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Krieg um Berg-Karabach 2020: Implikationen für Streitkräftestruktur und Fähigkeiten der Bundeswehr

3/2021
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Der kurze und sehr verlustreiche Krieg um Berg-Karabach, der im Herbst 2020 zwischen Armenien und Aserbaidschan stattfand und mit der Niederlage Jerewans endete, wurde überwiegend konventionell zwischen regulären Streitkräften geführt. Allerdings erregte vor allem der breite Einsatz von Kampfdrohnen auf der Seite Aserbaidschans weltweit Aufmerksamkeit in verteidigungspolitischen Kreisen und entfachte eine Debatte über zukünftige Streitkräftestrukturen und neue Militärtechnologien. Der Konflikt bietet tatsächlich eine Reihe von Erkenntnissen auf technischer, doktrinärer, und struktureller Ebene, welche die Bundeswehr und andere westliche Streitkräfte berücksichtigen sollten.

Der 44-tägige Krieg um Berg-Karabach zwischen den Streitkräften Armeniens und der sogenannten Republik Arzach auf der einen sowie den Streitkräften Aserbaidschans und Söldnern aus Syrien und Libyen auf der anderen Seite war der erste konventionell und offen zwischen zwei Staaten Eurasiens geführte militärische Konflikt seit dem Kaukasuskrieg 2008. Die militärische Auseinandersetzung endete am 10. November 2020 mit einem durch Russland vermittelten Waffenstillstand und dem klaren Sieg Aserbaidschans. Die Kampfhandlungen wurden aufmerksam von militärischen Analysten und Beobachtern verfolgt, um etwaige Schlussfolgerungen über den Charakter von zukünftigen Kriegen abzuleiten. Der Einsatz von bewaffneten unbemannten Luftfahrzeugen („Kampfdrohnen“) erregte im Speziellen die Aufmerksamkeit politischer und militärischer Entscheidungsträger in Deutschland. So bezeichnete Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer den Konflikt als den „ersten echten Drohnenkrieg“ der Geschichte. Hauptgrund für den Fokus auf diese bestimmte Kategorie von Waffensystemen ist die anhaltende Debatte innerhalb der CDU/CSU-SPD-Regierungskoalition zur Anschaffung von Kampfdrohnen für die Bundeswehr. Mit Verweis auf den Berg-Karabach-Krieg meldeten sich auch hohe Offiziere der deutschen Streitkräfte öffentlich zu Wort, um auf militärische Fähigkeitsdefizite hinzuweisen. So zeige der Konflikt zwischen den beiden Ex-Sowjetrepubliken laut dem Generalinspekteur der Bundeswehr Eberhard Zorn die Notwendigkeit der schnellen Anschaffung von Kampfdrohnen sowie von Systemen zur Drohnenabwehr: „Wir brauchen defensive Systeme, die unsere Truppen gegen solche Angriffe schützen […] Diese Fähigkeitslücke müssen wir schnell schließen.“

Die limitierte Aussagekraft des Krieges

Welche Schlussfolgerungen lassen sich aus dem Konflikt für die Bundeswehr ableiten? Natürlich ist es schwierig, aus einzelnen Kampfhandlungen generelle Schlussfolgerungen über die Zukunft des Krieges zu ziehen. Jeder Konflikt wird von geographischen, kulturellen, politischen, wirtschaftlichen und militärischen Faktoren beeinflusst, die sich nur selten auf andere Regionen und Länder übertragen lassen. In der jüngeren Militärgeschichte wurden Analysen von vergangenen Kriegen zumeist selektiv verwendet, um vorgefasste Meinungen zu untermauern. So konnten die verlustreichen Kampfverläufe des amerikanischen Bürgerkrieges (1861-1865), des Russisch-Japanischen Krieges (1904) und des Zweiten Burenkrieges (1899-1902) europäische Generalstäbe zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht von ihren Offensivdoktrinen abbringen. Im Gegenteil, in den Augen der einzelnen Armeechefs bestätigten jene Kriege die Richtigkeit ihrer Annahmen über den Charakter zukünftiger Konflikte und führten im Ersten Weltkrieg zu den bekannten fatalen Konsequenzen. Auch eignet sich nicht jeder Konflikt gleich für vergleichende militärische Analysen. So wurden angesichts des Krieges um Berg-Karabach in der Fachliteratur in den letzten Monaten wiederholt Vergleiche zum Yom-Kippur-Krieg (1973) Ägyptens und Syriens gegen Israel gezogen, der die Entwicklung von neuen Streitkräftestrukturen und Doktrinen der NATO und des Warschauer Paktes in den 1980er Jahren maßgeblich beeinflusste. Vor allem die Konzipierung der AirLand-Battle-Doktrin der U.S. Army, die in den amerikanischen Streitkräften in Grundzügen nach wie vor gültig ist, ist auf jenen Konflikt zurückzuführen.

