Arbeitspapiere

EU-Erweiterungspolitik: Westlicher Balkan und Schwarzmeerraum - Chancen und Risiken

9/2025
Russlands fortgesetzter Angriff auf die Ukraine seit 2022 sowie die Anfang 2025 aufgetretenen Differenzen in der transatlantischen Gemeinschaft bezüglich Fragen der Bündnisloyalität, der Verlagerung von Lasten und des Handels haben die Diskussion um die EU-Erweiterung im Westbalkan und in der Schwarzmeerregion neu belebt. Der europäische Binnenmarkt und die Klausel des Vertrags von Lissabon über die gegenseitige Verteidigung (Artikel 42 Absatz 7 EUV) scheinen in Zeiten russischer Bedrohung an Anziehungskraft zu gewinnen. Aber auch für die EU könnte eine Vergrößerung angesichts der sich verändernden Weltordnung strategische Anreize bieten, um ihre Stellung insgesamt zu festigen. Dieser Beitrag geht der Frage nach, ob diese Annahmen mit der Realität vereinbar sind. Dazu werden die EU-Beitrittskriterien und der Stand der Bewerberländer bei deren Erfüllung erläutert, um dann die institutionellen, politischen, fiskalischen und sicherheitspolitischen Auswirkungen einer Vergrößerung auf die EU in ihrer gegenwärtigen Form und ihre Mitgliedstaaten zu diskutieren.

Vor dem Gebäude der Europäischen Kommission in Brüssel wehen Flaggen der EU.

Der Sitz der EU-Kommission in Brüssel: Bislang stellt jeder Mitgliedstaat einen Kommissar oder eine Kommissarin. Mit Blick auf Effizienz und wirksame Regierungsführung sei fraglich, ob diese Struktur bei weiteren Beitritten aufrechterhalten werden kann, schreiben die Autoren. Foto: Flickr/Thijs ter Haar/CC BY 2.0

1. Kopenhagener Kriterien und Beitrittsprozess

Länder, die der EU beitreten wollen, müssen die Kopenhagener Kriterien erfüllen. Diese Kriterien wurden 1993 festgelegt und sehen stabile demokratische Institutionen, Rechtsstaatlichkeit, den Schutz der Rechte von Minderheiten, eine funktionsfähige Marktwirtschaft und die administrative Fähigkeit, den rechtlichen Besitzstand der Union umzusetzen, als Voraussetzungen für die Mitgliedschaft vor. Nach Antragstellung kann ein Land den Status eines Bewerberlandes erhalten. Formelle Verhandlungen beginnen erst nach einstimmiger Zustimmung aller EU-Mitglieder im Europäischen Rat. Die Beitrittsverhandlungen sind in sechs Cluster gegliedert. Diese umfassen Bereiche wie Binnenmarkt, Wettbewerbsfähigkeit, Umwelt- und Digitalpolitik, Rechtsstaatlichkeit und Außenbeziehungen. Jeder Cluster wird auf der Grundlage nachgewiesener Fortschritte bei der Erfüllung klarer Reformvorgaben, sogenannter Benchmarks, eröffnet und geschlossen. Sobald alle Cluster geschlossen sind, erfolgt die Unterzeichnung und Ratifizierung eines Beitrittsvertrags durch das EU-Parlament, alle EU-Mitgliedstaaten und das Bewerberland selbst.

Der Verhandlungsprozess stellt eine beträchtliche legislative und technische Herausforderung dar. Während die Beitritte Österreichs und Schwedens in den 1990er Jahren nur wenige Jahre dauerte, nahmen nachfolgende EU-Erweiterungen mehr als ein Jahrzehnt in Anspruch: Die sogenannte Luxemburg-Gruppe, die zehn Staaten in Mittel- und Osteuropa, im Baltikum und entlang des Mittelmeers umfasste, trat nach 1997 begonnen Beitrittsverhandlungen 2004 bei. Rumänien und Bulgarien, die seit 1999 in Beitrittsverhandlungen waren, traten 2007 bei. Der jüngste Mitgliedstaat der Union, Kroatien, trat 2013 nach achtjährigen Verhandlungen bei.

