Zwei Szenarien für das Jahr 2035 – Die transatlantischen Beziehungen auf dem Prüfstand
Die enge Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten von Amerika gehört für die Bundesrepublik Deutschland zur außenpolitischen Identität. Präsident Donald Trump stellte jedoch das transatlantische Band grundsätzlich in Frage, was angesichts des russischen Kriegs in der Ukraine und der Bedrohung für Gesamteuropa ein existenzielles Problem ist. Denkt man zehn Jahre in die Zukunft, liegen das Best-Case-Szenario und das Worst-Case-Szenario weit auseinander. Sie eint, dass die Perspektiven der transatlantischen Partnerschaft von innen- und außenpolitischen Entwicklungen auf beiden Seiten des Atlantiks bestimmt werden dürften. Warum für Deutschland schwierigen Zeiten ins Haus stehen, beschreibt Dr. Gerlinde Groitls in zwei denkbaren Szenarien. Foto: Pixabay/Aline Dassel
Szenario: Handlungsfähiges Europa in einer modernisierten transatlantischen Allianz
Im besten Fall besteht die transatlantische Allianz im Jahr 2035 in revitalisierter Form. Die Welt um sie herum ist allerdings alles andere als friedlich: Der „neue Kalte Krieg“ mit Russland und China, die eine post-amerikanische, post-westliche Weltordnung erzwingen wollen, dauert an. Das neue Normal ist ein stetes Ringen um Macht, Einfluss und technologische Dominanz. Doch es ist den USA und Europa gelungen, ihre innenpolitische Dysfunktionalität zu überwinden, international zusammenzustehen und mit Abschreckung und Interessenausgleich eine Eskalation zu verhindern. Deutschland hatte seinen Anteil daran.
Alles muss sich ändern, damit alles bleibt, wie es ist, heißt es. Tatsächlich änderte sich bis 2035 innen- und außenpolitisch viel, und gerade deshalb hatte der Transatlantizismus Bestand. Europa fand zu einer neuen Balance zwischen der EU und den Einzelstaaten, die den Wert des Nationalstaats als Hort der Demokratie anerkannte. Zugleich wurde eine neue Kompromissfähigkeit der Mitte möglich. Die linke Seite des politischen Spektrums erkannte, dass der Aufschwung populistischer Anti-Parteien auch mit den eigenen Umgestaltungsambitionen von oben zu tun hatte. Liberale, christdemokratische und national-konservative Stimmen boten Gegenpositionen, was die politischen Debatten belebte und die schrillen Extreme einhegte.
In den USA übernahm 2029 eine Republikanerin die Präsidentschaft, die am Wohl der Nation orientierten „beschützenden Internationalismus“ ohne populistischen Exzess versprach. Außenpolitisch verabschiedeten sich Europa und die USA von der überholten und überambitionierten Vision einer liberalen internationalen Ordnung. Sie besannen sich auf den Schutz von pluralistischer Demokratie, Wohlstand und Freiheit als staatliche Kernaufgaben und loteten realistische Formen der Koexistenz mit Großmacht- und Systemrivalen aus. Es war ein Verdienst Deutschlands, diese Wende in Europa vorausgedacht und mehrheitsfähig gemacht zu haben.
Außenpolitisch erwies sich das Jahr 2025 als eine Zäsur. Erstens verstanden die Mitglieder von NATO und EU damals, dass der Ausgang des Kriegs in der Ukraine die Zukunft beider Institutionen definieren und ein Scheitern katastrophale Konsequenzen haben würde. Deutschland, Frankreich, Polen und das Vereinigten Königreich betrieben eine unermüdliche Shuttle-Diplomatie, um die USA an Bord zu halten und der Ukraine zu helfen, den von Russland aufgezwungenen Krieg zu beenden. Gerecht war es nicht, dass Teile des Landes besetzt blieben und Moskau (zunächst) nicht zur Rechenschaft gezogen wurde. Doch es war der Preis für die transatlantischen Sicherheitsgarantien, die dem freien Teil der Ukraine das Überleben sicherten. Zweitens gestanden sich die Europäer endlich ein, wie abhängig sie von den USA waren, und bauten ihre Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeiten nach dem NATO-Gipfel 2025 ernsthaft im Eiltempo aus. Mit innen- und außenpolitischem Pragmatismus und europäischer Selbstertüchtigung gelang die Revitalisierung der transatlantischen Allianz bis 2035.