Der Krieg um Berg-Karabach wird mit großer Wahrscheinlichkeit aus vier Gründen keine ähnlich eindrückliche Wirkung auf strukturelle und doktrinäre Entwicklungen in den westlichen Streitkräften erzielen. Erstens sind die Streitkräfte Armeniens und Aserbaidschans, trotz teilweiser moderner Ausrüstung, in ihren technischen, taktischen, und operativen Fähigkeiten rückständiger als es für die Streitkräfte Israels und Ägyptens 1973 der Fall war. Zweitens sind auf materieller und doktrinärer Ebene beide Kriegsparteien nach wie vor stark von ihrem gemeinsamen sowjetischen Erbe beeinflusst, während die Gegner im Yom-Kippur-Krieg jeweils deutlich von westlichen beziehungsweise östlichen Militärdoktrinen beeinflusst waren. Drittens sind die geographischen Faktoren zu einzigartig, um detaillierte Ableitungen zuzulassen. Die zerklüftete Landschaft der Kaukasusregion verlieh dem Krieg einen besonderen Charakter mit Blick auf die Logistik sowie auf die Fortbewegung von Bodenstreitkräften, der nur auf bestimmte andere Regionen übertragbar wäre. Viertens bedarf es noch einer genaueren Analyse, inwiefern externe Parteien aktiv in das Kampfgeschehen eingegriffen haben. So wird zum Beispiel die genaue Rolle der Türkei auf operativer Ebene im Detail zu analysieren sein (unter anderem, wie sie den Einsatz der armenischen Luftwaffe behinderte). Im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion, die 1973 Israel beziehungsweise die arabischen Staaten unterstützten, ist die Türkei allerdings kein ähnlicher militärischer Wegbereiter auf materieller und doktrinärer Ebene.

Technische und materielle Schlussfolgerungen

Wenngleich die Aussagekraft des Krieges um Berg-Karabach also Grenzen hat, lassen sich dennoch nützliche Ableitungen über die Konturen künftiger Kriegsführung skizzieren. Erstens hat der Konflikt eindeutig die Wirksamkeit von Drohnen im Verbund mit Präzisionskampfmitteln für die moderne Kriegsführung belegt. Aserbaidschan setzte in einer systematischen Luftkampagne eine Reihe von Aufklärungs- und Kampfdrohnen sowie sogenannte Loitering Munition ein. Bei letzteren, auch „Kamikazedrohnen“ genannten Systemen handelt es sich um kleinere Flugkörper, welche zunächst längere Zeit in einem Kampfgebiet kreisen können und auf einen menschlichen Steuerbefehl oder auf ein Sensorsignal hin selbst das betreffende Ziel ansteuern. Mit dieser Kombination verschiedener Drohnen gelang es Aserbaidschans Streitkräften, armenische Flugabwehrsysteme, Kommandostrukturen, gepanzerte Fahrzeuge, darunter insbesondere Kampfpanzer, und ungedeckte Artillerie gezielt zu zerstören. Gleichzeitig wurden die unbemannten Luftfahrzeuge eingesetzt, um Nachschubwege zu unterbrechen, Versorgungspunkte zu bombardieren, sowie armenische Gegenstöße, teils noch während sich die Truppen in den jeweiligen Verfügungsräumen hinter der Frontlinie sammelten, mit Präzisionsangriffen zu zerschlagen. Die in der Türkei produzierte Bayraktar TB2 Aufklärungs- und Kampfdrohne sowie die israelische IAI Harop Loitering Munition waren in dieser Hinsicht zwei der effektivsten Systeme.