2. Aktuelle Bewerberländer

Derzeit sind neun Staaten offiziell Bewerberländer: Albanien, Bosnien und Herzegowina, Georgien, Moldau, Montenegro, Nordmazedonien, Serbien, die Türkei und die Ukraine. Im Dezember 2022 stellte auch die Regierung in Pristina einen formellen Antrag. Aufgrund der anhaltenden Debatte unter den EU-Mitgliedstaaten über die Anerkennung des Kosovo kann es jedoch nicht als offizielles Bewerberland betrachtet werden. Grundsätzlich wurde aber schon 2003 beim Thessaloniki Gipfel allen westlichen Balkanländer eine Beitrittsperspektive gewährt. Neben der Aussicht auf eine spätere Mitgliedschaft wurde von den Bewerberländern erwartet, gutnachbarliche Beziehungen zu fördern und die regionale Zusammenarbeit zu stärken, aber auch EU-Anreize wie spezifische Finanzinstrumente in Anspruch zu nehmen. In den Folgejahren verlief der Erweiterungsprozess im Westbalkan ungleichmäßig.

Der Prozess wurde später auf die Schwarzmeerregion ausgeweitet, wo Russlands groß angelegte Invasion der Ukraine spürbaren Handlungsdruck in die Erweiterungsagenda der EU brachte. Die Türkei hingegen bleibt ein Sonderfall: Die Beitrittsverhandlungen sind seit 2016 im Zuge der politischen Repressalien, die auf den gescheiterten Putschversuch folgten, und der fortdauernden Kritik der EU an diesen Maßnahmen zum Stillstand gekommen. Albanien und Nordmazedonien nahmen 2022 Beitrittsverhandlungen auf. Die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen mit Montenegro und Serbien in den Jahren 2012 beziehungsweise 2014 war zunächst von hoher Reformbereitschaft geprägt; später jedoch bremsten ausbleibende Reformfortschritte und der nachlassende politische Wille die Dynamik zunehmend aus. Bosnien und Herzegowina erhielt 2022 den Status eines Bewerberlandes. Formelle Verhandlungen wurden jedoch bisher nicht eröffnet. In der Schwarzmeerregion wurde der Ukraine und Moldau 2022 im Zuge des russischen Angriffs jeweils der Status eines EU-Bewerberlandes zuerkannt. Georgien wurde Ende 2023 der Status eines Bewerberlandes eingeräumt, nachdem das Land weitere Reformbedingungen erfüllt hatte. Im Sommer 2024 wurden die Beitrittsverhandlungen jedoch aufgrund des Vorgehens gegen Proteste und einer Wiederannäherung an Moskau ausgesetzt.

3. Entwicklungen im Westbalkan

Die Fortschritte in den Westbalkanländern verlaufen bislang schleppend und ungleichmäßig. In den Fortschrittsberichten der Union wird fortlaufend die Umsetzung gesetzlicher und technischer Reformen sowie politischer Reformen angemahnt. Im Jahr 2005 erhielt Nordmazedonien (damals noch offiziell als ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien bezeichnet) den Status eines Bewerberlandes. Der weitere Weg Skopjes in die EU wurde anschließend aufgrund des Namensstreits mit Griechenland und später durch einen Disput mit Bulgarien über Verfassungsfragen im Zusammenhang mit den in Nordmazedonien lebenden ethnischen Bulgaren jahrelang blockiert. Die Beitrittsverhandlungen wurden schließlich im Jahr 2022 parallel zu denen Albaniens aufgenommen, dessen Beitritt ursprünglich an die Fortschritte Nordmazedoniens gebunden war, obwohl Albanien bereits acht Jahre zuvor im Jahr 2014 den Status eines Bewerberlandes erhalten hatte. Im Herbst 2024 nahm Albanien – unabhängig von Nordmazedonien – Verhandlungen über die Cluster auf.

Die Verhandlungen Montenegros und Serbiens können als schwierig bezeichnet werden. Die innenpolitische Landschaft Montenegros galt als instabil und die fragwürdige Beteiligung Chinas an Infrastrukturprojekten trug nicht zur Vertrauensbildung zwischen Brüssel und Podgorica bei. Serbien schien nicht bereit zu sein, eine Angleichung an die EU-Außenpolitik umzusetzen. In Brüssel herrschte häufig Besorgnis hinsichtlich des serbischen Standpunkts zu Sanktionen gegenüber Russland sowie der Unfähigkeit Belgrads, eine Einigung in der Kosovo-Frage herbeizuführen. In Bezug auf Letzteres sehen viele externe Beobachter die Verantwortung für diese Situation zu gleichen Teilen in Belgrad und in Pristina.

