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Der Westen im Nahen Osten: Eine realistische Analyse und politische Prioritäten für eine Region mit strukturell unlösbaren Problemen

25/2016
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Seit Napoleon kennen die Westmächte die Bedeutung des Nahen Ostens und engagieren sich in der Region. Doch warum konnten sie bestenfalls kurze Abschnitte stagnierender und oberflächlicher Stabilität erreichen? Warum sind die in der Region heimischen arabischen Gesellschaften immer daran gescheitert, die Herausforderungen der Moderne zu meistern, selbst mit intensiver Unterstützung durch Mächte, die einst große Hoffnungen für die Region hatten? Warum ist das Modernitätsdefizit heute größer denn je? Was ist es, das der Westen in Bezug auf die Realitäten in diesem Teil der Welt beständig missversteht und verkennt? Welche kulturell bedingten Hindernisse in der abendländischen Kultur und Weltanschauung könnten diese analytischen Unzulänglichkeiten erklären? Wann und warum ist das westliche Engagement gescheitert? Wo gab es Erfolge? Welche großen Pläne sollten verworfen werden? Welche wichtigen Ziele können erreicht werden?

Wenn man nach Lösungen sucht, darf man nicht in den Nahen Osten gehen. Die Region hat gravierende Probleme. In manchen Fällen können gefährliche Ausbrüche durch wichtige gesellschaftliche Reformen oder politische Lösungen verhindert oder hinausgezögert werden. Ein Großteil der zugrunde liegenden strukturellen Dilemmata ist jedoch nicht, wie andernorts bei funktionierenden Nationalstaaten, nur politischer, gesellschaftlicher und ökonomischer Natur. Das Ausmaß der Probleme in der gesamten Region, in der Gesellschaften zusammenbrechen und Staaten zerfallen, legt die Vermutung nahe, dass etwas Grundsätzliches nicht richtig funktioniert. Hier geht es nicht nur um die naheliegenden Beispiele Irak, Syrien, Jemen und Libyen. Andere politische und gesellschaftliche Strukturen halten sich nur mühsam und könnten leicht die nächsten sein. Und was am schlimmsten ist: Dutzende Millionen junger Menschen ringen um eine Zukunft, frustriert von immer dunkler werdenden Wolken am Horizont, und Millionen geben ganz auf und verlassen die Region auf der Suche nach einem besseren Leben jenseits ihrer kulturellen Heimat. Dieses düstere Bild spiegelt eine wachsende Erkenntnis im Diskurs innerhalb des Nahen Ostens wieder, die sich nach dem monumentalen Scheitern des "Arabischen Frühlings" an einer Besserung des bereits zu Beginn des neuen Jahrtausends hoffnungslosen Zustands der meisten arabischen Gesellschaften eingestellt hat.

Die betroffenen Gesellschaften und Staaten unterscheiden sich dabei erheblich. Manche sind durch Öl reich geworden (wie Irak, Libyen und Algerien), manche sind arm (wie Jemen oder Südsudan); einige sind ehemalige Kolonien (wie Syrien oder Libanon), andere waren nie unter kolonialer Herrschaft (wie Saudi-Arabien); manche leb(t)en unter Besatzung (wie die Palästinenser oder der Irak), manche sind seit Generationen unabhängig (die Mehrheit der arabischen Staaten); einige Regime zerbrachen im Arabischen Frühling (Syrien, Ägypten, Jemen, Libyen usw.), andere nicht (Algerien, Jordanien). Einige sind besser gestellt und haben eine relativ gute Chance, die gegenwärtige Krise zu überstehen (Marokko, Jordanien, Tunesien, die Golfstaaten), wohingegen sich andere (Syrien, Irak, Libyen und Jemen) in einem katastrophalen Zustand befinden. Einige können überleben, indem sie mit ihren Öl-Millionen soziale und politische Wogen glätten (Saudi-Arabien, Golfstaaten), oder dank eines traditionell legitimierten, monarchischen Regimes (Marokko, Jordanien, Saudi-Arabien, Golfstaaten).

Der einzige gemeinsame Nenner dieser scheiternden oder sich mühsam haltenden Strukturen ist die arabische politische Kultur. Für arabische Gesellschaften ist es entsetzlich schwer, wenn nicht gar unmöglich, die Herausforderungen des 21. (oft selbst die des 20.) Jahrhunderts zu meistern. Selbst Tunesien, möglicherweise die einzige Ausnahme vom Scheitern des arabischen Frühlings, hat in dieser Hinsicht große Schwierigkeiten.

