2014 einigten sich die Bündnispartner der NATO, zwei Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung auszugeben. Partner, die diese Vorgaben zwischenzeitig nicht erreicht hatten, sagten zu, sie bis 2024 anzustreben. Der jüngste NATO-Gipfel in Brüssel hat diese Ziele bekräftigt. Die Unzufriedenheit der USA über die Beiträge der Europäer zum burden-sharing ist nicht neu. Am 10. Juni 2011 machte Robert Gates, Verteidigungsminister unter Präsident Obama, in Brüssel seinem Unmut Luft – sozusagen sein Vermächtnis, denn kurz darauf gab er sein Amt auf. Darin geißelte er eine Zweiklassengesellschaft in der NATO zwischen Partnern, die sich auf Friedens- und humanitäre Missionen, Entwicklungshilfe und Verhandlungen spezialisierten, und solchen, die tatsächlich das „harte“ Kampfgeschäft betrieben. Wörtlich sagte er: „This is unacceptable. The blunt reality is that there will be dwindling appetite and patience in the U.S. Congress — and in the American body politic writ large — to expend increasingly precious funds on behalf of nations that are apparently unwilling to devote the necessary resources or make the necessary changes to be serious and capable partners in their own defense.“ Das Unverständnis gegenüber als zu niedrig empfundenen Ausgaben der Europäer für die eigene Verteidigung ist keineswegs auf Republikaner oder Trump-Anhänger beschränkt. Unter Demokraten ist dieses Unbehagen ebenso verbreitet.
Deutschland hat seine Verteidigungsausgaben seit 20 Jahren real konstant gehalten, während die Wirtschaftsleistung real um 14 Prozent zunahm. Der Anteil des Wehretats am Bruttoinlandsprodukt ist kontinuierlich gefallen, von 3,6 Prozent 1990 auf derzeit 1,2 Prozent. 2017 stieg er um 5,7 Prozent. Im gleichen Zeitraum wuchs das Bruttoinlandsprodukt um 2,2 Prozent. Für die nächsten Jahre sind Steigerungen des Wehretats um 4,0 Prozent eingeplant. Die Bundesregierung erwartet für diesen Zeitraum ein Wirtschaftswachstum um 1,8 Prozent. Die Relationen verschieben sich also kaum. Bleiben die Zuwächse in dieser Relation, wird es über 20 Jahre dauern, bis Deutschland zwei Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung ausgibt.
Gegen das Zwei-Prozent-Ziel lässt sich einwenden, Deutschland könne seine Ausgaben kurzfristig nicht von 40 auf 70 Milliarden Euro erhöhen; es fehle an sinnvollen Projekten, und ein militärisches Übergewicht zusätzlich zur wirtschaftlichen Dominanz Deutschlands beschädige das Gleichgewicht Europas. Es bleibt jedoch eine geostrategische Tatsache, dass die Sicherheit unserer Nachbarn davon abhängt, welche Unterstützung Deutschland zur Abwehr äußerer Gefahren des NATO-Gebietes mobilisieren kann. 2011 hat der polnische Verteidigungsminister Radoslaw Sikorski gesagt: „Deutsche Macht fürchte ich heute weniger als deutsche Untätigkeit.“ Ob es gilt, Kräfte ins Baltikum, nach Skandinavien, auf den Balkan oder ans Mittelmeer zu verlegen, Deutschland hat eine Dreh- und Angelfunktion. Die Umbrüche von 1990 haben Deutschland aus der Frontzone des Kalten Kriegs gezogen, ihm aber die Funktion eines rückwärtigen Logistik- und Reserveraums zugewiesen.1
Ein „Zahlen-Fetisch“?
Nils Schmid (SPD) hat das Zwei-Prozent-Ziel als „Zahlen-Fetisch“ abgetan. Es macht tatsächlich wenig Sinn, Verteidigungsausgaben an die Wirtschaftskraft zu koppeln. Hätten die Verteidigungsausgaben der NATO-Staaten in der Finanzkrise von 2008 ebenso schroff abfallen sollen wie ihre Wirtschaftsdaten? Aber wer diese Korrelation heute (mit guten Gründen) kritisiert, hätte sie 2014 nicht unterschreiben sollen! Griechenland überschreitet Jahr für Jahr trotz anhaltender Wirtschaftskrise und erdrückender Schuldenlast das Zwei-Prozent-Ziel. Israel und Südkorea genügen zwei Prozent bei weitem nicht. Neuseeland oder Mexiko können mit geringeren Ausgaben sicher sein. Mexiko hat seine Verteidigungsausgaben seit 2001 von 0,1 Prozent auf 0,6 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts gesteigert! Ein Wehretat sollte vom Bedarf, nicht von der Ausgabenseite hergeleitet werden. Bedarf setzt eine Sicherheits- und Risikoanalyse voraus. Um allein das Zwei-Prozent-Ziel zu erreichen, könnte man das Geld schlicht verbrennen. Entscheidend ist, was sich mit dem Geld an militärischen Fähigkeiten schaffen und erhalten lässt und welche strategischen Ziele damit erreicht werden sollen!
