DFS 2016 – Podium 2

Deutsches Forum Sicherheitspolitik

Podium II: "Verantwortung in der Flüchtlingskrise:Deutsche und europäische versus islamische Solidarität?"

 

Prälat Dr. Martin Dutzmann
Bevollmächtigter des Rates der EKD bei der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union

Dr. Kenan Engin

Projektleiter, Bonner Institut für Migrationsforschung und interkulturelles Lernen (BIM) e. V.

Rania Al Jazairi
First Social Affairs Officer der Wirtschafts- und Sozialkommission für Westasien der VN (ESCWA), Center for Women, Beirut

Bassel Kaghadou
Programme Coordinator, National Agenda for the Future of Syria Programme, Wirtschafts- und Sozialkommission für Westasien der Vereinten Nationen (ESCWA), Beirut

Moderation: Thomas Wrießnig, Vizepräsident der BAKS

 

"Das Thema Solidarität ist kein neues. Italien und Griechenland fordern schon seit Langem Solidarität", begann Prälat Martin Dutzmann, Bevollmächtigter des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, die Diskussion des zweiten Konferenztages des Deutschen Forums Sicherheitspolitik. Innerhalb Deutschlands gebe es nach wie vor eine sehr große Hilfsbereitschaft gegenüber Flüchtlingen – darin waren sich auch alle Panelisten einig. Irritierend und problematisch sei allerdings laut Dutzmann, dass in der Debatte um Solidarität inzwischen auch von sogenannter "flexibler Solidarität" der EU-Mitgliedstaaten die Rede sei.

Dr. Martin Dutzmann

Solidarität dürfe keine Einbahnstraße sein, mahnt EKD-Prälat Dr. Martin Dutzmann. Foto: BAKS/Marcus Mohr

In Deutschland sei die Aufgeschlossenheit und Wohltätigkeit gegenüber Flüchtlingen soweit sehr hoch, wie aktuelle Studien belegten. Kontrovers beurteilt wurde allerdings, ob die Frage der Solidarität zu sehr in Bezug auf die Flüchtlinge selbst diskutiert werde. Es müsse gleichzeitig, so die Forderung, auch die Solidarität gegenüber dem Gemeinwesen verstärkt ein öffentliches Thema sein, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt innerhalb Deutschlands nicht zu gefährden.

In Hinsicht auf die europäische Solidarität unter den EU-Mitgliedstaaten, wurde argumentiert, gebe es sehr große Unterschiede. Insbesondere die Praxis des Asylverfahrens in verschiedenen Mitgliedstaaten sei transparenter zu gestalten. Für die Zukunft seien ein geordnetes Verfahren mit einheitlich hohen Standards zur Integration und eine nachhaltige Bekämpfung von Fluchtursachen anzustreben. Nach Dutzmann ist die Reform des Dublin-Systems allerdings verpasst worden, da die südeuropäischen EU-Staaten nach wie vor einer Sonderbelastung durch den Migrationsdruck ausgesetzt blieben.

Rania Al Jazairi

ESCWA-Vertreterin Rania Al Jazairi würdigte die Aufnahmeleistungen der Nachbarstaaten Syriens. Foto: Thomas Trutschel/photothek/BMZ

Betrachte man dagegen die Statistiken für den islamischen Raum, so Rania Al Jazairi, First Social Affairs Officer der Wirtschafts- und Sozialkommission für Westasien (ESCWA) der Vereinten Nationen, ergebe sich in Nachbarstaaten Syriens auf den ersten Blick eine große Solidarität: Von den 4,8 Millionen syrischen Flüchtlingen seien 2,3 Millionen von der Türkei aufgenommen worden, 1,5 Millionen vom Libanon und circa 80.000 von Jordanien. Somit hätten circa 90 Prozent der syrischen Flüchtlinge Zuflucht in den Anrainerstaaten des syrischen Bürgerkriegsgebiets gefunden.

Dr. Kenan Engin

Sieht Solidarität als ein Grundproblem innerhalb der islamischen Welt an: Dr. Kenan Engin, Projektleiter am Bonner Institut für Migrationsforschung und interkulturelles Lernen. Foto: Thomas Trutschel/photothek/BMZ

Kenan Engin relativierte diese Zahlen. "Solidarität ist nicht, wie viele Flüchtlinge aufgenommen werden", so der Projektleiter vom Bonner Institut für Migrationsforschung und interkulturelles Lernen. Absolute Zahlen aufgenommener Menschen alleine seien ein unzureichender Indikator. Wichtiger sei, wie viele Flüchtlinge wirklich Zugang zum Wohnungs- und Arbeitsmarkt bekommen hätten oder wie viele Flüchtlingskinder zur Schule gingen. Engin, selbst anerkannter Asylbewerber in Deutschland, vertrat zudem die Auffassung, dass "Solidarität" insgesamt ein Grundproblem innerhalb der islamischen Welt sei. Einige arabische Staaten hätten sehr wenige syrische Flüchtlinge aufgenommen, insbesondere Katar und Kuwait nur circa ein bis zwei Tausend.

Bassel Kaghadou

Bassel Kaghadou, Projektkoordinator der ESCWA, wies auf die begrenzte Leistungsfähigkeit Jordaniens und des Libanon hin. Foto: BAKS/Marcus Mohr

Bassel Kaghadou, Programmdirektor in der "National Agenda for the Future of Syria" der ESCWA, brachte zum Ausdruck, dass die Gesellschaften in Jordanien und im Libanon sehr wohl aufnahmebereit gegenüber Flüchtlingen aus Syrien seien. Allerdings bestünde das Problem darin, dass diese Nachbarstaaten aufgrund ihrer beschränkten Ressourcen die Menschen nur begrenzt versorgen könnten.

Das unterstrich auch Al Jazairi erneut aus wissenschaftlicher Sicht. Auf der Grundlage einer Befragung von Flüchtlingen beschrieb sie die schwierige sozioökonomische Lage in den Aufnahmeländern im Nahen Osten: Zu den Beschränkungen zählten insbesondere die Situationen im Wohnungs- und im Arbeitsmarkt.

Das ganze Podium debattierte abschließend kontrovers über die sehr großen Unterschiede in der Solidarität unter den EU-Mitgliedstaaten. Engin vollzog noch einmal die Entwicklung in der Haltung der europäischen Partner nach: Habe man erst kaum reagiert, als das Problem "nur" den Nahen Osten und Nordafrika betraf, erklärten sich die Partner solidarisch, als die Flüchtlinge massenweise in Ungarn eintrafen, aber dann sei dieser Impuls in eine "Orbanisierung", eine Abgrenzung der Einzelstaaten untereinander, umgeschlagen. Prälat Dutzmann forderte für die Zukunft, dass Europa ein geordnetes Asylverfahren mit einheitlich hohen Standards zur Integration und eine nachhaltige Bekämpfung von Fluchtursachen anstreben müsse."

Autoren: Julia Fuß, Norbert Reez