei. Als Reaktion auf die offensichtliche Verwundbarkeit und das Ausbleiben transatlantischer Rückendeckung formierte sich innerhalb Europas eine neue sicherheitspolitische Entschlossenheit, bei der Artikel 42.7 des EU-Vertrags aktiviert und Estland mit militärischem Equipment und Einsatztruppen unterstützt wurde. Die russischen Kräfte zogen sich daraufhin zurück.
Ab 2028 und angeführt vom Weimarer Dreieck und in enger Koordination mit dem Vereinigten Königreich investierten die europäischen Staaten massiv in ihre Verteidigung. Finanziert durch Eurobonds und flankiert von einem EU-Verteidigungsfonds konnten auch hochverschuldete Staaten ihre Fähigkeiten ausbauen. Deutschland und Frankreich stationierten eine dauerhafte gemeinsame Brigade in Estland – als Symbol europäischer Abschreckung. Diese Aufrüstung hatte jedoch einen Preis: Sie stärkte populistische Bewegungen in den EU-Staaten. Einige Mitglieder, darunter die Slowakei, Österreich und Italien, scherten daher aus dem verteidigungspolitischen Konsens aus und ließen eine EU der zwei Geschwindigkeiten entstehen. Auch die Mehrheiten in den verbleibenden Staaten - darunter Deutschland und Frankreich - blieben knapp und unter Druck.
Russland zeigt sich 2035 geschwächt. Die Front in der Ukraine blieb seit 2027 weitgehend stabil, auch wenn Russland ukrainische Städte weiter durch anhaltende Angriffe bedroht. Der Kreml kontrolliert große Teile der Ostukraine, ist jedoch nicht zu neuen durchschlagenden Offensiven in der Lage. Die Kriegswirtschaft, der niedrige Ölpreis in Folge der globalen Rezession und die zunehmende Ineffizienz des überalterten Machtsystems unter dem seit 35 Jahren regierenden Präsidenten Putin lähmen das Land. Das imperiale Trugbild verliert angesichts der verfahrenen Situation in der Ukraine an Legitimationskraft. Das Regime versucht diese Schwäche mit verstärkter Repression nach innen und aggressiver Machtrhetorik nach außen zu kompensieren.
Szenario: Europas Rückzug - Russlands Aufstieg?
Nach dem Rückzug der USA aus der Ukraine-Unterstützung 2026 – eingeleitet durch US-Präsident Donald Trump und fortgeführt vom nachfolgenden Präsidenten JD Vance – versuchte Europa die Lücke zu füllen, scheiterte jedoch. Wirtschaftlicher Druck infolge einer globalen Rezession und der Aufstieg rechtspopulistischer Kräfte hatte die europäische Handlungsfähigkeit gelähmt. Die deutsche Rüstungsinitiative 2025/2026 konnte angesichts hoher Verschuldungsraten und mangelnder Solidarität innerhalb der EU keine Sogwirkung auf dem Kontinent entfalten.
2026/2027 gelang es Moskau, weitere Teile der Ukraine zu besetzen, da die militärische Hilfe aus Europa geschrumpft und die finanzielle Unterstützung versiegt war. Präsident Volodymyr Selenskiy musste zurücktreten und Neuwahlen ansetzen. Die Wahlen gewann - unter erheblichem russischen Einfluss - ein gegenüber Moskau kompromissbereiter Kandidat. Noch im selben Jahr wurde ein Waffenstillstandsabkommen unterzeichnet, in dem die Ukraine die russische Annexion großer Landesteile anerkannte und einen NATO- und EU-Beitritt ausschloss.
Parallel setzte sich die außenpolitische Annäherung zwischen Russland und den USA fort. Europa war angesichts ökonomischer Schwäche, militärischer Unzulänglichkeiten und zunehmender interner Uneinigkeit machtlos. Moskau nutzte diesen Moment strategischer Überlegenheit. 2029 erfolgte ein überraschender Angriff auf Narva in Estland – erneut unter dem Vorwand des Schutzes russischsprachiger Minderheiten. Russland besetzte Teile des Nordosten Estlands. Die USA weigerten sich, den NATO-Bündnisfall auszulösen und beendete das US-amerikanische Engagement in Europa damit faktisch.
Gleichzeitig intensivierte Russland seine hybride Kriegsführung. Massive Cyberangriffe trafen wiederholt europäische Energie- sowie Verwaltungsinfrastruktur und unterbrachen Lieferketten. Zugleich griff Russland aktiv in die Bundestagswahl 2029 und die vorgezogenen Neuwahlen 2031 ein. Zwar konnte in beiden Fällen eine AfD-geführte Regierung verhindert werden, jedoch nur mit knappen Mehrheiten und schwachen Koalitionen. Die wirtschaftliche Lage blieb miserabel – Europa hatte sich von der Weltwirtschaftskrise nicht erholt, nationale Interessen dominierten, die EU war weitgehend gelähmt.
Nach den Wahlen 2031 bot Moskau eine „Normalisierung der Beziehungen“ an – allerdings zu einem hohen Preis: Aufhebung der Sanktionen, Wiederaufnahme von Energielieferungen zu hohen Preisen, sowie ein Ende jeder „Einmischung“ in der Ukraine, Moldau und dem Kaukasus. Deutschland und Frankreich nahmen in Folge massiven innenpolitischen Drucks die Gesprächsangebote an und spalteten damit die EU. Das russische Regime festigte dagegen das eigene Machtsystem durch die imperiale Expansion, die außenpolitischen Erfolge und den Geldsegen aufgrund der massiven Energieexporte nach Europa.
Das Denken in Szenarien zählt zum täglichen Handwerkszeug von Führungskräften in Politik, Behörden, Wirtschaft und Zivilgesellschaft – und zu den Methoden der Strategischen Vorausschau, wie sie die BAKS vermittelt. Anlässlich des zehnjährigen Bestehens des Arbeitskreises Junge Sicherheitspolitik haben wir zehn AKJS-Angehörige gebeten, zehn Jahre in die Zukunft zu blicken und zwei Szenarien zu entwerfen: Was wäre der sicherheitspolitische worst case? Und wie soll sich Deutschland stattdessen aufstellen, um als freiheitliche Demokratie in einem sicheren Europa zu bestehen? Ihre Einschätzungen und Empfehlungen erscheinen hier in loser Folge.