Zwei Szenarien für das Jahr 2035 – Deutschlands sicherheitspolitische Rolle im Weltraum
Spätestens seit Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine ist die sicherheitspolitische Bedeutung des Weltraums in der politischen Debatte angekommen. Doch wie stellt sich Deutschland für diese so dynamische wie komplexe Dimension auf? Andrea Rotter arbeitet in zwei Szenarien heraus, wie die Bundesrepublik 2035 im All abgehängt werden und in eine völlige Abhängigkeit driften könnte - oder wie Deutschland als etablierter Raumfahrtakteur seinen Wohlstand in Freiheit sichern und gefragter Partner in Europa sein könnte. Foto: ESA/CNES Arianespace, S. Martin
Szenario: Deutschland geht die strategische Bedeutung des Weltraums proaktiv an
Im Jahr 2035 ist Deutschland als relevanter und verantwortungsvoller Akteur im Weltraum etabliert. Die Erfahrungen aus Russlands Angriffskrieg und orbitaler Aufrüstung haben in Gesellschaft und Politik das Bewusstsein für die sicherheits-, wirtschafts- und gesellschaftspolitische Relevanz des Weltraums geschärft und frühzeitig für Verwundbarkeiten und Abhängigkeiten, insbesondere von externen privatwirtschaftlichen Akteuren, sensibilisiert.
Die aktualisierte Weltraumsicherheitsstrategie vermittelt eine realistische Bedrohungsanalyse und bildet die Grundlage für die Entscheidungsfindung des 2030 etablierten Nationalen Weltraumrats, der alle relevanten staatlichen, wissenschaftlichen und privatwirtschaftlichen Akteure vernetzt und ein gesamtstaatlich abgestimmtes Vorgehen sicherstellt.
Die ab 2025 eingesetzten 35 Milliarden Euro für den Fähigkeitsausbau der Streitkräfte im Weltraum schufen die Basis für den Ausbau und die Härtung der deutschen Weltraumsicherheitsarchitektur gegen Counterspace-Bedrohungen. 2035 verfügt die Bundeswehr über moderne Satellitenkommunikations- und Aufklärungssysteme, die eine präzise Lageerfassung und -beurteilung ermöglichen. Im Weltraumkommando in Uedem betreibt die Bundeswehr ein Betriebszentrum für militärische Satelliten, das die Durchführung defensiver und, falls notwendig, offensiver Operationen zum Schutz der umfassend als KRITIS eingestuften Weltrauminfrastruktur steuert.
Wichtige Erfolgsfaktoren für die weltraumgerechte Ausstattung der Bundeswehr sind an Innovations- und Entwicklungszyklen angepasste Beschaffungsprozesse, verlässliche Launch- und Transportkapazitäten durch Micro Launcher, eine eigene Startplattform in der Nordsee sowie eine europäische Startkapazität, die dem Responsive Space-Ansatz gerecht werden, um zur Resilienz Deutschlands und Europas beizutragen. Ebenso entscheidend ist das international wettbewerbsfähige Raumfahrt- und NewSpace-Ökosystem, das eine fähigkeitsorientierte Dual-Use-Forschung und zivil-militärische Zusammenarbeit fördert. Das 2029 verabschiedete Weltraumgesetz schafft dazu einen klaren und überraschend unbürokratischen Rechtsrahmen für eine nachhaltige Nutzung.
International ist Deutschland als verlässlicher und fähiger Partner gefragt. Auf europäischer Ebene hat Deutschland gemeinsam mit Frankreich maßgeblich an der erfolgreichen Realisierung des europäischen SATCOM-Systems IRIS² mitgewirkt, das Europas Abhängigkeit von kommerziellen Megakonstellationen wie Starlink deutlich reduziert. Trotz nennenswerter Fortschritte bei der Stärkung der technologischen Souveränität Europas arbeitet Deutschland eng mit den USA zusammen, um mit der NATO und innerhalb weiterer multilateraler Initiativen die Resilienz und Verteidigungsfähigkeit gegen die orbitalen Aktivitäten Chinas und Russlands zu stärken. Dabei gelingt es zugleich, die Prinzipien und Normen verantwortungsvoller Weltraumnutzung aufrechtzuerhalten.