Die Spätfolgen der bewaffneten Konflikte, die infolge des Zerfalls Jugoslawiens ausbrachen, prägen Bosnien und Herzegowina bis heute. Die Beendigung des Bosnienkrieges wurde 1995 durch das Dayton-Abkommen besiegelt. Durch das Abkommen erhielt das Land eine höchst komplexe Verfassung, die es den unverantwortlich agierenden Eliten der verfassungsrechtlich anerkannten Ethnien ermöglicht, tiefgreifende Reformvorhaben zu blockieren. Und obwohl dem Staat im Jahr 2022 der Status eines Bewerberlandes zuerkannt wurde, wird die Aufnahme formeller Verhandlungen immer wieder durch schwerwiegende innenpolitische Differenzen und Serbiens destabilisierenden Einfluss auf die Republika Srpska, eine der beiden Entitäten Bosniens und Herzegowinas, behindert. Insgesamt stehen die Bewerberländer des Westbalkans vor anhaltenden Herausforderungen in Bezug auf Rechtsstaatlichkeit und Korruptionsbekämpfung. Einige Länder, wie Albanien und Montenegro, konnten in den letzten Jahren bemerkenswerte Fortschritte erzielen; strukturelle Schwächen in der Unabhängigkeit der Justiz, Transparenz und Rechenschaftspflicht verlangsamen jedoch weiterhin das Reformtempo in der gesamten Region.

Dennoch betonte der damalige EU-Ratspräsident Charles Michel im Jahr 2024, dass aufgrund des Krieges Russlands gegen die Ukraine ein neuer Impuls, eine Wiederbelebung der Erweiterungsstrategie entstanden sei. Er warnte davor, die Erweiterung nicht weiter voranzutreiben und bezeichnete dies als unverantwortlichen Fehler.[1] Michels Worte beschreiben den Spannungszustand in der EU-Erweiterungsdebatte eindrücklich: Einerseits hat die geopolitische Situation den Druck erhöht, die Erweiterung zu beschleunigen; andererseits beharrt die Union weiter darauf, dass der EU-Beitritt ein leistungsbezogener Vorgang auf Basis von Reformen und Benchmarks sein muss. Es ist nach wie vor unklar, ob dieser heikle Balanceakt zwischen strategischen Imperativen und prozeduralen Konditionalitäten gelingen kann. Infolgedessen erkannte die EU Bosnien und Herzegowina den Status eines Bewerberlandes zu und weitete somit ihr politisches und finanzielles Engagement in der gesamten Region aus. Der neu eingeführte Wachstumsplan für den westlichen Balkan (2024-2027), der mit sechs Milliarden Euro unterstützt wird, zielt unter anderem darauf ab, Reformen zu unterstützen und eine frühzeitige Integration in Teile des EU-Binnenmarkts zu erleichtern.

4. Entwicklungen in der Schwarzmeerregion

Laut Charles Michel markierte der Februar 2022 einen Wendepunkt in den Beziehungen der EU auch zu ihren östlichen Nachbarn. Nur wenige Tage nach dem russischen Angriff reichte die Ukraine ihren Antrag auf EU-Mitgliedschaft ein, gefolgt von Moldau und Georgien. Im Juni 2022 erkannte der Europäische Rat sowohl der Ukraine als auch Moldau den Status von Bewerberländern zu. Der Rat würdigte Kyjiws Bemühungen um die Verteidigung der europäischen Werte und erkannte Moldaus fragile geopolitische Position sowie das Bestreben Chisinaus an, lange erwartete Reformen in Bereichen wie Rechtsstaatlichkeit, Bekämpfung der Oligarchisierung und Energieversorgung voranzutreiben. Die Europäische Kommission erkannte zuvor in ihrem Erweiterungsbericht 2023 die Fortschritte der Ukraine an und empfahl die Eröffnung von Beitrittsverhandlungen. Trotz des bewaffneten Konflikts habe der Staat innenpolitische Reformen in Bereichen wie Korruptionsbekämpfung und Unabhängigkeit der Justiz vorangetrieben. Die Ukraine und Moldau befinden sich derzeit in der Screening-Phase des Verhandlungsprozesses. Georgien wird, anders als im vorangegangenen Jahrzehnt, derzeit nicht von einer proeuropäischen Regierung geführt und hat die Beitrittsverhandlungen ausgesetzt.

