Gesundheitssystem im Härtetest

Blick auf ein Ärzteteam im Operationsraum

Gesundheitssystem im Härtetest

Zwei Szenarien für das Jahr 2035 – Resilienz oder Scheitern der Gesundheitsversorgung

Stärke und Reaktionsfähigkeit eines Gesundheitssystems zeigen sich insbesondere in Notlagen. Dieses kann vor allem durch Vernetzung, interoperable Standards und eingespielte, sektorenübergreifende Zusammenarbeit aller Akteure resilient werden. Markus Scherf entwirft zwei Zukunftsbilder, wie die gesundheitliche Versorgungssicherheit für die Bevölkerung wachsen kann, wenn Zusammenarbeit und Vernetzung gestärkt werden – oder wie sie scheitert, wenn Silodenken bestehen bleibt. Foto: Pixabay/Sasin Tipchai

Szenario: Resilienz des Gesundheitssystems durch integrierte Zusammenarbeit

Im Jahr 2035 befällt eine Krankheit viele Menschen in Süddeutschland: Zunächst zeigen sich nur Hautausschläge, doch im weiteren Verlauf greift sie das vegetative Nervensystem an. Schnell steht fest, dass die Erkrankungen nicht ansteckend sind, doch kommt es in weiteren Regionen zu ähnlichen Ausbrüchen. Rasch kommen Spekulationen auf, die von Laborunfällen bis zu Anschlägen mit gefährlichen Substanzen reichen. Ein Krisenteam des Robert Koch-Instituts in Zusammenarbeit mit der Bundeswehr wird hinzugezogen, analysiert die Proben und stellt fest, dass es sich vermutlich um eine biologisch hochtoxische Substanz handelt. Ermittlungen werden aufgenommen, um das weitere Vorgehen festzulegen.

Das Gesundheitssystem steht derweil vor einem Massenanfall von Erkrankten. Jedoch: Die in den vergangenen Jahren getätigten Investitionen in die Resilienz der Gesundheitsdienste, insbesondere in den Öffentlichen Gesundheitsdienst, zeigen nun Wirkung. Ein etabliertes Echtzeit-Lagebild der betroffenen Landkreise speist sich direkt in die Systeme von Kliniken und Leitstellen ein und schafft eine gemeinsame Datenbasis. Kritische Informationen und Anwendungen sind redundant ausgelegt, sodass Ausfälle einzelner Komponenten den Betrieb nicht lähmen und die Entscheidungsfähigkeit erhalten bleibt. KI-gestützte Modelle prognostizieren Versorgungsengpässe und steuern die Ressourcenallokation vorausschauend. Operativ sind die Versorgungsfunktionen robust organisiert: Segmentierte, widerstandsfähige IT-Strukturen, erprobte Notfall- und Ausfallkonzepte sowie Mindestpuffer in den Lagern für essenzielle Güter sichern die Versorgung.

Regelmäßige Katastrophenschutzübungen haben die Handlungssicherheit erhöht und ein abgestimmtes Vorgehen gefestigt. Viele Krankenhäuser sind inzwischen für Lagen mit chemischen, biologischen, radiologischen und nuklearen Gefahren (CBRN) vorbereitet: Schutzstufenmanagement, standardisierte Aufnahme- und Triagepfade sowie Dekontaminationslinien sind etabliert und können skaliert werden.

Lieferketten für Arznei- und Medizinprodukte werden rasch diversifiziert, Produktionskapazitäten hochgefahren und Genehmigungswege beschleunigt. Betreiber kritischer Infrastrukturen und Industriepartner sichern Energie-, Logistik- und Kommunikationsreserven, Dienstleister stärken Cyberabwehr und Notfallkommunikation. Dank des innovativen Forschungsstandorts Deutschland können Antidoten, Diagnostik und Schutzmaterial zügig entwickelt werden. Flexible Rahmenverträge und regionale Fertigungs- sowie Lagerpools stabilisieren die Versorgung

Vereinheitlichte Lagebilder, kompatible Datenflüsse und robuste, redundante Systeme sichern die Handlungsfähigkeit. Ein abgestimmtes Krisen- und Ressourcenmanagement mit klaren Rollen für Bund, Länder und Kommunen schafft Tempo und Verlässlichkeit. Sicherheitsbehörden unterstützen bedarfsgerecht; die zivil-militärische Zusammenarbeit ist eingeübt. So bleibt das Gesundheitssystem trotz Massenanfall stabil – Resilienz entsteht. Das bildet die Grundlage verlässlicher Versorgung in der Krise.