Ausrüstungsdefizite sind gewaltig
Das Argument, man könne in so kurzer Zeit keine sinnvollen Beschaffungsprogramme definieren, klingt plausibel. Aber es geht nicht um die Beschaffung neuen Geräts. Es geht darum, vorhandene Fähigkeiten nutzbar zu machen. Der Inspekteur der Luftwaffe hat neulich vorgerechnet: Die Wartungszeit für Eurofighter beträgt 14 statt 7 Monate. Von 128 Eurofightern sind weniger als 40, von 93 Tornados nur 23 einsatzbereit. Beim Transporthubschrauber CH-53 sind es 16 von 72. Das Transportflugzeug A 400M wird von technischen Pannen geplagt, die Auslieferung der Maschinen verzögert sich um Jahre. Vermutlich müssen als Übergangslösung Transporter in den USA bestellt werden. Bei Drohnen hinkt Deutschland weit abgeschlagen hinterher. Das Mehrfachdesaster der Eurohawk-Aufklärungsdrohne von 2013 schmerzt immer noch.
Bei der Marine sieht es nicht besser aus. Alle sechs U-Boote können nicht auslaufen, zwei Tankschiffe mussten stillgelegt werden, und die leistungsstarke Fregatte Sachsen ist nach einem Unfall beschädigt und muss aufwändig instandgesetzt werden. Der Wehrbeauftragte Hans-Peter Bartels hat Anfang des Jahres festgestellt, der Marine drohten einsatzfähige Schiffe auszugehen, sie könne deshalb keine weiteren Missionen übernehmen. Der Sprecher des Verteidigungsministeriums ergänzte, die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr sei generell nicht zufriedenstellend. Die materielle Einsatzbereitschaft liegt derzeit unter 50 Prozent.
Beim Heer wird Gerät nach Bedarf verschoben. Es fehlt an Nachtsichtgeräten, an modernen Maschinengewehren, an wendigen, gepanzerten Kleinfahrzeugen. Das G36-Gewehr soll erst 2022 durch ein Nachfolgemodell ersetzt werden. Soll die Truppe bis dahin mit einem Gewehr schießen, dem das Verteidigungsministerium schon vor vier Jahren (!) Mängel attestiert hat? Die beschämenden Bilder von Panzern, die mit Besenstielen ins Manöver ziehen, waren echt. Weshalb ziehen es Soldaten vor, sich Teile ihrer Ausrüstung für den Einsatz selbst zu kaufen? Vielleicht weil die notwendigen Teile nicht in der geforderten Qualität auf Lager sind – wie Gehörschutz, Schutzbrillen, Handschuhe, Tragewesten, Funktionswäsche, Uhren? Soldaten sehen das Material, mit dem sie kämpfen sollen, oft erst, wenn sie in den Einsatz ziehen. Vorher üben sie mit Versatzstücken oder veralteter Ausrüstung.
Kasernen bedürfen dringend einer Sanierung und Modernisierung. Als 2016 Wohnraum für die andrängenden Migranten gesucht wurde, lehnten Zivilbehörden einige der von der Bundeswehr angebotenen Unterkünfte als unzumutbar ab. Dort waren wenige Monate zuvor noch Soldaten untergebracht. Bessere Besoldungs- und Karriereperspektiven für Soldaten könnten die Bundeswehr nach Fortfall der Wehrpflicht attraktiver zu machen. Im Wettbewerb um Nachwuchs fällt die Bundeswehr langsam, aber unaufhaltsam zurück. Sie hat zum Ausrüstungs- auch ein Rekrutierungsproblem.