Zusammenfassend lässt der bisherige Verlauf der Beitrittsprozesse dieser Schwarzmeerstaaten den Schluss zu, dass Moskaus Krieg gegen die Ukraine nicht lediglich eine Beschleunigung, sondern eine grundlegende Neugestaltung des Erweiterungsansatzes der EU bewirkt hat. Was vor wenigen Monaten politisch undenkbar schien, wird als geopolitische Notwendigkeit betrachtet. Die Erweiterung ist nun Teil eines breiteren Spektrums, dass Debatten über die Beendigung des Krieges in der Ukraine, Sicherheitsgarantien, NATO-Perspektiven und ein verstärktes europäisches Engagement im Rahmen von Koalitionen der Willigen oder GSVP-Instrumenten umfasst. In diesem strategischen Kontext wird die Verankerung der Ukraine und Moldaus innerhalb der Union als entscheidend für die Stabilität und Sicherheit Europas angesehen. So wird insbesondere die Ukraine in mehreren Bereichen ähnlich einem EU-Mitgliedstaat behandelt. Gleichwohl bestehen nach wie vor legislative und technokratische Hürden, da die EU-Erweiterung weiterhin dem leistungsbezogenen Beitrittsrahmen aus Clustern, Kapiteln, Benchmarks und an Bedingungen geknüpften Reformen unterliegt. Politisch hat Charles Michel die EU und die Bewerberländer aufgefordert, „bis 2030 erweiterungsbereit“ zu sein. Er erhöhte damit den Handlungsdruck in Brüssel und in den Hauptstädten der Kandidaten, sich der Komplexität dieser Aufgabe zu stellen.

5. Institutionelle Auswirkungen der Erweiterung

Angenommen, es gelänge den Bewerberländern, die Kopenhagener Kriterien zu erfüllen: Welche Auswirkungen hätte dies auf die EU und insbesondere auf das Funktionieren ihrer Institutionen? Der derzeitige institutionelle Rahmen wurde für eine kleinere Union konzipiert und stößt bereits bei der derzeitigen Anzahl von Mitgliedstaaten an seine Grenzen. Eine Erweiterung der EU auf mehr als 30 Mitglieder würde die Wirksamkeit der Entscheidungsfindung noch mehr gefährden und Ungleichgewichte im institutionellen Geflecht zur Folge haben. Im Falle eines Beitritts der Bewerberländer wären Reformen erforderlich, um die Funktionsfähigkeit der Union ausreichend zu gewährleisten. Im Hinblick auf die Entscheidungsprozesse und Abstimmungsverfahren könnten einstimmige Beschlüsse, insbesondere in sensiblen Bereichen wie der Außen- oder Sicherheitspolitik, nicht mehr zustande kommen. Dabei wird eine Ausweitung der Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit zunehmend als notwendig erachtet. Auch bei den Regeln die qualifizierte Mehrheit betreffend sind unter Umständen Änderungen erforderlich. Die derzeitige Schwelle für eine Sperrminorität (mindestens vier Staaten, die 35 Prozent der EU-Bevölkerung ausmachen) könnte kleinen Ländern einen unverhältnismäßigen Einfluss verschaffen. Ohne institutionelle Anpassungen läuft eine erweiterte Union Gefahr, durch Blockaden politisch gelähmt zu werden – eine Dynamik, die sich bereits jetzt in der EU abzeichnet, insbesondere durch Vetoentscheidungen beziehungsweise Vetoandrohungen gegen Beschlüsse im Europäischen Rat durch Ungarn und jüngst auch durch die Slowakei.

In Erwägung der Größe und Effizienz der Europäischen Kommission scheint es fraglich, ob die derzeitige Struktur aufrechterhalten werden könnte. Bestünde jeder Mitgliedstaat darauf, jeweils einen Kommissar zu stellen, könnte die Kommission auf 35 Mitglieder anwachsen. Eine Kommission dieser Größe wird weithin als Hemmnis für eine wirksame Regierungsführung angesehen. Die Reformideen umfassen die Verringerung der Zahl der Vollkommissare durch Einführung von Stellvertretern und die Schaffung einer klaren Hierarchie durch die Einführung von Einheiten aus federführenden und zugeordneten Kommissaren.

