Zwei Szenarien für das Jahr 2035 – Die Rolle der NATO als globaler Sicherheitsakteur
Gelingt es Deutschland gemeinsamen mit den europäischen Partnern einen substantiellen Beitrag zur Stärkung der NATO zu leisten und damit auch zur Bereitschaft der USA beizutragen, am Bündnis festzuhalten? Oder scheitert die Allianz an fehlendem Zusammenhalt und mangelndem politischen Willen, in die gemeinsame Sicherheit zu investieren? Julia Hammelehle zeigt in zwei Zukunftsbildern, wie eine gestärkte NATO in der Zukunft aussehen könnte oder wie sie zum Schatten ihrer selbst wird. Foto: NATO
Szenario: Die Allianz auf einem gestärkten europäischen Fundament
Beim NATO-Gipfel 2035 ist die Stimmung angespannt, aber nicht panisch. Die Bedrohungen durch Russland und China bleiben hoch. Multiple Krisen prägen das internationale Umfeld. Die Gipfelstatements spiegeln diese Bedrohungslage und zeigen zugleich eine Allianz, die militärisch stärker und politisch geeinter aufgestellt ist.
Die Global Force Posture Review der USA im Frühjahr 2026 bestätigte die Reduzierung der US-Präsenz in Europa. Die Abkehr der USA vom Kontinent betraf auch die Ukraine. Unter Druck der US-Regierung hatte Kyjiw einem Waffenstillstand mit Moskau zugestimmt. Nach diplomatischen Charmeoffensiven, vorangetrieben von den E5, gelang es zwar, Unterstützungszusagen der USA für die Ukraine und die europäischen Alliierten im russischen Angriffsfall zu erzielen. Der Handlungsdruck war nun aber endgültig in den europäischen Hauptstädten angekommen.
Trotz enger fiskalischer Spielräume erhöhten die europäischen NATO-Mitglieder ihre Verteidigungsausgaben substanziell und übersetzten diese in stärkere militärische Fähigkeiten. Entscheidend war das gemeinsame deutsch-französische Vorangehen. Nach dem Überraschungssieg Raphaël Glucksmanns bei den Wahlen in Frankreich 2027 setzen sich Berlin und Paris an die Spitze einer deutlich vertieften Verteidigungsunion. Deutschland drängte erfolgreich auf eine enge Verzahnung der EU-NATO-Verzahnung, initiierte Schritte zu einer Europäisierung der NATO-Kommandostruktur und war die treibende Kraft hinter einer stärkeren Unterstützung der Ukraine.
Mit den Wahlen in den USA 2028 rückten Europa und die USA wieder näher zusammen. Auch unter dem neuen demokratischen Präsidenten Josh Shapiro änderte sich die geostrategische Ausrichtung der USA zwar nicht. Die US-Zusage, den Alliierten im Angriffsfall beizustehen, erfuhr jedoch eine neue Glaubwürdigkeit und die politische Koordination wurde vertieft.
Der Test folgte im Frühjahr 2029 an zwei Fronten zugleich. Nach Anzeichen eines geplanten Angriffs Chinas auf Taiwan verstärkten die USA ihre Präsenz im Indo-Pazifik. Die Abstimmung innerhalb der NATO erfolgte engmaschig und unter Lagebildaustausch mit Australien, Japan und Südkorea. Die militärische Abschreckung durch die USA wurde von der Androhung massiver EU-Sanktionen begleitet. Der militärische Beitrag Europas bestand aus einer Verstärkung durch die britische und französische Marine.
Zeitgleich verschärfte sich die Bedrohung durch Moskau: Russland flog wieder Angriffe auf die Ukraine, und russische Truppenverlagerungen schürten Befürchtungen eines Angriffs auf das Baltikum. Die massiven Investitionen der Vorjahre zahlten sich nun aus. Die Ukraine konnte die Angriffe weitgehend abwehren, und die schnelle Mobilisierung europäischer Truppen an der Ostflanke zusammen mit dem US-Rückhalt erfüllten ihre Abschreckungswirkung. So brachte das Krisenjahr 2029 die Allianz zwar an ihre Grenzen, aber nicht zu Fall. Denn der NATO gelang es, durch stärkere Verantwortungsteilung ihren Wert für die transatlantische Sicherheit zu unterstrichen.