Ohne glaubhafte Anstrengungen erodiert das politische Fundament der NATO
Deutschland leistet sich, wie die Neue Zürcher Zeitung neulich süffisant bemerkte, teure, aber kaum einsatzfähige Streitkräfte. Es fehlt nicht nur an Ausrüstung und Personal allgemein; bestimmte essentielle Sektoren sind nicht angemessen entwickelt: Luft- und Seetransport, Marinetankerkapazitäten, Echtzeit-Aufklärung, Cyberoperationen und -Sicherheit. Im Jahr 2000 wies Paul Breuer im Bundestag unwidersprochen auf eine Finanzierungslücke von 20 bis 40 Milliarden D-Mark (10 bis 20 Milliarden Euro) hin. Seither hat sich die Ausstattung der Bundeswehr nicht verbessert. Nun aber macht ein amerikanischer Präsident massiven Druck, und plötzlich schreckt die Regierung auf und sagt Steigerungen auf 1,5 Prozent bis 2024 zu.
Mehr Geld ist die eine Seite. Die andere wäre eine bessere und effizientere Standardisierung, Flexibilisierung und Interoperabilität innerhalb Europas. Die Schwäche NATO-Europas liegt darin, dass ein Großteil der Verteidigungsausgaben zersplittert und für parallele Zwecke ausgegeben wird. Die USA betreiben ein Panzermodell, zwei Typen von schweren Haubitzen, sechs Kampfflugzeugmodelle und vier Baureihen von Kriegsschiffen. Für NATO-Europa lauten die entsprechenden Zahlen 17, 26, 20 und 29. Abgesehen von den hohen Entwicklungs- und Anschaffungskosten entstehen unnötig hohe Kosten durch Instandhaltung und vor allem dadurch, dass jedes dieser Systeme nur von speziell dafür ausgebildeten Soldaten betrieben werden kann.
Donald Trump hat es mit rüdem Stil und unverhüllten Drohungen geschafft, die Partner in Europa aufzurütteln. Er kann einen Erfolg für sich reklamieren, um den seine Vorgänger sich jahrelang vergeblich bemüht haben. Das ist doppelt misslich. Erstens zeigt es, dass Drohungen und Einschüchterung Europäer einknicken lässt, während diplomatischer Druck und Appelle wenig bewirken. Das wird auch außerhalb der NATO sorgfältig beobachtet. Zweitens hat Trump zwar bewirkt, dass Europäer mehr Geld für Verteidigung ausgeben, er hat aber zugleich neuen Widerwillen gegen die USA angefacht und die politischen Fundamente geschwächt, auf denen die NATO aufbaut. Was nützen Fähigkeiten, wenn der politische Wille, gemeinsam zu handeln, untergraben wird? Die Art, wie Trump aufgetreten ist, hat viele vor den Kopf gestoßen. Umfragen deuten darauf hin, dass der deutschen Bevölkerung Trump heute als gefährlicher gilt als Putin und die Bereitschaft, die NATO zu stärken, abgenommen hat.
Die Rückversicherung in den USA und damit die NATO bleiben für Deutschlands Sicherheit konstitutiv. Die USA sind mehr als Trump. Aber sie werden auch nach Trump in vielem dauerhaft anders sein als während des Kalten Krieges. Die Reaktionen in Washington zeigen, dass Trumps Auftreten auch dort Befremden und Sorge ausgelöst hat. Sie zeigen aber auch, dass Trump ungeachtet seines hemdsärmeligen Stils Dinge angesprochen hat, die in weiten Teilen der USA und schon seit vielen Jahren als wachsendes Problem gesehen werden. Deshalb wird alles darauf ankommen, die Sorgen zu besänftigen, die Robert Gates schon vor sieben Jahren formulierte. Die Steigerung der Verteidigungsausgaben darf nicht zum Pyrrhus-Sieg für die Allianz werden: Noch wichtiger als militärische Fähigkeiten ist der verbindende gemeinsame politische Wille. Deshalb kommt es für Deutschland jetzt darauf an, einerseits die eigenen Anstrengungen auch im Bereich der „harten“ Sicherheit zu verstärken, andererseits aber sich mit erneutem Elan um den politischen Gleichklang mit Washington zu bemühen und den Vorwurf der sicherheitspolitischen „Trittbrettfahrerei“ überzeugend auszuräumen.
Dr. Rudolf G. Adam war von 1978 bis 2014 im Auswärtigen Dienst tätig, zuletzt als Geschäftsträger der deutschen Botschaft in London. Von 2001 bis 2004 war er Vizepräsident des Bundesnachrichtendienstes und von 2004 bis 2008 Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik. Der Autor gibt seine persönliche Meinung wieder.
1 Siehe hierzu auch das Arbeitspapier Sicherheitspolitik 10/2018 der Bundesakademie für Sicherheitspolitik.
Copyright: Bundesakademie für Sicherheitspolitik | ISSN 2366-0805 Seite 1/3