Darüber hinaus müsste die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments überprüft werden. Neue Mitgliedstaaten würden Abgeordnete nach Brüssel entsenden; die Gesamtzahl der Sitze im Parlament ist jedoch derzeit begrenzt. Die Erhöhung der Anzahl der Sitze beziehungsweise die Unterstützung der Forderung, dass die aktuellen Mitgliedstaaten Sitze aufgeben, erscheint politisch heikel. Allein die Ukraine hätte Anspruch auf 40 bis 50 Sitze. Eine Lösung könnte darin bestehen, die Gesamtzahl der Europaabgeordneten zu erhöhen und den Vertrag von Lissabon entsprechend zu ändern. In jedem Fall ist eine Neukalibrierung im Hinblick auf die Funktionsfähigkeit des Europäischen Parlaments erforderlich. Insgesamt kann die Erweiterung ohne institutionelle Anpassung nicht gelingen. Reformen der Abstimmungsregeln, der Zusammensetzung der Kommission und der Größe des Parlaments müssen mit dem Beitritt neuer Mitgliedstaaten einhergehen. Brüsseler Entscheidungsträger kommen zunehmend zu der Einsicht, dass tiefgreifende interne Reformen, die über einen einfachen Parallelprozess hinausgehen, nötig sind, bevor eine Erweiterung umgesetzt werden kann. Eine Änderung des Vertrags von Lissabon oder gar die Ausarbeitung eines neuen Vertrags würde jedoch eine politische Einigung zwischen den Regierungen der derzeitigen Mitgliedstaaten voraussetzen. Zeitrahmen und Ergebnis eines solchen Prozesses sind nur schwer vorhersehbar.

6. Politische und fiskalische Auswirkungen der Erweiterung

Abgesehen von der Notwendigkeit, die EU institutionell vorzubereiten, soll ein weiterer Aspekt der EU-Erweiterung näher beleuchtet werden: die finanziellen Auswirkungen auf die Union und ihre derzeitigen Mitgliedstaaten. Die Integration von Empfängerländern in die EU erfordert finanzielle Anstrengungen. Dies gilt für zwei wichtige Haushaltsinstrumente: die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) und den Kohäsionsfonds. Beide müssten deutlich aufgestockt werden. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) der meisten Bewerberländer liegt deutlich unter dem EU-Durchschnitt. So lag das Pro-Kopf-BIP der Ukraine 2023 bei rund 12 Prozent des EU-Durchschnitts und beispielsweise das serbische bei etwa 30 Prozent. Aufgrund dieser Ungleichheiten hätten neue Mitglieder nach den geltenden Regeln Anspruch auf erhebliche Fördermittel aus dem EU-Haushalt. Eine erweiterte EU müsste ihre GAP erneut überdenken, da die Bewerberländer in weiten Teilen ländlich geprägt sind und relativ niedrige landwirtschaftliche Einkommen generieren. Die Ukraine beispielsweise verfügt über einen großen Agrarsektor und könnte somit der größte GAP-Empfänger werden. Nach Schätzungen des wirtschaftswissenschaftlich ausgerichteten europäischen Think Tanks Bruegel müssten die GAP-Ausgaben um rund 29 Prozent steigen, wenn das aktuelle Förderniveau beibehalten würde und alle Kandidatenländer beitreten würden.[2] Dies könnte über einen mehrjährigen Haushaltszyklus mehr als 100 Milliarden Euro an Mehrkosten bedeuten. Vorschläge reichen daher von der Reduzierung der Auszahlungen pro Hektar über die Einführung von Obergrenzen für große Landwirtschaftsbetriebe bis hin zur Reform der GAP hin zu einer stärkeren Orientierung auf kleine und nachhaltige Landwirtschaft.

Im Hinblick auf die Kohäsionspolitik der EU würde eine Erweiterung auch beträchtliche Auswirkungen auf die Entwicklungsfinanzierung der Mitgliedstaaten und ihrer Regionen nach sich ziehen. Die Integration wirtschaftlich schwächerer Länder hätte einen Rückgang des durchschnittlichen Pro-Kopf-BIP der EU zur Folge und würde den Förderschwerpunkt stärker auf neue Mitglieder verlagern. Mittel- und osteuropäische Länder (zum Beispiel Polen, Ungarn oder Rumänien) könnten einen Teil ihrer derzeitigen Unterstützung verlieren. Bruegel zufolge könnten die Ausgaben im Rahmen des Kohäsionsfonds in einem künftigen mehrjährigen EU-Haushalt um sieben Prozent steigen. Um die Auswirkungen abzumildern, würde die EU wahrscheinlich Instrumente wie schrittweise Zahlungserhöhungen und finanzielle Sicherheitsnetze einsetzen, wie es bereits bei früheren Erweiterungen der Fall war. Ein Szenario kommt zu dem Schluss, dass die Integration von acht neuen Mitgliedern den EU-Haushalt von 1,12 Prozent auf 1,23 Prozent des gesamten BIP der Union erhöhen könnte. Dies bedeutet, dass der für den gemeinsamen Haushalt aufgewendete Anteil an der kollektiven Wirtschaftsleistung der EU leicht steigen würde, um die Kosten der Erweiterung zu decken. Dies entspräche einer jährlichen Haushaltsaufstockung im Bereich von 15 bis 25 Milliarden Euro. Dieser Betrag scheint zwar gewaltig, ist aber vergleichbar mit anderen EU-Projekten der jüngeren Vergangenheit (zum Beispiel das Aufbauinstrument NextGenerationEU). Insgesamt kann die nötige Summe also als überschaubar bezeichnet werden. Eine Erhöhung des EU-Haushalts um rund zehn Prozent könnte Länder unterstützen, die zusammen einen Anteil von rund 15 Prozent am Zuwachs der derzeitigen EU-Bevölkerung haben. Mit gezielten Reformen, insbesondere im Rahmen der GAP- und Kohäsionspolitik, könnte die EU die Integration finanzieren, ohne die fiskalische Stabilität zu gefährden.