Szenario: Die NATO als Schatten ihrer selbst
Der NATO-Gipfel 2035 endet als Randnotiz in den internationalen Nachrichten. Die versammelten Verteidigungsministerinnen und -minister formulieren zwar die Absicht, militärische Kooperation fortzusetzen. Konkrete Zusagen bleiben aber aus. Politische Formellösungen verschleiern die tiefgreifenden Differenzen der Mitglieder. Das Abschlusscommuniqué spiegelt eine Allianz wider, die politisch wie militärisch in ihre Einzelteile zerfallen ist.
„How did you go bankrupt? Two ways. Gradually, then suddenly,“ schrieb Ernest Hemingway. So erfolgte der Zerfall. Schnell wurde deutlich, dass die europäischen Zusagen zum 5-Prozent-Ziel der NATO größtenteils leere Versprechen waren. Im Aufbau militärischer Fähigkeiten sowie industrieller und personeller Kapazitäten blieben die Europäer, einschließlich Deutschlands, weit hinter den Zielen zurück. Chinesische Exportrestriktionen auf kritische Rohstoffe trafen die europäische Rüstungsindustrie empfindlich. Nationale Egoismen verhinderten eine Vertiefung des EU-Verteidigungsmarkts und eine gemeinsame Beschaffung von Schlüsselfähigkeiten. Die neue Regierung in Frankreich, geführt vom Rassemblement National, versetzte Großprojekten wie FCAS und MGCS den Todesstoß.
Die USA reduzierten im Frühjahr 2026 ihre militärische Präsenz in Europa deutlich und wandten sich endgültig von der Ukraine ab. Europa war es nicht gelungen, eine Rolle in den Gesprächen zu einem Waffenstillstand zwischen Kyjiw und Moskau zu spielen. Der „greatest deal ever“ erfolgte auf US-Druck und zwang die Ukraine zu Gebietsabtretungen.
In Ermangelung von sowohl politischem Willen als auch materiellen Fähigkeiten verstummten die vereinzelten Rufe nach europäischen Truppenstationierungen zur Absicherung der Ukraine schnell. Stattdessen sollten die ukrainischen Streitkräfte gestärkt werden. Zeitgleich konfrontiert mit der Aufgabe, den US-Rückzug aus Europa abzufedern und die Lücken in der Verteidigungsfähigkeit zu schließen, blieb auch diese Unterstützung mager.
Dies sollte sich zwei Jahre später rächen. Russland hatte die Zeit zur Regeneration genutzt und griff im Frühjahr 2028 erneut die Ukraine an. Zeitgleich intensivierte Moskau seine Verletzungen des NATO-Luftraums, zog Kräfte vor dem Baltikum zusammen und griff die europäischen Gesellschaften mit massiven hybriden Attacken an. Europa scheiterte politisch wie militärisch an einer gemeinsamen Antwort. Eine Führungsrolle Berlins blieb aus. 2029 folgte ein Angriff Russlands auf die estnische Grenzstadt Narva. Zwar stimmte Washington dem Ausrufen des NATO-Bündnisfalls zu, doch zogen sich die USA unter dem neuen Präsidenten JD Vance auf begrenzte logistische Unterstützung zurück. Den Europäern gelang es nicht, ausreichend Truppen zu mobilisieren, um einen Rückzug Moskaus zu erzwingen. Die transatlantische Sicherheit war teilbar geworden und das Versprechen der NATO – „einer für alle, alle für einen“ – gebrochen.
Das Denken in Szenarien zählt zum täglichen Handwerkszeug von Führungskräften in Politik, Behörden, Wirtschaft und Zivilgesellschaft – und zu den Methoden der Strategischen Vorausschau, wie sie die BAKS vermittelt. Anlässlich des zehnjährigen Bestehens des Arbeitskreises Junge Sicherheitspolitik haben wir zehn AKJS-Angehörige gebeten, zehn Jahre in die Zukunft zu blicken und zwei Szenarien zu entwerfen: Was wäre der sicherheitspolitische worst case? Und wie soll sich Deutschland stattdessen aufstellen, um als freiheitliche Demokratie in einem sicheren Europa zu bestehen? Ihre Einschätzungen und Empfehlungen erscheinen hier in loser Folge.