Drohnen erwiesen sich in diesem Sinne auch als ausgezeichnete Mittel zur Informationskriegsführung. Aserbaidschanische Videos von Angriffen auf armenische Ziele verbreiteten sich in Windeseile online und ermöglichten es Baku, das Narrativ des Krieges zu dominieren. Voraussetzung für diese erfolgreiche Luftkampagne war die überlegene taktische Gefechtsfeldaufklärung Aserbaidschans, vor allem im elektromagnetischen Spektrum. Dadurch konnten zum Beispiel unverschlüsselte elektronische Signaturen der Mobiltelefone von Soldaten durch Aufklärungsdrohnen erfasst und diese schnell durch bewaffnete Drohnen (oder Artillerie) bekämpft werden.

Zweitens hat der Konflikt die Wirkungslosigkeit von herkömmlichen Flugabwehrsystemen gegen Drohnen bestätigt. Ältere Varianten der russischen Pantsir S1- und S-300-Systeme sowie andere Flugabwehrbatterien russischer Bauart, die auf armenischer Seite eingesetzt worden waren, wurden bereits in den ersten Tagen des Konfliktes durch aserbaidschanische Präzisionsschläge zerstört. Detaillierte Schlussfolgerungen über die Effektivität einzelner Flugabwehrsysteme gegen Drohnen bedürfen zwar genauer Auswertung des operativen Kontexts. So zeigen vorläufige Analysen von Videomaterial, dass einige der aus der Luft zerstörten Systeme gerade verlegt wurden und dadurch nicht feuerbereit waren. Unter dem Strich bleibt gleichwohl festzustellen, dass die genutzten Systeme nur bedingt bis gar nicht gegen Drohnen einsetzbar waren. Auch zeigten die Kampfhandlungen, dass einzelne Flugabwehrsysteme wirkungslos sind, wenn sie nicht in einem gestaffelten und vernetzten Luftverteidigungssystem inklusive Langstrecken-Ziel-und-Suchradar sowie elektronischen Kampfmitteln wie zum Beispiel Störsendern, integriert sind.

Drittens widerlegt der Krieg deutlich die These, dass der Kampfpanzer keinen Platz auf dem modernen Gefechtsfeld mehr habe. Die große Anzahl an Videos von getroffenen Kampfpanzern, die vor allem von aserbaidschanischer Seite veröffentlicht wurden, bestätigt vielmehr indirekt den enormen Kampfwert, der Panzern und gepanzerten Fahrzeugen zugemessen wurde. Zu Recht, denn Panzer waren nicht nur Ziele, sondern entscheidende Angriffswaffen: Letztendlich führten aserbaidschanische Kampfpanzer und gepanzerte Fahrzeuge alle großangelegten Angriffsoperationen in ebenem Gelände während dieses Krieges an, jedoch erst nachdem das Gros armenischer gepanzerter Verbände zerschlagen worden war. Bis dato gibt es zum Kampfpanzer kein alternatives landgestütztes Waffensystem, das sich in den Bereichen Mobilität, Feuerkraft und Schutz mit ihm messen kann. Was die Kämpfe jedoch durchaus zeigten, ist, dass gepanzerte Verbände ohne ausreichende Kurzstrecken-Flugabwehrsysteme durch unbemannte Luftfahrzeuge äußert verwundbar sind. Hier liegt eine deutliche Parallele zum Yom-Kippur-Krieg, welcher seinerzeit die Notwendigkeit von reaktiver Panzerung und anderen Gegenmaßnahmen zur Abwehr der damals erstmals in großer Zahl eingesetzten Panzerabwehrlenkraketen zeigte.

Doktrinäre Schlussfolgerungen

Erstens, der Krieg zeigt die anhaltende Bedeutung des sogenannten Kampfes der verbundenen Waffen. Armenische Artillerie-, Panzer- und Infanterieverbände operierten großteils ohne adäquaten Luftschutz und ohne sich gegenseitig zu unterstützen. So erlitt die armenische Seite in den ersten Tagen bei einer Anzahl an unkoordinierten Gegenattacken, angeführt durch Kampfpanzer und gepanzerte Fahrzeuge, schwere Verluste. Gepanzerte Verbände, die ohne adäquaten Luftverteidigungsschirm, ohne unterstützende Elemente wie begleitende Infanterie, ohne in der Tiefe liegende Artillerie und ohne nahe Luftunterstützung operieren, müssen auf dem modernen Schlachtfeld, welches von Sensoren überflutet ist, die jede Gefechtsfeldbewegung schnell aufzeichnen und melden, mit erheblichen Verlusten rechnen. Die Voraussetzung für den synchronisierten Kampf der verbundenen Waffen ist vor allem gute Ausbildung und Training der einzelnen Soldatinnen und Soldaten, die das wiederholte Üben solcher Operationen in großen Verbänden beinhaltet. Weder Armenien noch Aserbaidschan waren letztlich fähig, derartige Operationen mit größeren Verbänden erfolgreich umzusetzen.