7. Strategische und sicherheitspolitische Auswirkungen

Vor dem Hintergrund der notwendigen EU-internen Reformen, Zweifeln angesichts der Erfüllung der Beitrittskriterien und vorsichtigem Optimismus hinsichtlich der finanziellen Machbarkeit, stellt sich eine zentrale Frage: Welche strategischen Vorteile würden sich für die EU, ihre Mitgliedstaaten und Bewerberländer ergeben, die den Aufwand einer Erweiterung rechtfertigen? Zahlreiche Wissenschaftler, Politiker und Experten sind der Auffassung, dass alle Anstrengungen eine Investition in ein sichereres und stärkeres Europa bedeuten würden. Ihrer Auffassung nach wäre eine Erweiterung der EU im Westbalkan und in der Schwarzmeerregion im Kontext des zunehmenden Kräftemessens zwischen Großmächten und der Aufweichung der regelbasierten internationalen Ordnung von erheblichem strategischem Gewicht. Einige Stimmen verweisen auf historische Lehren und vertreten die Ansicht, dass eine Erweiterung durch Einbettung fragiler Staaten in einen stabilen politischen und rechtlichen Ordnungsrahmen langfristig friedensfördernd wirke. Für den Westbalkan wäre eine EU-Mitgliedschaft gleichbedeutend mit einer ultimativen Garantie gegen das erneute Aufflammen ethnischer Konflikte und den Zerfall staatlicher Strukturen. Sie bände ehemalige Widersacher in einen gemeinsamen institutionellen Rahmen, wie es auch für Frankreich und Deutschland nach 1945 der Fall war. In diesem Sinne könnte durch die Erweiterung der Prozess der Konfliktlösung vorangetrieben werden, indem etwa Druck auf Serbien und Kosovo erzeugt würde, die gegenseitigen Beziehungen zu normalisieren und Anreize für die politischen Fraktionen Bosnien und Herzegowinas geschaffen würden, sich einander anzunähern. Im Hinblick auf die Ukraine, Moldau (und idealerweise auch Georgien) könnte die EU-Integration einen endgültigen Ausstieg aus einem von Moskau dominierten postsowjetischen Raum bedeuten. Insbesondere in Bezug auf die Ukraine wurde die Anerkennung als Bewerberland als Faktor wahrgenommen, der eine Stärkung der Resilienz der Ukrainer und der Hoffnung für die Nachkriegszeit zur Folge hatte.

Beobachter sind zudem der Auffassung, dass ein EU-Beitritt demokratische Normen stärken und Rechtsstaatlichkeit gewährleisten würde sowie ein strategisches Gegengewicht zum autoritären Einfluss externer Akteure schaffen würde. Moskau und Peking nutzen den Zugang zu Energieressourcen als Hebel, um auf aggressive Weise alternative Gesellschaftsmodelle zu etablieren und ihre machtpolitische Position zu stärken. Dagegen bietet die EU regelbasierte Governance, offenen Marktzugang sowie demokratische und handelspolitische Standards. Die Erweiterung würde somit zu einem Instrument des geopolitischen Wettbewerbs werden, das zeigt, dass das europäische Modell tragfähig und attraktiv bleibt. Trotz der Problematik im Hinblick auf die demokratischen Rückschritte einiger EU-Mitgliedstaaten wird argumentiert, dass die Kandidaten nach ihrem Beitritt eine vollständige Angleichung an die rechtlichen EU-Standards durchführen müssten. Damit würden die Möglichkeiten externer Regime, interne Bruchlinien zu eigenen Zwecken auszunutzen, reduziert.

