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Zwischen Elend und High-Tech: Führungskräfteseminar in Indien

Mittwoch, 28. Februar 2018

Nach einem denkwürdigen Grenzübertritt begab sich das Führungskräfteseminar zum zweiten Teil seiner Studienreise in die Hauptstadt Delhi und ins wirtschaftsstarke Bangalore.

Beiderseits eines Grenztores sind verschieden gekleidete Soldaten aufmarschiert und halten ein Zeremoniell ab. Die Szenerie wird durch hunderte Zuschauer auf einer Tribüne verfolgt.

Der Grenzübergang Wagah zwischen Pakistan und Indien (in Blickrichtung hinten) wird allabendlich mit militärischem Zeremoniell geschlossen. Foto: Guilhem Vellut/Flickr/CC BY 2.0

Tausende Zuschauerinnen und Zuschauer, die unter Regieanweisung auf der einen Seite „Hindustan“, auf der anderen „Pakistan“ brüllen, ohrenbetäubende Schlagzeuge, Grenzsoldaten in Paradeuniform: Das halbstündige Spektakel der Wagah Border Ceremony ist eine fein abgestimmte Choreografie gegenseitiger Einschüchterungsposen zwischen Indien und Pakistan, die sich seit über 60 Jahren in einem anhaltenden Spannungszustand befinden. Es findet jeden Abend statt, wenn der derzeit einzige Landübergang der indisch-pakistanischen Grenze unter dem Beifall des begeisterten Publikums geschlossen wird. Echte Gewalt ist bei dieser Inszenierung nicht vorgesehen. Wenige hundert Kilometer weiter nördlich in Kaschmir kommt es hingegen auf beiden Seiten nahezu täglich zu Toten und Verwundeten durch Artillerie- und Gewehrfeuer. Vor diesem Hintergrund bringt die Wagah Border Ceremony das bizarre Verhältnis zwischen den beiden Ländern auf den Punkt.

Für das Führungskräfteseminar der BAKS markierte das Grenzritual zugleich den Übergang von der ersten Station der Studienreise in Pakistan zur zweiten Reiseetappe in Indien. Die nach dem Grenzübertritt in Delhi und Bangalore geführten Gespräche machten vor allem eines deutlich: Während das sicherheitspolitische Denken in Pakistan ganz auf den großen Nachbarn im Osten fokussiert ist, hat Pakistan für Indien längst keine zentrale Bedeutung mehr. Indien sieht sich auf dem Weg zur weltpolitischen Großmacht. Motor dieser Entwicklung soll eine dynamische Wirtschaft sein, und Wirtschaftswachstum um jeden Preis ist das zentrale Anliegen der Regierung unter Narendra Modi seit 2014.

Indien sieht sich auf dem Weg zur Großmacht

Ein Mann steht neben einem teilweise aufgeschnittenen modernen Pkw, der Einblick in die Fahrzeugtechnologie gewährt; zahlreiche Personen schauen den Pkw an.

Selbstbewusste Wirtschaftsmacht: Zahlreiche Hochtechnologiekonzerne haben bereits Standorte in Indien, und das Land hofft auf weitere Investitionen. Foto: Mendel

Auf diese Weise soll die Bevölkerung aus der Armut endgültig befreit, sollen rund eine Million neuer Jobs monatlich geschaffen und ausländische Firmen und Investitionen angelockt werden. Auf diese Weise soll Indien zu einem der wichtigsten globalen Akteure heranreifen und bereits in sieben Jahren mit seiner ökonomischen Potenz an der Wirtschaftskraft Deutschlands vorbeiziehen. Die wichtigsten Verkehrsknotenpunkte nicht nur Asiens, sondern der Welt sollen in Indien entstehen; Digitalisierung und Automatisierungstechnik sollen in allen Lebens- und Wirtschaftsbereichen Einzug halten. Wer so denkt und plant, sieht nicht mehr das im direkten Vergleich kleine und instabile Pakistan als Konkurrenten, sondern die andere Großmacht Asiens: China.

Doch Indien besteht nicht nur aus High-Tech-Firmen und einer oberen Mittelschicht, die längst Teil der globalisierten Welt ist. Teils hautnah erlebten die Seminarteilnehmerinnen und -teilnehmer auch die riesigen Herausforderungen, vor denen das Land steht. Die Umweltverschmutzung, etwa in der Hauptstadt Delhi, hat extreme Ausmaße erreicht; Korruption und Bürokratie erwürgen noch so sinnvolle soziale Projekte. Frauenrechte sind zwar gesetzlich verankert, aber keine gelebte Realität. Das offiziell bereits 1949 durch die Verfassung abgeschaffte diskriminierende Kastenwesen durchdringt nach wie vor erkennbar das soziale Leben des Landes. Die hygienischen Verhältnisse sind teils katastrophal. Es fehlen Schulen, Lehrerinnen und Lehrer, um die nachdrängenden Generationen auszubilden, und der Hindu-Nationalismus nimmt zunehmend aggressive Züge an. Die Wachstumsraten mögen beeindruckend sein – mindestens ebenso beeindruckend waren für die Besucher aus Deutschland die krasse Armut und der alltägliche Verkehrskollaps.

Beeindruckende Entwicklung, beständige Probleme

Links im Foto fährt ein Mensch Motorrad, rechts daneben läuft ein Mensch, der ein Rind an der Leine führt.

Kontrastprogramm: Wirtschaftliches Aufsreben und traditionelle Landwirtschaft existieren in Indien oft direkt nebeneinander. Foto: BAKS/Wagner

Ob Indien diese Probleme lösen kann oder ob sie den wirtschaftlichen Aufschwung scheitern lassen können, ist noch lange nicht ausgemacht. Dem Seminar blieb der oft verwirrende Eindruck eines Giganten, der seit dem Beginn der wirtschaftlichen Liberalisierung Anfang der 1990er Jahre zwar eine beeindruckende Entwicklung genommen hat und gerade unter der gegenwärtigen Regierung Modi über viel Selbstbewusstsein verfügt, der aber auch noch weit davon entfernt ist, zahlreiche alte und neue Hindernisse auf dem Weg zum globalen Akteur aus dem Weg zu räumen.

Dazu gehört auch das Verhältnis zu Pakistan. Indien spielt nach eigenem Selbstverständnis bereits in einer höheren globalen Liga und blickt deshalb auf das mit großen wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Problemen belastete Pakistan herab, nutzt seine Position aber nicht, um das gespannte Nachbarschaftsverhältnis zu verbessern. Eine Politik der ausgestreckten Hand, geschweige denn der ernsthafte Versuch, den Kaschmirkonflikt endlich politisch zu lösen, sind weder für die Politik noch für die Gesellschaft Indiens eine Option. Im Gegenteil, nach indischer Lesart gehört ganz Kaschmir legitim zu Indien. So katastrophal ein Krieg für die Region wäre, bleiben die Fronten zwischen den beiden Atommächten somit verhärtet.

Autoren: Ulf Brüggemann und Claus Wagner