Zweitens, der Krieg illustriert die Notwendigkeit, einzelne Verbände in aufgelösten Formationen einzusetzen und mit mehr Entscheidungsautonomie auszustatten, solange sie von Präzisionsschlägen nicht anderweitig geschützt werden können. Armenische Infanterie, die im geschlossenen Zugrahmen von etwa 30 Mann operierte, wurde während der Kampfhandlungen durch die aserbaidschanische Gefechtsfeldaufklärung immer wieder schnell enttarnt und mit präzisem Feuer belegt. Erst zu Ende des Konfliktes operierten armenische Einheiten teilweise aufgelöst im Gruppenrahmen von bis zu acht Mann und konnten dadurch ihre Verluste minimieren.

Aus diesem Grund wird in Zukunft dem militärischen Führen mit Auftrag, welches untergeordneten Führungskräften eigene Handlungsspielräume zur Zielerreichung lässt, größere Bedeutung zukommen. Gleichzeitig zeigte der Krieg die enorme Bedeutung von „elektromagnetischer Disziplin“ in der modernen Gefechtsführung: Es war für beide Seiten ein Leichtes, gegnerische Verbände anhand von unverschlüsselten elektronischen Signaturen von Mobiltelefonen zu lokalisieren. Die Konsequenzen waren teilweise verheerend, und ganze Einheiten fielen gezieltem Artilleriefeuer oder Luftschlägen zum Opfer.

Drittens zeigt der Krieg aber auch, dass Dezentralisierung und das Auflösen einzelner Verbände in kleinere Formationen nicht die ideale Lösung sind. Damit stellt er auch in Frage, inwieweit moderne operative Konzepte, wie  Multi-Domain Operation s, die auf eine verstreute Streitkräftestruktur und dezentralisierte Gefechtsführung bauen, die Wirkung von Präzisionskampfmitteln gegen die eigenen Kräfte überhaupt abschwächen können. Mehrheitlich wurden Einheiten beider Konfliktparteien durch  die Vielzahl an Sensoren, sei es durch Drohnen oder andere Aufklärungsmittel, die weithin das Gefechtsfeld durchsetzten, bei Angriffsoperationen schnell enttarnt. In welcher Hinsicht operative Konzepte und Doktrinen, die auf Dezentralisierung und Verteilung setzen, hier tatsächlich Abhilfe schaffen, ist schwer abzuwägen und kann nur teilweise in Planspielen (Wargames) beantwortet werden. Gleichzeitig stellt sich auch die Frage, wie solche zerstreuten Einheiten für offensive Operationen zusammengezogen und massiert werden können, ohne dass sie entdeckt und mit Feuer belegt werden. Paradoxerweise könnte eine doktrinäre Schlussfolgerung des Konfliktes sein, dass Verbände, anstatt weiter verteilt zu werden, sogar unter einem konzentrierten Abwehrschirm zum Schutz sowohl gegen Luftangriffe als auch gegen elektromagnetische Einwirkung zusammengefasst werden müssen.

Schlussfolgerungen für westliche Streitkräfte und die Bundeswehr

Der Krieg um Berg-Karabach war ein Abnutzungs- und kein Bewegungskrieg. Einerseits hat dies mit dem besonderen Terrain der Region zu tun, das nur wenig Raum für schnelles Vorgehen bietet. Andererseits ist dies aber auch das Resultat der oben schon genannten Fortschritte in der Gefechtsfeldaufklärung gepaart mit dem Einsatz von Präzisionskampfmitteln. Laut unabhängigen Schätzungen verloren alleine die armenischen Streitkräfte über 130 Kampfpanzer des Typs T-72, 70 Schützenpanzer BMP, 60 weitere gepanzerte Fahrzeuge, dutzende Mehrfachraketenwerfer-Artilleriesysteme und über 50 Flugabwehrsysteme inklusive vier S-300 Langstrecken-Flugabwehrraketensystemen.*  Armenien und Aserbaidschan hatten beide jeweils über 3.000 Gefallene zu beklagen. Aus diesem enormen Verlust an Mensch und Verschleiß an Material lässt sich schließen, dass zukünftige Streitkräftestrukturen mit großer Wahrscheinlichkeit fähig sein müssen, solche Ausfälle zu absorbieren und gleichzeitig einsatzfähig zu bleiben. Ein Schlüsselwort hierfür ist Redundanz.