Szenario: Scheitern der Gesundheitsversorgung durch Fragmentierung

Im Jahr 2035 befällt eine Krankheit viele Menschen in Süddeutschland: Zunächst zeigen sich nur Hautausschläge, doch im weiteren Verlauf greift sie das vegetative Nervensystem an. Obwohl früh klar ist, dass keine Infektionskrankheit vorliegt, melden weitere Regionen ähnliche Ausbrüche. Spekulationen über Laborunfälle oder gezielte Freisetzungen prägen die Debatte. Ein Krisenteam des Robert Koch-Instituts und der Bundeswehr wird aufgestellt und die Zuständigkeiten für das weitere Vorgehen festgelegt.

Derweil wird das Gesundheitssystem vom Massenanfall an Erkrankten an die Funktionsgrenze gedrückt. Echtzeit-Lagebilder bleiben unvollständig, fehlende Interoperabilität auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene und nur punktuelle Redundanz erzeugen Informationslücken. Prognosen fehlen oder widersprechen sich, Ressourcen werden reaktiv verteilt. Dazu kommen: unvollständige IT-Segmentierung, veraltete Ausfallkonzepte, zu geringe Lagerpuffer. Das bewirkt Überläufe in Notaufnahmen, Staus bei Verlegungen und Triage-Entscheidungen unter schlechter Datenlage.

Wo regelmäßige Katastrophenschutztrainings nur auf dem Papier existierten, fehlt Handlungssicherheit. Die Vorbereitung auf chemische, biologische, radiologische und nukleare Lagen ist uneinheitlich und teils defizitär: Dekontaminationslinien sind nicht überall sofort einsatzbereit, Schutzstufenmanagement wird inkonsistent umgesetzt, standardisierte Aufnahme- und Triagepfade verlangsamen sich mangels Routine. Personal fällt aufgrund von Erschöpfung und psychischer Belastung aus; Ersatz- und Rufsysteme greifen unzureichend.

In den Lieferketten treten Cluster-Risiken zutage. Diversifizierung ist begonnen, aber unvollständig, Konsortien steigern Produktionskapazitäten langsamer als nötig. Genehmigungen lassen sich nur begrenzt beschleunigen, da Bürokratie Zeit erfordert. Betreiber kritischer Infrastruktur können Energie-, Logistik- und Kommunikationsreserven nicht stabil hochhalten; temporäre Netzausfälle und Transportengpässe verschärfen die Lage. Die Steuerung versagt nicht, wirkt jedoch schwerfällig. Nicht abgestimmte Informationswege erzeugen Doppelsteuerung und Verzögerungen. Vor Ort existierende Notfallpläne passen nicht zur Dynamik der Lage. Sicherheitsbehörden unterstützen, doch die zivil-militärische Zusammenarbeit leidet unter begrenzter Übungsroutine.

Die Folge ist eine zähe, kosten- und ressourcenintensive Stabilisierung einer Gesundheitsversorgung auf niedrigem Niveau. Patientenflüsse lassen sich nur mit hohem Koordinationsaufwand ordnen, die Behandlungsqualität variiert regional, und das Gesundheitssystem verliert in der öffentlichen Wahrnehmung an Glaubwürdigkeit. In der Konsequenz bricht die Verfügbarkeit eines außerhalb der Krise durchaus funktionierenden Gesundheitssystems ein - es kollabiert an seinen Nahtstellen. Vertrauen in den Staat erodiert, vermeidbare Todesfälle treten auf. Nicht der Einsatz der Akteure scheitert, sondern das Fehlen verlässlicher Schnittstellen für eine integrierte Zusammenarbeit.

Das Denken in Szenarien zählt zum täglichen Handwerkszeug von Führungskräften in Politik, Behörden, Wirtschaft und Zivilgesellschaft – und zu den Methoden der Strategischen Vorausschau, wie sie die BAKS vermittelt. Anlässlich des zehnjährigen Bestehens des Arbeitskreises Junge Sicherheitspolitik haben wir zehn AKJS-Angehörige gebeten, zehn Jahre in die Zukunft zu blicken und zwei Szenarien zu entwerfen: Was wäre der sicherheitspolitische worst case? Und wie soll sich Deutschland stattdessen aufstellen, um als freiheitliche Demokratie in einem sicheren Europa zu bestehen? Ihre Einschätzungen und Empfehlungen erscheinen hier in loser Folge.