Szenario: Krieg mit Russland und Kollaps der NATO
Im schlimmsten Fall könnte sich im Jahr 2035 ein Rumpfeuropa der Willigen ohne Beistand der USA in einem leidlich eingefrorenen Konflikt mit Russland befinden. Unter dem Vorwand, Norwegen betreibe vertragsbrüchig eine Militarisierung Spitzbergens und bedrohe die dort lebenden Russen, brach Moskau im Sommer 2029 einen Krieg vom Zaun. Die EU war uneins, wie dem Nicht-Mitglied Norwegen geholfen werden sollte. Die NATO kollabierte, weil die Ausrufung des Bündnisfalls politisch scheiterte. Eine transatlantische Angelegenheit war Europas Sicherheit da ohnehin nicht mehr, was die europäische Uneinigkeit miterklärt. Nach Donald Trumps Amtsantritt 2025 hatten die Partner mit Schmeicheleien und dem 5-Prozent-Ziel für die Verteidigungsausgaben die Allianz retten wollen. Doch die Trump-Administration sah es nicht als die Aufgabe der USA an, Europas Sicherheit zu garantieren, und begriff Russland als potenziellen Partner.
Das verdichtete sich bald zu einer neuen Weltordnungsvision. Die USA, so die 2027 vorgelegte Nationale Sicherheitsstrategie, würden eine Politik der „Freedom for Greatness“ verfolgen. Im Inneren sollte den Resten links-woker Ideologie der Garaus gemacht werden, international wollten die USA eine Entflechtung, westfälische Souveränitätsnormen und ein neues Großmachtkonzert vorantreiben. Russlands und Chinas Ansprüche auf exklusive Einflusszonen waren hier partiell anschlussfähig. Den Austritt aus der NATO erklärte zwar erst J.D. Vance nach seinem Einzug ins Weiße Haus im Januar 2029, doch es war nur noch eine Formalie.
Der Anfang vom Ende der transatlantischen Partnerschaft war Russlands Krieg gegen die Ukraine. Die USA stellten 2025 die Ukrainehilfe ein, da Trump bei Wladimir Putin Friedenswillen zu erkennen glaubte, aber der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj einen „Deal“ mit Gebietsabtretungen und vagen Sicherheitsversprechen nicht akzeptieren wollte. Da die Europäer die weitere Unterstützung der Ukraine beschworen, bezeichnete Trump sie fortan als die größte Bedrohung für die amerikanische Sicherheit und den Weltfrieden. Deren Hilfe blieb letztlich weit hinter den Solidaritätsbekundungen zurück.
Deutschland spielte eine unrühmliche Rolle: Berlin gerierte sich als Anwalt Kiews, ohne die machtpolitischen Grenzen des Möglichen anzuerkennen, Ziele und Mittel strategisch zu verknüpfen oder Sicherheitsgarantien einlösen zu wollen. Nach verlustreichen Rückzugsgefechten fiel die freie Ukraine 2027. In der NATO und der EU folgten toxische Schuldzuweisungen. Die einen machten die USA, die anderen Berlin, Paris und Brüssel verantwortlich. Auch innenpolitisch eskalierte der Streit. Die USA schrieben die Europäer als politisch unzurechnungsfähige Schwächlinge ab. Tatsächlich verfehlte Europa sogar die eigenen Verteidigungsziele noch immer. Nach der Bundestagswahl 2029 stand Deutschland gar am Rande der Regierungsunfähigkeit. Für Russland boten diese Entwicklungen eine goldene Gelegenheit, die EU und die NATO als politische Widersacher zu erledigen.
Das Denken in Szenarien zählt zum täglichen Handwerkszeug von Führungskräften in Politik, Behörden, Wirtschaft und Zivilgesellschaft – und zu den Methoden der Strategischen Vorausschau, wie sie die BAKS vermittelt. Anlässlich des zehnjährigen Bestehens des Arbeitskreises Junge Sicherheitspolitik haben wir zehn AKJS-Angehörige gebeten, zehn Jahre in die Zukunft zu blicken und zwei Szenarien zu entwerfen: Was wäre der sicherheitspolitische worst case? Und wie soll sich Deutschland stattdessen aufstellen, um als freiheitliche Demokratie in einem sicheren Europa zu bestehen? Ihre Einschätzungen und Empfehlungen erscheinen hier in loser Folge.