Arbeitspapiere

Kommerzielles Projekt oder strategische Desorientierung? Die umstrittene Nord Stream-2 Gaspipeline

19/2018
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Die Nord Stream-2 Gaspipeline ist innerhalb der EU zu einem außenpolitischen Spaltpilz geworden, für den im Wesentlichen Deutschland verantwortlich ist. Während Berlin an der Auffassung festhält, dass die geplante Pipeline primär ein kommerzielles Projekt Gazproms ist, wird in Moskau die geopolitische Bedeutung hervorgehoben: Russisches Pipelinegas oder US-Flüssiggas-Importe? Die potentiellen strategischen Auswirkungen werden in der politischen Diskussion Deutschlands weitgehend ausgeblendet oder marginalisiert. Aus Sicht Brüssels und der osteuropäischen EU-Mitglieder hat Deutschland das Projekt ohne Rücksicht auf ihre strategischen Interessen sowie politische Solidarität forciert und damit entgegen der gemeinsamen EU-Energier(außen)politik deutsch-russischen Sonderbeziehungen Priorität eingeräumt.

Kein anderes energiepolitisches Projekt der EU und Deutschlands ist so umstritten wie der Bau der Gaspipeline Nord Stream-2 (NS-2). Innerhalb der EU hat Deutschland, das mehr als jedes andere Land den Bau verteidigt hat, keine politische Mehrheit für den Pipeline-Bau erhalten. In Brüssel sind sowohl die Europäische Kommission als auch die große Mehrheit des Europäischen Parlaments dagegen. Innerhalb der EU-28 wurde das Projekt nur von Österreich und mit Abstrichen den Niederlanden sowie Frankreich unterstützt. Trotz der bereits seit 2011 in Betrieb genommenen und ebenfalls umstrittenen Nord Stream-1 Pipeline (NS-1) hat Berlin NS-2 bisher mit den Argumenten durchgesetzt, dass diese ein rein oder zumindest primär kommerzielles Projekt sei und die europäische Energiesicherheit stärke. Damit ist die Bundesregierung zugleich energieaußenpolitischen Diskussionen aus dem Weg gegangen. Im April 2018 hatte die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel konzediert, „dass es sich nicht nur um ein wirtschaftliches Projekt handelt, sondern dass natürlich auch politische Faktoren zu berücksichtigen sind.“ Damit verwies sie auf die Frage nach der Zukunft des ukrainischen Transitstatus für russische Gasexporte nach 2019 (wenn der russisch-ukrainische Gastransitvertrag ausläuft), den Russland nur noch temporär bis zur Fertigstellung der Umgehungspipelines NS-2 und Turkish Stream aufrechterhalten will. Demgegenüber wollen die EU-28, einschließlich Deutschlands, den ukrainischen Transitstatus auch langfristig aufrechterhalten.

Tatsächlich wirft das Gaspipelineprojekt nicht nur strategische Fragen auf, inwieweit das Vorhaben den auch von Deutschland im Europäischen Rat unterzeichneten Zielsetzungen der Gasimportdiversifizierungsstrategie der gemeinsamen Energiepolitik der EU widerspricht. Vielmehr wirft das Projekt auch Grundsatzfragen des energiepolitischen Entscheidungsprozesses in Deutschland auf, weil einmal mehr ein solches Schlüsselvorhaben (wie bereits die Energiewende in 2011) unilateral ohne Vorabkonsultationen mit Brüssel und den Nachbarstaaten unterstützt wurde. Auch wurde weder die Expertise des Auswärtige Amtes vorab hinsichtlich der Implikationen für die EU-Politik einbezogen, noch wurde die Bundesnetzagentur beauftragt, eine Analyse zu den Auswirkungen auf den europäischen und nicht nur deutschen Gasmarkt zu erstellen. Die Festlegung der Regierungsposition basiert weitgehend allein auf der Unterstützung der beiden beteiligten deutschen Gasunternehmen Wintershall und Uniper. Dies widerspricht jedoch dem Ansatz einer „vernetzten Energiesicherheit“ und eines umfassenden Sicherheitsbegriffs, bei dem auch weitergehende wirtschafts- und außenpolitische Auswirkungen berücksichtigt werden müssen.