Aussicht auf Veränderung

Diese zutiefst prekäre Lage kann effektiv nur durch eine maßgebliche Transformation der arabischen politischen Kultur verändert werden. Diese Transformation kann nur von arabischen Kräften vor Ort ausgehen und getragen werden. Eines Tages mag das möglich sein. Die Transformation wird in weiten Teilen der Region als erstrebenswert, wenn nicht gar als unerlässlich angesehen. Sie scheint jedoch nicht gerade bevorzustehen. Während man in der breiten Masse der arabischen Gesellschaften das Produkt der Moderne, nämlich den westlichen Lebensstil, haben will, ist man nicht willens, den Preis dafür zu bezahlen: die Entwicklung zu einer pluralistischen Gesellschaft.

Die politische Kultur kann sich natürlich in muslimischen Gesellschaften ebenso ändern wie in anderen. In der Türkei geschah dies im Laufe von 70 Jahren zweimal: einmal bei der Modernisierung durch Atatürk und dann bei der versuchten Gegenrevolution von Erdogan. Es gibt jedoch keine Garantie dafür, dass der Wandel in die gewünschte Richtung geht. Die herausragendsten Veränderungen im Nahen Osten während des vergangenen Jahrhunderts gingen in den 50er und 60er Jahren in Richtung Militärdiktatur und seit den 80er Jahren in Richtung Islamismus. Das gesellschaftliche und politische Produkt bestand in Demontage und Zerfall direkt nach dem Arabischen Frühling. Mit einigen geringfügigen Ausnahmen (insbesondere Tunesien) sind in der Region nicht einmal Ansätze eines nachhaltigen Wandels in Richtung Pluralismus und Demokratie erkennbar. Sofern diese überhaupt jemals entstehen – und bestehen bleiben – wird es Jahrzehnte dauern, bevor sie die ersten Früchte tragen, und Generationen, bis die neuen Strukturen institutionalisiert werden.

Selbst im besten Fall eines positiven und nachhaltigen Wandels werden die Jungen nicht für Jahrzehnte und sicherlich nicht für Generationen in Elend und Frustration ausharren und auf brauchbare Lösungen warten wollen. Man kann nicht erwarten, dass sie diesen Prozessen die Zeit lassen zu reifen. Teil der bestehenden Kultur ist ein extrem hoher Grad an gesellschaftlicher Gewalt im Inneren. Diese droht, kurzfristig die Prozesse der Pluralisierung, die auf lange und mittlere Sicht die einzige Hoffnung für die Region darstellen, zu untergraben. Gescheiterte Gesellschaften und Staaten sind nicht notwendigerweise eine Übergangsphase. Einige große arabische Staaten haben sich bereits als Vollmitglieder in diesem berüchtigten Club eingerichtet.

Die Fallstricke westlichen Engagements – vier amerikanische Präsidenten

Unter diesen Umständen hat das Engagement des Westens in regionalen Angelegenheiten selten dazu beigetragen, die hoffnungslosen Zustände in der Region zu verbessern. Hierfür gibt es im Wesentlichen zwei Gründe: Erstens ist es unmöglich, Gesellschaften zu helfen, die sich weigern, die notwendige "Medizin" zu nehmen, um sich selbst zu helfen. Zweitens ist eine effektive Hilfe extrem schwierig, wenn die westliche Macht unfähig oder nicht willig ist, die realistischen Entscheidungen und politischen Mechanismen der Region zu verstehen. Dem Scheitern der meisten Interventionen liegt ein in der westlichen Kultur begründetes Hindernis zugrunde: Es ist nahezu unbegreiflich, politisch nicht zulässig und außerdem verwerflich, auch nur mit dem Gedanken zu spielen, dass die den arabischen Nahen Osten dominierende politische Kultur grundsätzlich anders sein könnte als die des Westens. Noch schwerer ist es zu akzeptieren, dass sich diese politische Kultur möglicherweise nicht, mutatis-mutandis, in die westliche (angeblich "universelle") Richtung entwickelt. Davon auszugehen wird mehrheitlich nicht nur als hoffnungsloser Pessimismus betrachtet, sondern üblicherweise auch als Rassismus.