Szenario: Deutschland verfällt in alte Muster
Im Jahr 2035 ist Deutschland gemeinsam mit Europa deutlich ins weltraumpolitische Hintertreffen geraten. Trotz ambitionierter Absichtsbekundungen Mitte der 2020er Jahre, Deutschlands Rolle in der Weltraumsicherheitspolitik zu stärken, um sich als ernstzunehmender Akteur in einer geopolitisch umkämpften Dimension zu positionieren, wurde die sicherheitspolitische und strategische Bedeutung des Weltraums nicht in konkrete Politik überführt.
Zwar versuchte die 2026 vorgestellte Weltraumsicherheitsstrategie, strategische Ziele und Leitlinien für deutsches Handeln zu definieren, doch scheiterte ihre Umsetzung in den Folgejahren an unzureichenden Finanzmitteln und Kompetenzstreitigkeiten zwischen den Ressorts in Berlin. Anstatt die Bundeswehr zur Durchführung ihrer Dauereinsatzaufgabe Weltraum mit den notwendigen Fähigkeiten in den Bereichen Satellitenkommunikation, Aufklärung und Weltraumoperationen auszustatten, überschattete eine emotionalisierte Debatte über die Notwendigkeit kostspieliger Weltraumsysteme und möglicher offensiver Fähigkeiten die Debatte in Politik und Medien.
Der deutsche Raumfahrt- und NewSpace-Sektor verlor in der Folge deutlich an internationaler Wettbewerbsfähigkeit, da staatliche Aufträge sowie eine start-up- und dual-use-freundliche Innovationspolitik ausblieben. Wie in anderen Bereichen behinderten veraltete Beschaffungsvorgaben und hohe bürokratische Hürden die zivil-militärische Fähigkeitsentwicklung und schreckten private Investoren ab. Anstatt eigene souveräne Weltraumfähigkeiten zu entwickeln, setzte die Politik zunehmend auf den Ankauf amerikanischer Systeme, was die Abwärtsspirale der deutschen Raumfahrtindustrie beschleunigte. Dies führte zu Abwanderungen, Insolvenzen und Übernahmen deutscher Unternehmen durch ausländische Investoren – und damit zum Verlust entscheidenden Know-hows. Darunter litt auch die Härtung der bestehenden Fähigkeiten gegen Counterspace-Bedrohungen im Cyber- und elektromagnetischen Bereich. Deutschlands kritische Weltrauminfrastruktur ist dadurch 2035 besonders verwundbar.
Auf europäischer Ebene lähmten anhaltende deutsch-französische Differenzen den Fähigkeits- und Industrieausbau und verstärkten damit Europas technologische Abhängigkeit von den USA. Die zweite Vance-Administration, primär auf das sich zuspitzende Space Race mit China fokussiert, nutzte die Abhängigkeit Europas angesichts der fortwährenden Bedrohung durch Russland, um den Einfluss amerikanischer kommerzieller Weltraumakteure offensiv voranzutreiben.
Technologisch abgehängt und ohne internationales Gewicht beobachtet Berlin derweil mit Sorge die zunehmende Proliferation von Counterspace-Fähigkeiten. Am 10. Oktober 2035 verliert das Weltraumkommando der Bundeswehr den Kontakt zu seinen Satelliten – kurz zuvor wurde ein Anstieg radioaktiver Strahlung im erdnahen Orbit registriert.
Das Denken in Szenarien zählt zum täglichen Handwerkszeug von Führungskräften in Politik, Behörden, Wirtschaft und Zivilgesellschaft – und zu den Methoden der Strategischen Vorausschau, wie sie die BAKS vermittelt. Anlässlich des zehnjährigen Bestehens des Arbeitskreises Junge Sicherheitspolitik haben wir zehn AKJS-Angehörige gebeten, zehn Jahre in die Zukunft zu blicken und zwei Szenarien zu entwerfen: Was wäre der sicherheitspolitische worst case? Und wie soll sich Deutschland stattdessen aufstellen, um als freiheitliche Demokratie in einem sicheren Europa zu bestehen? Ihre Einschätzungen und Empfehlungen erscheinen hier in loser Folge.
