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Zusammenfassung Modul 6: Regionale Herausforderungen

Dienstag, 10. Mai 2011

Regionalmächte haben eine bedeutende sicherheitspolitische Rolle inne, wenn es um die Gestaltung ihrer nachbarschaftlichen Be-ziehungen und deren Auswirkungen geht. Die Türkei als Regionalmacht an der Nahtstelle zwischen Europa und Asien stand im Focus des Moduls „Regionale Herausforderungen“.

Eine Menschengruppe steht vor der Deutschen Botschaft in Ankara

Gruppenfoto vor der deutschen Botschaft in Ankara
Quelle: Bundesakademie für Sicherheitspolitik

Folgende Handlungsfelder wurden näher betrachtet:

  • Grundlagen der türkischen Außenpolitik
  • Verhältnis zur Europäischen Union (mit Zypernkonflikt)
  • Verhältnis zu den Nachbarn Iran und Irak
  • Energieversorgung
  • Nahostkonflikt

Neben geopolitischen Aspekten wurde die Frage untersucht, ob und inwieweit die nationale, kulturelle und religiöse Identität der Türkei deren politische Entscheidungen prägen und das regionale Umfeld beeinflussen.
Zum Auftakt des Moduls besuchte Seine Exzellenz Herr Botschafter der Republik Türkei Ahmet Acet die BAKS und gab dem Seminar einen umfassenden Einblick in die aktuellen Kernthemen türkischer Außen- und Sicherheitspolitik. Bei der Studienreise nach Ankara und Istanbul konnten die Seminarteilnehmerinnen und Seminarteilnehmer ihre Erkenntnisse mit hochrangigen Gesprächspartnern aus Politik, staatlichen und nichtstaatlichen Einrichtungen, Wirtschaft und Wissenschaft vertiefen und überprüfen.

Grundlagen der Außenpolitik

Die Geschichte der Türkei seit der Staatsgründung im Jahr 1923 bildet eine wichtige Grundlage für das Verständnis der aktuellen innen- und außenpolitischen Entscheidungen. Zunächst befasste sich das Seminar mit der historisch-politischen Thematik und insbesondere mit der Frage, wie sich die nationale und religiöse Identität gebildet und verändert hat. Die umfassenden politischen Umwälzungen durch Mustafa Kemal Atatürk (1881-1938) mit einer strikten Trennung von Staat und Religion führte z.B. zu einem Verbot jeglicher religiöser Unterweisung. Erst nach 1950 verließ die Regierung den streng laizistischen Weg und erlaubte z.B. religiöse Betätigung im unorganisierten, eingeschränkten Bereich. Ziel des „Kemalismus“ war die Abkehr von der vor allem im ländlichen Bereich vorherrschenden muslimischen Identität und des Osmanismus hin zur Entstehung einer türkisch-nationalen Identität mit vorrangiger Orientierung am Westen einschließlich des Beitritts der Türkei zur NATO. Die inneren Machtkämpfe und die innenpolitische Rolle des Militärs prägten lange die sicherheitspolitische Ausrichtung der Türkei. Mit der zunehmenden Rückkehr der Religion nach 1990 in die öffentliche Diskussion und durch die Politik der AK-Partei seit 2002 wurde ein innenpolitischer Veränderungsprozess eingeleitet. Die türkische Nation ist auf dem Wege, türkische und religiöse Identität zu vereinen und ihre Verankerung in der muslimischen Staatenwelt neu zu justieren.

Dieses neue Selbstverständnis und die sehr gute wirtschaftliche Entwicklung führen zu einem erkennbar gestärkten Selbstbewusstsein der Türkei. Die Einflussmöglichkeit des Militärs wurde durch die Verfassungsreform im Jahr 2010 deutlich reduziert. Die nationalen Interessen der Türkei und ihre Positionierung als Regionalmacht bestimmen die außenpolitischen Strategien. Galt unter Atatürk bereits die Maxime „peace at home, peace abroad“, wird diese nunmehr ergänzt durch den außenpolitischen Grundsatz „zero problem in the neighbourhood“. Das neue Leitbild der Außenpolitik ist die „strategische Tiefe“. Damit wird ein geostrategisches Konzept beschrieben, welches eine aktive multidimensionale und multiregionale türkische Außenpolitik begründet. Die Beziehung der Türkei zu ihrer Umgebung verfolgt die Zielsetzung, Sicherheit und Freiheit in Inneren und mit der Nachbarschaft zu schaffen und erhalten.

Zwei Herren sitzen in einem Besprechungsraum an einem Tisch

Gespräch mit dem Botschafter Fatih Ceylan, stv. Staatssekretär im türkischen Außenministerium
Quelle: Bundesakademie für Sicherheitspolitik

Verhältnis zur Europäischen Union (mit Zypernkonflikt)

Der Modernisierungs- und Reformprozess der Türkei wird wesentlich durch den Status als Beitrittskandidatin zur Europäischen Union beeinflusst. Gleichzeitig wurde in der Türkei auch bewirkt, eine kritische Auseinandersetzung mit Fragen wie der Kurdenpolitik oder der Armenienfrage und deren Auswirkungen auf die innere Sicherheit oder die Geschichtsbewältigung öffentlich überhaupt zu ermöglichen. Die Beitrittsverhandlungen sind derzeit in die Diskussion geraten. Die kritische, enttäuschte Bewertung wird von türkischer Seite vielfach damit begründet, dass die Beitrittsverhandlungen nicht auf der erforderlichen Augenhöhe und der notwendigen Ergebnisoffenheit stattfänden und die EU schleichend von den im Jahr 2005 vereinbarten Grundlagen abrückt. Deswegen schwindet zunehmend die Zustimmung der türkischen Öffentlichkeit zu einer Vollmitgliedschaft in der EU. Ob die Türkei nach einem möglichen positiven Ausgang der Verhandlungen die Vollmitgliedschaft ihrerseits tatsächlich weiter betreiben wird, wird derzeit offen in Frage gestellt.