Die meisten westlichen Interventionen in der Region sind in Bezug auf ihre erhofften Ziele gescheitert, sowohl bei der Stärkung der westlichen Macht in der Region als auch bei der Verbesserung der Lebensumstände der Bevölkerung vor Ort. In manchen Fällen, nachdem man die Unangebrachtheit der westlichen Politik erkannt hatte, konnten korrigierende Maßnahmen in die entgegengesetzte Richtung das Scheitern der ersten Schritte teilweise wieder wettmachen.

Präsident Eisenhower wollte mit der aufstrebenden, dynamischen Führung des post-kolonialen Nahen Ostens eine neue Allianz eingehen. Um dem ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser zu beweisen, dass es sich bei der von den Amerikanern unterstützten regionalen Allianz gegen die sowjetischen Ambitionen nicht um eine neo-koloniale Verschwörung handelte um die Herrschaft über den Nahen Osten zu erlangen, fiel Eisenhower 1956 seinen engsten und wichtigsten Verbündeten in der NATO in den Rücken, die am Suezkanal Nassers Radikalismus bekämpfen wollten. Als Ergebnis dieses schweren Fehlers präsentierte Nasser seine weltpolitische Stellung so, dass ihn die USA bei seinem Krieg gegen Amerikas Verbündete unterstützen musste, obwohl er dabei war, die wichtigsten strategischen Interessen des Westens im Nahen Osten zu sabotieren und die Sowjetunion in das Herz der Region holte. Folglich wurde er zum ultimativen messianischen Führer aller Araber, zum prominentesten "blockfreien" Feind der amerikanischen Politik und somit zum auf diesem Gebiet größten Vermögenswert sowjetischer Politik. Dieser Umstand verfolgte die Vereinigten Staaten und gefährdete proamerikanische Regime über anderthalb Jahrzehnte hinweg. Erst als das wichtigste proamerikanische arabische Regime im Irak zusammenbrach, brachte Eisenhower seine Doktrin zur Anwendung und rettete die prowestlichen Regime im Libanon und in Jordanien.

Nach der einzigartig erfolgreichen Nixon-Kissinger-Kampagne zur Verdrängung der Sowjets und Vorbereitung einer amerikanischen Hegemonie im Nahen Osten ließ sich Präsident Jimmy Carter eine noch viel beeindruckendere Vision für einen "umfassenden" Frieden in der gesamten Region einfallen. Im Unterschied zu dem zurückhaltenden Ansatz von Kissinger, der sich auf das wichtigste arabische Land konzentrierte und erkannte, dass Ägypten reif für ein eigenes Abkommen war, brachte Carter die Sowjets zurück ins Spiel. Auch war er im Begriff, durch eine Beteiligung Syriens und der Palästinensischen Befreiunngsorganistaion (PLO) die Vetomacht der Radikalen wiederherzustellen. Ohne den Mut des damaligen ägyptischen Staatspräsidenten Sadat hätte dies den dreifachen Gewinn für Amerika, Israel und Ägypten am Ende des Krieges 1973 auf Kosten Russlands und der arabischen Radikalen zunichte gemacht. Sadat rettete das Abkommen, indem er Israel de facto einen separaten Friedensvertrag anbot in dem Wissen, dass selbst ein fehlgeleiteter Amtsinhaber im Weißen Haus nicht den riesigen Spatz in der Hand zugunsten der imaginären Taube auf dem Dach ablehnen würde. Erst nachdem seine erste Strategie in einer Sackgasse gemündet war, engagierte sich Carter mit voller Energie und leistete einen wichtigen Beitrag zum Abschluss des bilateralen israelisch-ägyptischen Friedensvertrags.

Nach dem Trauma des 11. September 2001 war Präsident George W. Bush entschlossen, nicht nur Saddam Husseins Regime und Macht zu zerstören, sondern auch dem Irak die Demokratie zu bringen. Nachdem das militärische Ziel erreicht war, verblieben die amerikanischen Streitkräfte noch endlos lange im Irak, um ein freigewähltes politisches System zu etablieren, das, dominiert von einer schiitischen Mehrheit, in der Region Schule machen würde. Das unvermeidliche Scheitern trug zum Zerfall des Iraks bei, zum Erstarken des IS, zu einem unvorstellbar blutigen Bürgerkrieg und zu einem Prozess, der zu einem iranischen Einmarsch führen könnte. An einer anderen, teilweise damit in Zusammenhang stehenden Front (Massenvernichtungswaffen) konnte sich Bush nur teilweise rehabilitieren, indem er einen israelischen Angriff unterstützte, der das Nuklearprogramm des syrischen Militärs vernichtete.