Zudem wird argumentiert, dass EU-Mitglieder Teil einer Sicherheitsgemeinschaft seien– je größer die Gemeinschaft, umso mehr Sicherheit für die Mitgliedstaaten. Die EU ist zwar an sich kein militärisches Bündnis, eine Erweiterung hätte aber indirekte Sicherheitsvorteile. Die politische Botschaft zielt auf Abschreckung: Die Ausweitung des EU-Schirms nach Artikel 42 Absatz 7 EUV auf die Ukraine oder den Westbalkan würde signalisieren, dass diese Länder fest in einem kollektiven (europäischen) Westen verankert sind. Insbesondere im Hinblick auf die Ukraine weisen Befürworter einer Erweiterung auf verschiedene Sicherheitsaspekte hin. Das Land hätte wirtschaftliche Vorteile durch den Zugang zum Binnenmarkt und entwicklungspolitisches Potenzial durch die oben genannten Instrumente. Weiterhin gäbe es energietechnische Vorteile durch die Integration in EU-Netze und natürlich politische durch eine formelle Ausrichtung auf Westeuropa. Stimmen aus der Sicherheits- und Verteidigungscommunity machen allerdings auch deutlich, dass ein Beitritt des Landes nicht allein zum Vorteil der Ukrainer sei. Kyjiw könnte wichtige Beiträge zur europäischen Gemeinschaft leisten. So verfügt die Ukraine über die stärksten konventionellen Streitkräfte mit der umfassendsten Kampferfahrung in Europa. Darüber hinaus verfügen die ukrainische Gesellschaft und die verteidigungsindustrielle Basis des Landes über wertvolles Wissen im Hinblick auf Innovationen der Verteidigungsfähigkeit und Resilienz sowie über Erfahrung im Zusammenhang mit aktuellen Strategien und Taktiken, durch die der russischen Kriegsführung – Stichwort: Drohnen – wirksam begegnet werden kann. In Bezug auf praktisches Wissen zur Reaktion auf Krisen könnte die Ukraine daher als Geberland und die Union als Empfängerin bezeichnet werden.

Zudem wird von Befürwortern angeführt, dass eine größere EU mit über 500 Millionen Bürgern und strategischer geografischer Bedeutung ein sehr viel stärkeres Gewicht auf globaler Bühne hätte. So könnten beispielsweise die Agrarexporte der Ukraine und die Anbindung an das Schwarze Meer die Relevanz der EU im Hinblick auf die Ernährungssicherheit und den Welthandel stärken. Neue Mitglieder würden auch das Stimmgewicht der EU in internationalen Organisationen erhöhen. Vor allem könnte eine Erweiterung verdeutlichen, dass die Union in der Lage ist, sich zu wandeln und zu wachsen, auch unter geopolitischem Druck. Dies würde eine klare globale Botschaft senden: Demokratie und Integration sind Aggression und Fragmentierung überlegen. Moldau könnte ähnliche Vorteile aus einer Mitgliedschaft ziehen und wäre langfristig vor Destabilisierung geschützt. Aus Sicht der EU schließt diese Erweiterung eine große Sicherheitslücke entlang der Ostflanke. Eine Mitgliedschaft würde eine Pufferzone angreifbarer Staaten durch eine Kette von Demokratien ersetzen, die in europäische Strukturen integriert sind.

Befürworter einer Erweiterung argumentieren zudem, dass ein EU-Beitritt nicht von bürokratischen Formalitäten dominiert werden sollte, sondern als strategischer Prozess zu verstehen sei, der eine klare politische Richtung erfordert. Die Erweiterung sei mehr als eine bloße Checkliste technischer Voraussetzungen, sondern umfasse vielmehr das Engagement in der Beilegung von Disputen, die aktive Unterstützung bei der Umsetzung von Reformen und die Schaffung von Stabilität (zum Beispiel im Rahmen von Missionen im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik). Diese Stimmen unterstreichen, dass die Union eine strategische Antwort auf Instabilität in ihrer direkten Umgebung brauche. Die Erweiterung der Union leiste einen Beitrag zur Friedensförderung, stärke die Abwehr der Einflussnahme rivalisierender Mächte, fördere die demokratische Governance und versetze die EU in die Lage, in einem umkämpften globalen Umfeld entschiedener zu handeln. Jede andere Option zöge demnach deutlich höhere Kosten nach sich.