Der Zypernkonflikt trägt zu den Differenzen mit der EU negativ verstärkend bei. Nach der Ablehnung des Annan-Plans durch Griechenland und der Aufnahme Zyperns in die EU im Jahr 2004 ist ein Interesse an einem neuen Anlauf zur Konfliktlösung nicht erkennbar, es ist vielmehr zu einer Verhärtung der gegensätzlichen Positionen gekommen.

Zwei Herren stehen vor Flaggen der Türkei

Serdar Kilic, Generalsekretär des Nationalen Sicherheitsrates (links)
Quelle: Bundesakademie für Sicherheitspolitik

Verhältnis zu den Nachbarn Iran und Irak

Iran und Türkei verbindet ein dauerhaftes, stabiles Verhältnis. Die Beziehungen wurden selbst durch die Iran-Revolution 1979 nicht signifikant beeinträchtigt. Die wirtschaftliche Zusammenarbeit wurde nach den internationalen Sanktionen wegen des Atomprogramms vielmehr verstärkt. Die Türkei stößt ökonomisch in die entstandene Lücke und beabsichtigt in den nächsten fünf Jahren eine Steigerung der Wirtschaftsbeziehungen um 300% zu erreichen. Offen ist jedoch, ob die nukleare Aufrüstung des Irans mittelfristig zu einer veränderten Bedrohungsperzeption der Türkei führen und diese ebenfalls mit nuklearer Bewaffnung beantwortet wird.
Das Verhältnis zwischen Irak und Türkei unterlag seit der Abtrennung des Irak aus dem Osmanischen Reich im Jahr 1918 vielfältigen Spannungsfeldern. Überwiegend sind diese durch die Kurdenfrage und den Zugang zu Ressourcen (Öl, Erdgas, Wasser) bestimmt. Die Konfliktpotentiale haben sich durch die Politik der strategischen Tiefe entschärft. So könnte sich das Spannungsfeld um die Kurdenpolitik bei Fortsetzung der Entspannungspolitik mittelfristig auflösen. Zudem lässt sich ein starkes Engagement türkischer Unternehmen in der irakischen Wirtschaft feststellen. Gemeinsame ökonomische Interessen begünstigen den Annäherungsprozess.

Energieversorgung

Auf Grund der geographischen Lage rückt die Bedeutung der Türkei für die Energieversorgung Europas immer mehr in den Mittelpunkt. Europa ist der mit Abstand größte Nachfrager für Erdöl und Erdgas. Bei den aktuellen Diskussionen über die Transportinfrastruktur (z.B. Nabucco) geht es neben sicherheitspolitischen Aspekten auch um ökonomische. Im Kern wird problematisiert, ob die Türkei als Drehscheibe oder als Transitland in die strategischen Entscheidungen der Ressourcenländer einbezogen wird. Bei der Erdgasversorgung existieren viele weitgreifende politische Probleme (z.B. ungelöster Rechtsstatus des Kaspischen Meeres). Es wird eine herausfordernde Aufgabe der Außen- und Sicherheitspolitik in Europa sein, sich in enger Abstimmung mit der Türkei der Region und der Energieversorgung zuzuwenden, um damit auch zu erwartenden Verteilungskonflikten vorzubeugen.

Nahostkonflikt und aktuelle Krisengebiete

In Folge ihrer historisch guten Beziehungen zu Israel und gleichzeitiger Verankerung in der muslimischen Welt nahm die Türkei lange Zeit eine Vermittlungsrolle in bilateralen Gesprächen der Konfliktparteien ein. Durch den israelischen Angriff auf den Gaza-Hilfskonvoi gelten die Beziehungen zu Israel seit 2010 als nachhaltig beschädigt. In der derzeitigen politischen Konstellation scheidet eine Annäherung wohl aus mit der Folge, dass die Türkei als Vermittlungspartnerin zwischen Israel und den Palästinensern derzeit nicht zur Verfügung steht.
Für die aktuellen Krisen in den arabischen Ländern, insbesondere Libyen und Syrien, könnte die Türkei als Vermittlerin und Bezugsgröße bei deren Transformation agieren und den bevorstehenden, langwierigen Friedensprozess begleiten. Eine aktive Rolle der Türkei entspräche dem Leitbild der strategischen Tiefe und dem damit verbundenen Grundsatz der „soft power“ - Politik. Es steht zu erwarten, dass die Türkei ihre Aktivitäten in diesen Krisenbereichen verstärken wird.

Fazit

Das wesentliche Ergebnis aus dem Modul 6 kann festgehalten werden:
Der innenpolitische Reform- und Modernisierungsprozess sowie die wirtschaftliche Prosperität begünstigen die innere Stabilität der Türkei. Die Türkei stellt sich ihrer sicherheitspolitischen Aufgabe als Regionalmacht und übernimmt verstärkt außenpolitische Aktivitäten als Mediatorin bei der Lösung von internationalen Konflikten.

Autor: Arbeitsgruppe "Asien" des Seminars für Sicherheitspolitik 2011