Den ersten Platz in westlichem Verkennen der Realitäten im Nahen Osten und Verfolgen kontraproduktiver politischer Strategien belegt jedoch zweifellos Präsident Barack Obama. Die radikalen Feinde und Gegner der Vereinigten Staaten – vom Iran über das Assad-Regime bis Russland – profitieren von seiner Regionalpolitik, während Amerikas Verbündete – Ägypten, Saudi-Arabien, Jordanien, Israel und die Kurden – alle zutiefst besorgt sind angesichts der amerikanischen Fehlwahrnehmungen und Schwäche. Das schwerwiegendste, wichtigste und vielleicht am Ende katastrophale Fehlurteil betraf Ägypten. Als Hosni Mubarak innenpolitisch unter Beschuss geriet, unternahm Obama nicht einmal den Versuch, ihm beizustehen. Unabhängig davon, ob es dem angeschlagenen und diskreditierten Präsidenten geholfen hätte – in einem Nahost-Regime ist der ultimative Test der Glaubwürdigkeit einer Allianz ihr Erhalt.

Der größte Fehler aber war die Legitimation des Regimes der Muslimbrüderschaft, das zuerst gewählt worden war, und das Ignorieren der Machtergreifung Sisis dank massiver Unterstützung der gegen die Muslimbrüder gerichteten Eliten und der Öffentlichkeit. Ägypten ist der wichtigste arabische Staat und das Herzstück einer relativen Stabilität in der Region. Nach vier Jahrzehnten einer durch Ägypten ermöglichten Pax Americana, die auch einen Krieg mit Israel verhinderte, erinnert die Duldung einer Übernahme durch eine radikale Bewegung, die die gesamte Region ins Chaos hätte stürzen können, an Eisenhower, der hoffte, dass die Vereinigten Staaten Teil einer vermeintlichen "Welle der Zukunft" werden würden. Diese Entscheidung wirkt weniger überraschend, wenn man bedenkt, wie fasziniert Obama von Erdogans Muslimbrüder-Regime ist. Obama bezeichnete Erdogan neben denen Großbritanniens und Deutschlands als einen der fünf wichtigsten Staatsführer, mit dem ihn eine enge und vertrauensvolle Partnerschaft verbinde, und nannte die Türkei unter Führung der AKP ("Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung") ein Vorbild für den gemäßigten Islam. Selbst als Obama wieder zu sich gekommen war, nachdem Erdogan klare Anzeichen von Größenwahn und Autoritarismus gezeigt hatte, unterstützte er trotzdem Erdogans Einmarsch in Syrien, auch wenn es offensichtlich war, dass sich dieser fast ausschließlich gegen die Kurden richtete.

Die jüngsten europäischen Interventionen in der arabischen Welt lassen nicht auf ein besseres Urteilsvermögen oder effektivere Maßnahmen schließen. Seit die europäischen Mächte ihre Außenposten im Nahen Osten verloren haben, konnten sie die meiste Zeit nur die zweite Geige nach den Vereinigten Staaten spielen und blieben bei wichtigen Angelegenheiten meistens unbeachtet. Mit der politischen und wirtschaftlichen Konsolidierung der Europäischen Union und bevor die Finanzkrise, der Ausbruch terroristischer Gewalt vor der eigenen Haustür und massive Flüchtlingsströme nach Europa den Blick nach innen lenkten, beteiligten sich Großbritannien und Frankreich an der aufsehenerregendsten Militäraktion seit Jahrzehnten: dem Einsatz in Libyen. Dieser brachte zwar das Ende Muammar al-Gaddafis und seines Regimes und verhinderte wahrscheinlich ein Massaker in Bengasi, führte jedoch zu weit schlimmerem Zerfall, Chaos und dem gegenseitigen Abschlachten verfeindeter Gruppierungen.