Skeptiker bezüglich einer Erweiterung verweisen auf die magere Bilanz der Reformfortschritte in den Bewerberländern. Ihrem Verständnis nach sind die gesetzgeberischen, technischen und bürokratischen Benchmarks der Kopenhagener Kriterien Ausdruck der europäischen Werte. Die Nichterfüllung eines oder mehrerer dieser Kriterien durch ein Bewerberland bedeutet ihnen zufolge also, dass das betreffende Land nicht die Werte der Union und ihrer Mitgliedstaaten teile. Darüber hinaus verweisen skeptische Stimmen auf den komplexen Prozess der Umgestaltung der EU-Institutionen, der notwendig ist, um weitere Mitglieder aufzunehmen. Einige dieser Stimmen warnen, dass es angesichts der zusätzlichen Mittel, die für neue Mitglieder im Bereich der GAP und des Kohäsionsfonds erforderlich wären, in den derzeit begünstigten Mitgliedstaaten wenig Bereitschaft gibt, eine geringere finanzielle Unterstützung aus Brüssel in Kauf zu nehmen.

8. Ausblick

In diesem Beitrag kann keine Wertung dahingehend getroffen werden, welcher Sichtweise Vorrang eingeräumt werden soll. Sowohl der an geopolitischen Notwendigkeiten ausgerichtete strategische Ansatz als auch der eher technokratische Ansatz, der eine EU-Mitgliedschaft an leistungsbezogene Bedingungen knüpft, bieten Vor- und Nachteile. Letztlich ist nicht einmal sicher, ob der aktuelle Kreis potenzieller Bewerberländer Fortbestand haben wird. Aktuelle geostrategische Faktoren, darunter der Wettbewerb von Großmächten, gesellschaftliche Polarisierung, konkurrierende Narrative, Handelsunsicherheiten, die Lastenverlagerung innerhalb bestehender Bündnisse und die eventuelle Ausweitung bewaffneter Konflikte in Europa, könnten zur Folge haben, dass sich Eliten und Wähler in den Kandidatenländern von einer weiteren europäischen Integration abwenden.

Georgien hat den Verhandlungsprozess bereits ausgesetzt. Die Wahlen in Moldau wurden begleitet von einem breiten Spektrum an hybriden Operationen Russlands mit dem Ziel der Beeinflussung der moldauischen Gesellschaft. Auf dem Westbalkan könnte ein unausgegorenes Einfrieren des russisch-ukrainischen Konflikts mit dem Narrativ einer schwachen EU verbunden werden. Eliten, beispielsweise in Belgrad oder Banja Luka, könnten sich ermutigt fühlen, die aktuellen territorialen Grenzen zu hinterfragen. Ein unausgereifter Friedensvertrag könnte aber auch einen gegenteiligen Effekt haben: Aggressives Gebaren externer Akteure könnte Zivilgesellschaften und Regierungen dazu bewegen, noch schneller unter dem Dach Brüssels Schutz zu suchen.

Die Maxime, „bis 2030 erweiterungsbereit“ zu sein, ist ambitioniert und möglicherweise sogar ohne Alternative. Sie ist sicherlich eine Botschaft der Hoffnung in Zeiten globaler Unsicherheiten und internationaler Krisen, und sie eröffnet Chancen. Dabei sollte aber auch berücksichtigt werden, dass Voraussetzungen wie interne politische und institutionelle Reformen und externe Verpflichtungen erfüllt werden müssen. Um nochmals Charles Michel zu zitieren: „Wir stehen kurz vor einem weiteren historischen Moment für unsere Union. Wir haben die Chance, Geschichte zu schreiben. Ergreifen wir diese Chance mit beiden Händen.“

RD Dr. Sebastian von Münchow lehrt und forscht für die Bundeswehr am George C. Marshall European Center for Security Studies (GCMC) in Garmisch-Partenkirchen zu den Themen euro-atlantische Integration Osteuropas,
EU-NATO Kooperation, Internationale Organisationen, Verfassungsrecht und Sicherheit im Westlichen Balkan.
Benjamin Spindeldreier hat den Bachelorstudiengang Political and Social Studies an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg und ein Praktikum am GCMC absolviert. Derzeit bereitet er sich auf den Master of International Affairs an der Hertie School in Berlin vor. Die Autoren geben ihre persönliche Meinung wieder.

 

[1] Siehe Baczynska, Gabriela (2024): Russia's war in Ukraine boosts EU case for further expansion, chairman says, in: Reuters, 29.04.2024 [online].

[2] Darvas, Zsolt / Mejino-López, Juan (2024): What Enlargement Could Imply for the European Union’s Budget, Bruegel Analysis, 12.12.2024 [online].

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