Daraus lassen sich drei strukturelle Überlegungen ableiten. Erstens, die nächsten Jahre könnten entgegen dem langjährigen Trend zu kleineren Verbänden eine Rückkehr der Masse auf das Gefechtsfeld bringen – also zu quantitativ größeren Verbänden. Ein solcher Aufwuchs an Mensch und Material müsste sich in den Streitkräftestrukturen spiegeln (zumindest solange bis halbautonome und autonome Systeme menschliche Funktionen, zum Beispiel in den Bereichen der Aufklärung und Logistik, ablösen können). Solange eine Wiedereinführung der Wehrpflicht weitgehend unrealistisch scheint, könnte dies eine verstärkte Aufwertung von Reserveverbänden bedeuten. Zweitens würde eine solche, auf Quantität bauende Streitkräftestruktur vermutlich nur im budgetären Rahmen bleiben, wenn mehr und günstigere, „abnutzbare“ Waffensysteme und Plattformen, wie zum Beispiel unbemannte Land-, See- und Luftfahrzeuge, eingeführt werden. Dies wäre vor allem eine strukturelle Herausforderung für die deutsche Rüstungsindustrie, die auf komplexe Mehrzweckplattformen spezialisiert ist. Drittens lässt sich schlussfolgern, dass eine adäquate Streitkräftestruktur geschaffen werden muss, die bemannte und teilbemannte Hochtechnologie-Mehrzweckplattformen bestmöglich in den einzelnen Verbänden mit existierenden Plattformen integriert. So könnte etwa das zukünftige Main Ground Combat System (MGCS), welches den Leopard II-Kampfpanzer ablösen soll, zunächst zusammen mit einer nachgerüsteten Version des Leopard II in gemischten Bataillonen eingesetzt werden.

Für die Bundeswehr ergeben sich daraus drei weitere konkrete Schlussfolgerungen. Erstens, auf technischer und materieller Seite zeigt der Krieg um Berg-Karabach eindeutig die militärische Wirksamkeit von Kampfdrohnen. Gleichzeitig unterstreicht vor allem die militärische Niederlage Armeniens die fatalen Konsequenzen fehlender Fähigkeiten im Bereich der Drohnenabwehr. Zusätzlichen Mitteln für die Einführung von Abwehrsystemen sollte daher eine hohe Priorität eingeräumt werden. Will die Bundeswehr eine einsatzfähige Streitkraft bleiben, die im Ernstfall auch gegen einen gut gerüsteten konventionellen Gegner bestehen kann, ist die Beschaffung von Aufklärungs- und Kampfdrohnen aus militärischer Perspektive aber ebenso unabdingbar. Dies gilt vor allem für die effektive Bekämpfung gegnerischer Kampfdrohnen. So hat zum Beispiel die Bayraktar TB2 Aufklärungs- und Kampfdrohne eine Reichweite von nur etwa 150 Kilometer. Drohnen mit ähnlicher Reichweite, ausgestattet mit Präzisionskampfmitteln, könnten ein effektives Instrument sein, um die Steuerzentralen jener unbemannten Luftfahrzeuge zu zerstören. Ferner würde mit der Anschaffung von Kampfdrohnen wohl die Frage an Dringlichkeit gewinnen, ob der Kampfhubschrauber Tiger noch ein zeitgemäßes Waffensystem für die Bundeswehr ist. Wie der Konflikt im Südkaukasus illustrierte, können Kampfdrohnen mittlerweile relativ nahtlos und finanziell deutlich günstiger viele der Aufgaben von Kampfhubschraubern übernehmen.