Drei unangenehme Wahrheiten über die Region

Alle diese Fehler haben eines gemeinsam: das komplette Unvermögen oder den Unwillen, drei Tatsachen über die Region zu akzeptieren, die der Westen nicht wahrhaben will:

Die erste Tatsache ist, dass es im Nahen Osten nicht um eine Entscheidung zwischen gescheiterten, oft widerwärtigen, autoritären Regimes auf der einen Seite und einem nachhaltigen Demokratisierungsprozess auf der anderen geht, sondern um die Entscheidung zwischen einer Variante der ersten Möglichkeit und einer ganzen Reihe viel schlimmerer, katastrophaler Alternativen. Solche Katastrophen finden wir heute im Irak, Syrien, Jemen, Libyen und Südsudan. Ähnliche Desaster könnten durchaus auch im Libanon, in Jordanien oder Algerien wieder aufflammen, wie sie es in früheren Bürgerkriegen getan haben. In Bahrain wurden ein Bürgerkrieg und ein iranischer Einmarsch wohl nur durch die Intervention Saudi-Arabiens verhindert. Wäre ein unabhängiger palästinensischer Staat entstanden, so wäre es höchstwahrscheinlich zwischen der PLO und der Hamas zum Eklat gekommen. Die Brutalität der Präsidenten Baschar al-Assad, Muammar al-Gaddafi und Saddam Hussein hat das jahrzehntelang verhindert. Das soll nicht heißen, dass Araber nicht auch wesentlich bessere Regimes führen können – wie zum Beispiel Jordanien und Marokko beweisen. Doch selbst diese Regime sind autoritär, und was Tunesien betrifft, so ist das letzte Wort noch nicht gesprochen.

Die zweite Tatsache ist, dass Radikalismus eine Realität ist. Radikalisten sind meistens nicht einfach nur Menschen, die gewalttätig geworden sind, weil man ihnen Unrecht getan hat und sie nicht mit rechtmäßigen Mitteln zu ihrem Recht kommen konnten. Sie meinen es ernst, wenn sie sagen, dass sie ihre Feinde töten und deren Völker und Staaten auslöschen wollen. Zwar kann es sein, dass sie vorübergehend mit Teilerfolgen zufrieden sind, doch ihr eigentliches Ziel ist das, was sie für die absolute historische Gerechtigkeit halten. In letzter Konsequenz werden sie sich nicht mit Kompromissen abspeisen lassen. Sie mögen ihren Anhängern ein "gutes Leben" verschaffen wollen – das hat aber nicht die geringste Ähnlichkeit mit der westlichen Variante. Es zielt auf Vorherrschaft und Rache, sowie auf die Befriedigung psychologischer, oft psychopathologischer Bedürfnisse, statt nur wirtschaftlichen, politischen oder Sicherheitsinteressen zu dienen. Radikalisten lassen sich nicht domestizieren, und sie manipulieren geschickt naive Menschen aus dem Westen, die mit ihnen in einen "konstruktiven Dialog eintreten" wollen. Natürlich sind nicht alle Araber radikal, nicht einmal die Mehrheit ist es. Doch der Einfluss der Radikalisten geht oft weit über den Kreis der "wahren Gläubigen" hinaus. Nur nachdem sie besiegt, gedemütigt und abgeschreckt wurden, können die anderen einem nachhaltigen Kompromiss zustimmen.

Die dritte Tatsache ist, dass die Konflikte im Nahen Osten aus dem Stammessystem entstanden sind, sehr tiefe geschichtliche und psychologische Wurzeln haben und fest mit grundsätzlichen Identitätsfragen verwoben sind. Ein vom Westen erdachter Friedensprozess, der Fehden beilegen soll, die seit Jahrhunderten oder Jahrtausenden bestehen, hat da oft keinerlei Relevanz. Besonders realitätsfern wird es, wenn der Westen unerklärlicherweise davon ausgeht, dass man die Konfliktparteien nur zermürben müsse, damit sie sich mit viel weniger zufrieden geben, als sie ursprünglich verlangt haben, da sie sich "natürlich" ein Ende des Konflikts wünschen um in Frieden leben zu können und sich mit dem zu begnügen, was man ihnen übrig lässt. Manch regionaler Konflikt kann tatsächlich mithilfe eines ausgewogenen politischen, wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Pakets befriedet werden, viele jedoch nicht. Die entscheidende Voraussetzung ist, dass die Konfliktparteien reif für einen Kompromiss sind. Wenn sie es nicht sind, dann wird äußerer Druck, so gut gemeint er auch sein mag, bei wenigstens einer der Parteien nur zu noch mehr Sturheit und Feindseligkeit führen. Auch dort, wo Kompromisse gefunden werden, fehlt oft die Legitimitätsgrundlage und Konflikte flammen wieder auf.

Heißt all dies nun, dass niemand im Westen die Zustände im Nahen Osten verstehen kann, und dass westliches Engagement zum Scheitern verurteilt und deshalb zu vermeiden ist? Auf keinen Fall! Erstens können und dürfen wir die Region nicht ignorieren, und zweitens kann sachkundiges und vorsichtiges Engagement wesentliche positive Beiträge leisten, wie sich auch schon gezeigt hat. Der Nahe Osten mag an Bedeutung verloren haben, doch hat er nach wie vor eine strategisch wichtige Position, spielt eine wichtige Rolle im Energiebereich und fasziniert Menschen in der ganzen Welt.

Bisherige Erfolge

Einige westliche Spitzenpolitiker, allen voran Henry Kissinger, hatten ein sehr gutes Verständnis der komplexen Verhältnisse im Nahen Osten. Der amerikanische Beitrag zum israelisch-ägyptischen Friedensvertrag veränderte die Geschichte der Region zum Positiven. Der israelisch-jordanische Friedensvertrag trug zur Konsolidierung bei. Die Vereinigten Staaten spielten (neben Israel und Großbritannien) eine entscheidende Rolle bei der Erhaltung des haschemitischen Königreichs Jordanien als maßgebender Pufferstaat und trugen so zur Stabilisierung der Region bei. Die Zerstörung der politischen Macht und materiellen Ressourcen der führenden arabischen Radikalisten – Nassers Messianismus, Saddam Husseins gigantische Armee, Assads und Gaddafis Nuklearvorhaben – hätte ohne die amerikanische Führung und Unterstützung nicht durchgeführt werden können. Durch die verlässliche Hilfe der Vereinigten Staaten konnte Israel sich nicht nur selbst verteidigen, sondern auch sehr effektiv zur Bekämpfung radikaler Kräfte im Nahen Osten beitragen und somit gemäßigte Kräfte in der Region (insbesondere Jordanien) stärken. Außerdem hielten die USA Israel davon ab, mit diesen Gemäßigten zu hart ins Gericht zu gehen, selbst als radikale, nicht-staatliche Akteure (PLO und Hisbollah) Israel vom Hoheitsgebiet arabischer Staaten aus angriffen.

Gute Presse oder gute Taten

Die Wahl, vor der der Westen steht, ist klar: die Spitzenpolitiker können entweder vor ihrer Wählerschaft und ihren Eliten gut da stehen oder für die notleidenden Menschen und schwer bedürftigen Staaten des Nahen Ostens Gutes tun. Wenn es ihnen nur um die gute Presse geht, dann werden sie sich selbst glauben machen, sie könnten die Lage in der Region derart dramatisch verbessern, dass nicht nur Millionen von Menschen davon abgehalten werden, in Europa ein besseres Leben zu suchen, sondern auch die Palästinenserfrage gelöst und Syrien gerettet wird. Wenn sie sich darauf beschränken können, Gutes zu tun, werden sie sich auf eine Unterstützung Ägyptens, Jordaniens, der Kurden und Tunesiens konzentrieren, zur Bekämpfung des Terrorismus beitragen und strategische Glaubwürdigkeit und Respekt im Nahen Osten zurückgewinnen.

Wie bereits hervorgehoben, reichen die regionalen Fehlentwicklungen zu weit und sind zu strukturell, als dass sie von außen in einem Maße und innerhalb einer Zeitspanne behoben werden könnten, dass der Strom verzweifelter Flüchtlinge, die die Hoffnung und das Vertrauen in ihre eigenen Gesellschaften verloren haben, wesentlich beeinflusst würde. Dies zu versprechen mag eine Weile dabei helfen, die Notwendigkeit unangenehmer Maßnahmen gegen das Flüchtlingsaufkommen in Europa zu verdrängen, wird am Ende aber nur zu einer enormen Verschwendung von Ressourcen und unvermeidlicher Enttäuschung führen. Durch einen weiteren vergeblichen Versuch, die Palästinenserfrage zu lösen, mag Europa Einigkeit in seiner Kritik an Israel demonstrieren und kurzzeitig die Illusion eines bedeutsamen europäischen Beitrags zum Weltgeschehen entstehen lassen, doch ein Erfolg dort, wo Ministerpräsident Ehud Olmert 2008 und US-Außenminister John Kerry 2014 scheiterten, ist unmöglich. 2008 lehnte Präsident Abbas Olmerts Vorschlag für einen Palästinenserstaat ab, bei dem beinahe das gesamte Westjordanland an Palästina gegangen wäre und Palästina sogar ein symbolisches Teilstück Israels "zurückerhalten" hätte. 2014 führte Kerry eine unermüdliche, neunmonatige Kampagne für einen israelisch-palästinensischen Frieden und konnte die Konfliktparteien nicht einmal dazu bewegen, ein Grundsatzdokument über die Fortsetzung der Verhandlungen zu unterzeichnen. Die Frage, warum dieser Konflikt nicht "reif für eine Lösung" ist, trifft den Kern des Problems nicht.