Zweitens sollte die Bundeswehr in ihren Heeresverbänden doktrinär verstärkt auf das Führen mit Auftrag auf der Gruppenebene fokussieren. Der Krieg um Berg-Karabach unterstreicht die Notwendigkeit einer dezentralisierten und verstreuten Gefechtsführung, gerade in Phasen wenn keine umfassende Flugabwehr oder völlige eigene Luftüberlegenheit sichergestellt werden kann. Zusätzlich sollte eine Arbeitsgruppe im Bundesministerium der Verteidigung eingerichtet werden, die im Detail operative Konzepte für den Einsatz von Kampfverbänden in einem von modernen Sensoren „verseuchten“ Gefechtsfeld, in dem die Luftüberlegenheit nicht gegeben ist, ausarbeitet und gegebenenfalls existierende Konzepte zur vernetzten Operationsführung daran anpasst. Die Gretchenfrage, die es zu beantworten gilt, ist, inwiefern die Grundsätze von multi-dimensionalen Operationen – ein Konzept, das im Moment von allen NATO-Streitkräften nach und nach aufgegriffen wird – auch praktisch umsetzbar sein werden. Wie zum Beispiel können geographisch weit verteilte, aber gut vernetzte taktische Einsatzverbände im Angesicht von effektiver Gefechtsfeldaufklärung vor Angriffen aus der Luft, dem Cyberraum, sowie dem elektromagnetischen Spektrum geschützt werden?

Drittens sollte an die Wiedereinführung der 2012 abgeschafften Heeresflugabwehr gedacht werden, um Operationen von deutschen und verbündeten Bodentruppen zu sichern und effektiv zu begleiten. Armenische Streitkräfte erlitten ihre empfindlichsten Verluste während des Vorgehens ohne solchen Schutz. Die Bundeswehr verfügt zwar in einstelliger Zahl über das Nahbereichs-Flugabwehrsystem MANTIS, welches auch zur Drohnenabwehr eingesetzt werden kann. Das System ist aber stationär und nicht mobil. Im Moment existiert nur eine der Luftwaffe unterstellte Einheit, die Flugabwehrraketengruppe 61, ausgerüstet mit dem Flugabwehrsystem Ozelot, welche eine mobile Begleitung von Bodenverbänden theoretisch leisten kann. Gegen kleinere Drohnenziele ist dieses Waffensystem mit seinen Stinger Boden-Luft-Raketen jedoch wirkungslos, solange deren Sprengköpfe nicht mit Abstandszündern nachgerüstet sind.

Kinetisch wirkende Waffensysteme können aber nur ein Teil der Antwort auf unbemannte Luftfahrzeuge sein. Zusätzlich bedarf es der direkten Angliederung von Einheiten der elektronischen Kampfführung an Kampfverbände, um einerseits die Funkverbindung zwischen gegnerischen Drohnen und ihren Kontrollstationen zu stören und andererseits durch elektronische Aufklärung die Koordinaten dieser Kontrollstationen zu ihrer Bekämpfung zu ermitteln. Zurzeit besitzt die Bundeswehr vier Bataillone Elektronische Kampfführung, die dem Organisationsbereich Cyber- und Informationsraum unterstellt sind. Zumindest ein Bataillon könnte aufgelöst und die unabhängigen Kompanien, spezialisiert auf den mobilen elektronischen Kampf, jeweils den einzelnen Heeresdivisionen angegliedert werden. Obwohl es bis jetzt nur bedingte Evidenz für offensive Operationen im Cyberraum während des Berg-Karabach Konfliktes gibt, sollte die Bundeswehr ferner auch die Integration von Cyber- und elektronischen Kräften auf taktischer Ebene innerhalb des Heeres prüfen.

Franz-Stefan Gady ist Research Fellow am Institute for International Strategic Studies (IISS) in London.
Der Autor gibt seine persönliche Meinung wieder.

* Oryx (2020): The Fight for Nagorno-Karabakh: Documenting Losses on the Sides of Armenia and Azerbaijan (27. September),
Blogbeitrag unter https://www.oryxspioenkop.com/2020/09/the-fight-for-nagorno-karabakh.html , eingesehen am 08.02.2021.

Arbeitspapier Thema: 
Autonome Waffensysteme
Bundeswehr
Rüstungstechnologie
Verteidigungsindustrie
Verteidigungspolitik
Region: 
Europa
Kaukasus
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