Syrien ist nicht mehr zu retten. Erstens fehlen den Rebellen zur Gründung eines funktionierenden Staates die Unterstützung und die Macht. Zweitens ist Putin sowohl entschlossen als auch fähig dazu, das Assad-Regime in "Alawistan", im Westen Syriens, mit oder ohne Damaskus und Aleppo an der Macht zu halten. Der Westen ist verständlicherweise nicht gewillt, dies mit Gewalt zu verhindern. Bodentruppen kommen politisch nicht in Frage, und niemand muss ernsthaft amerikanische Abschreckung in Erwägung ziehen. Drittens haben Assad und die Rebellen keine gemeinsame "syrische" Identität, die sie zusammenbringen könnte. Assad ist durchaus bereit, alle die in großem Stil abzuschlachten und auszuhungern, die die Alawiten und ihre Verbündeten der Macht entheben wollen, und die ihrerseits nicht wesentlich anders handeln, sobald sich die Gelegenheit bietet.

Der Kampf gegen den Terrorismus ist wichtig, doch sollte sein Einfluss vor allem anhand strategisch-regionaler und nicht anhand operativ-lokaler Maßstäbe bemessen werden. Der IS ist eine Bedrohung, die jedoch kleiner ist als die Gefahr, die von den großen Widersachern und Feinden in der Region ausgeht. Der IS ist nur gegenüber den sehr Schwachen stark, den zerfallenden und gescheiterten Regimes wie in Syrien und dem Irak. Für Jordanien zum Beispiel, das einen loyalen und kompetenten Sicherheitsapparat sowie die Rückendeckung Amerikas und Israels hat, sind die Muslimbrüder im Inland eine viel größere Bedrohung als der Islamische Staat. Ägypten hat ein ernsthaftes Problem auf der Sinai-Halbinsel, sorgt sich aber sehr viel mehr wegen der Muslimbruderschaft in Kairo und der regionalen Bedrohung durch den Iran. Bei der Suche nach Verbündeten im Kampf gegen den IS begünstigte die Koalition unter Führung der USA eine iranische Machtübernahme im Irak, bestärkte Erdogans Muslimbrüder-Regime in seinem Krieg gegen die syrischen Kurden und legitimierte das russische Eingreifen zur Machterhaltung des Assad-Regimes.

Was kann man tun?

Der Westen kann und sollte eine entscheidende Rolle beim Schutz und bei der Ausweitung seiner eigenen strategischen Interessen in der Region spielen und konstruktiv dazu beitragen, ihren Zerfall zu verhindern. Die mit Abstand wichtigste Aufgabe ist, die wirtschaftliche Nachhaltigkeit in Ägypten zu fördern. Ägypten kann unter den aktuellen Umständen nicht aus seinem wirtschaftlichen Elend befreit und auf Wachstumskurs gesetzt werden. Auch wenn die Hilfe von außen nicht zur Erholung führt, so handelt es sich doch um eine lohnende politische Investition, wenn die wirtschaftliche Implosion um ein weiteres Jahr bzw. so lange wie möglich hinausgezögert wird. Dies ist selbst in Anbetracht der Tatsache strategisch gerechtfertigt, dass Ägypten Milliarden für eine große, moderne Armee ausgibt, die es nicht braucht, und die es verschwenderischerweise große Teile der Wirtschaft kontrollieren lässt. Saudi-Arabien und die Golfstaaten, die Milliarden in Ägypten gesteckt haben, sind sich dieser frustrierenden Tatsache bewusst, wissen aber auch, dass die Armee das Sisi-Regime ist, und das Sisi-Regime ein Garant für relative regionale Stabilität. Die Kosten einer Übernahme durch die Muslim-Bruderschaft oder eines Versinkens im Chaos wären für alle Beteiligten ungleich höher.

Zweite Priorität hat Jordanien. Es bietet das beste Preis-Leistungs-Verhältnis im ganzen Nahen Osten. Für wenige hundert Millionen Dollar und Sicherheitsgarantien der Vereinigten Staaten und Israels gegen Angriffe von außen agiert Jordanien weiterhin als verantwortungsbewusster, pro-westlicher Pufferstaat. Solange die Muslimbrüder in Ägypten verfolgt und in der Türkei in Schach gehalten werden, kann das haschemitische Regime mit dieser großen innenpolitischen Herausforderung effektiv umgehen. An dritter Stelle stehen die Kurden. Sie sind eine aufstrebende Kraft in der Region, die eine viel größere Bereitschaft zu Staatsaufbau und verantwortlichem Handeln zeigt als die meisten arabischen Gesellschaften. Außerdem lehnen sie den arabischen und muslimischen Radikalismus ab und sind bereit, an der Seite des Westens gegen beide zu kämpfen. Eine wie die von Deutschland verfolgte Strategie der Bewaffnung und Ausbildung der Peschmerga bei gleichzeitiger politischer Rückendeckung sogar gegenüber Erdogan, vereint drei Dinge: sofortige Ergebnisse, eine Investition in die strategische Zukunft der Region und: das Richtige tun. Tunesien steht an vierter Stelle. Tunesien hat Erfahrung mit verantwortungsvollem Sozialverhalten. Es ist klein und kann schon mit wenigen Ressourcen unterstützt werden. Selbst wenn auch dieses Experiment den Weg anderer, einst vielversprechender Keimzellen des politischen Pluralismus gehen mag, kann der Westen diese Chance nicht verstreichen lassen. Diese Prioritäten sollen nicht bedeuten, dass andere Länder (wie z.B. Marokko) keine westliche Hilfe verdienen, sondern dass das Überleben und der Erfolg jener Länder in den momentanen Notzeiten der Region am meisten helfen würden.

Ein letzter Punkt betrifft die humanitäre Hilfe und den Wiederaufbau. Die Zahl der Menschen in der Region, die sich in einer verzweifelten Lage befinden, geht in den zweistelligen Millionenbereich. Auch wenn die Hilfe aus dem Westen nicht verhindern kann, dass Millionen auf der Suche nach einem besseren Leben nach Europa (und an andere Orte) kommen, so kann sie doch das Leiden mit relativ bescheidenen Mitteln dramatisch vermindern. Um nur zwei Beispiele zu nennen: sauberes Wasser und medizinische Grundversorgung. Die verarmte und oft hungernde Bevölkerung mit Nahrung zu versorgen hat höchste Priorität. Groß angelegte landwirtschaftliche Projekte können enorm viel bewirken, nicht nur, was die Nahrungsmittelproduktion angeht, sondern auch in Gesellschaft und Politik. Dürren und Wassermisswirtschaft treiben Millionen in Städte, in denen sie keine Arbeit finden. Soziale Strukturen brechen zusammen und die politische Radikalisierung, die beinahe unvermeidlich darauf folgt, verschärft noch eine ohnehin schon hoffnungslose Situation. Wiederaufbau und teilweise Stärkung der landwirtschaftlichen Grundlage solcher Gesellschaften in Kombination mit der Notfallhilfe durch Lebensmittel übersteigt weder die Mittel noch das erwiesenermaßen vorhandene Organisationsvermögen des Westens. Dadurch wird die islamische Radikalisierung zwar nicht gestoppt und auch keine tiefgreifende Modernisierung der Region erreicht, doch es kann zur Gesundheit und Lebensqualität vieler Millionen Menschen beitragen, die dies bitter nötig haben.

Der Westen kann viel tun, wenn er aus seinen Fehlern lernt, sich bescheidene und realistische Ziele setzt und sich von der romantischen Vorstellung verabschiedet, er könne die Welt retten. Das Beste ist der schlimmste Feind des Guten.

Dr. Dan Schueftan ist an der Universität Haifa Direktor des National Security Studies Center und Direktor des Internationalen Graduiertenkollegs für Nationale Sicherheit. Außerdem hält er Vorlesungen am Israel Defense Forces National Defense College. Bis vor kurzem (2012–2014) war er Gastprofessor am Department of Government der Georgetown University in Washington DC. Dieser Artikel gibt die persönliche Meinung des Autors wieder.

Copyright: Bundesakademie für Sicherheitspolitik | ISSN 2366-0805 Seite 1/3

 

Arbeitspapier Thema: 
Innerstaatliche Konflikte
Terrorismus
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Innerstaatliche Konflikte
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