Auf die Fragwürdigkeit der kommerziellen Profitabilität des NS-2 Pipelineprojektes für Russland ist der Autor an anderer Stelle eingegangen.1 Bestätigt wurde diese jüngst durch einen veröffentlichten Bericht der staatlichen russischen Sberbank, die Gazprom vorwarf, mit den neuen teuren Gasexportpipelines Power of Siberia, Turkish Stream und NS-2 in unrentable und strategisch schlecht geplante Projekte zu investieren.2 So würde das NS-2 Pro­jekt für Gazprom über die nächsten 20 Jahre keinen Gewinn abwerfen. Die Pipelineprojekte seien primär ein Selbstbedienungsladen für russische Bauunternehmer mit engen Beziehungen zum Kreml, so der Bericht. In der folgenden Analyse sollen die wesentlichen energieaußenpolitische Argumente für den Pipelinebau kritisch reflektiert werden, die entweder gar nicht oder völlig unzureichend in Deutschland diskutiert werden. Der Autor dieser Analyse stellt weder die Bedeutung von Erdgas für einen längeren Übergangsprozess zu einem nicht-fossilen Energiezeitalter in Frage, noch bezweifelt er die Notwendigkeit zukünftiger Gasimporte aus Russland. Allerdings geht es sehr wohl um die Fragen, inwieweit Deutschland und die EU sich noch mehr als bisher von Russlands Gasexporten nach Europa abhängig machen sollen und inwieweit der Bau der NS-2 Pipeline den vereinbarten und von den deutschen Bundesregierungen mitunterzeichneten strategischen Zielsetzungen der EU-Energiesicherheitsstrategie widerspricht.

Nur ein kommerziell-privatwirtschaftliches Projekt?

Alle neu geplanten russischen Gasexportpipelines – wie NS-1, South Stream, Blue Stream und NS-2 – sind vom Kreml mit der strategischen Zielsetzung legitimiert worden, die Ukraine zu umgehen. Würde die Ukraine weiterhin ausschließlich von Russlands Gasexporten abhängig und ohne Diversifizierungsmöglichkeiten bleiben, während Russland sein Gas nicht mehr über die Ukraine nach Europe exportiert, wäre Kiew von Moskau völlig abhängig und politisch erpressbar. Die Umgehungsstrategie der russischen Gasexporte nach Europa dient somit nicht allein kommerziellen, sondern auch geopolitischen Interessen Moskaus.

Bei der russischen Gaspipelineexportdiplomatie können kommerzielle von strategischen und geopolitischen Interessen des Kremls nicht getrennt werden, wie von russischen Experten in nicht-offiziellen Gesprächen, den innenpolitischen Diskussionen in Russland und sogar von europäischen Gasmanagern bestätigt wird. Auch die offizielle russische Wirtschafts-, Außen- und Sicherheitspolitik macht hieraus kein Geheimnis. Als Arm des Kremls entscheidet Gazprom niemals ohne dessen Zustimmung über den Bau neuer Gasexportpipelines. Und es ist der russische Präsident, der über die Möglichkeit zukünftiger Flüssiggas-Exporte nach Europa der anderen russischen Gasproduzenten Novatek und Rosneft final entscheidet. Bisher drohten die russischen Flüssiggasexporte den eigenen Gazprom-Gaspipelinelieferungen nach Europa Konkurrenz zu machen und die geopolitische Einflussnahme Russlands in Europa zu schwächen. Allerdings sind jüngst durch Präsident Putin erste Flüssiggasexporte nach Großbritannien und Spanien erlaubt worden.

Stärkung der europäischen Energieversorgungssicherheit? – Die EU-Gasimportdiversifizierung

Die EU-28 haben sich nach der Gaskrise von 2009 auf verstärkte Diversifizierungsanstrengungen für Gasimporte aus anderen Ländern verständigt und diese infrastrukturell forciert sowie nach der russischen Annexion der Krim 2014 mit Zustimmung Deutschlands noch bekräftigt. Die NS-2 Gaspipeline widerspricht der EU-Gasdiversifizierungsstrategie, weil sie die Abhängigkeit von russischem Importgas erhöht und nicht reduziert sowie zu einer Routenkonzentration statt zu einer Routendiversifizierung führt. Durch den Bau von NS-2 droht die Abhängigkeit Deutschlands bei russischen Gasimporten von rund 45 Prozent in 2017 auf 50 bis 60 Prozent weiter anzusteigen. Zudem dürfen auch die Auswirkungen auf bereits existierende oder geplante Gasimportdiversifizierungsprojekte, die einen politischen Prioritätsstatus in der gemeinsamen EU-Energiepolitik genießen, nicht übersehen werden.

Aus polnischer Sicht könnte der Bau von NS-2 negative Auswirkungen auf den kommerziellen Betrieb des Flüssiggasterminals in Swinemünde haben und damit die eigenen Gasimportdiversifizierungsanstrengungen, einschließlich des Offshore-Pipelineprojekts Baltic Pipe von Norwegen über Dänemark nach Polen untergraben. Während Deutschland mit NS-2 als mitteleuropäisches Drehkreuz für russisches Gas auch zur Weiterleitung in andere Länder wirtschaftlich profitiert, werden die bisherigen Transitstaaten russischer Gaspipelineexporte wie Ukraine, Slowakei und Polen aufgrund zurückgehender Transiteinnahmen verlieren. Der wirtschaftliche Zugewinn Deutschlands würde somit auf Kosten der ohnehin ökonomisch und finanziell schwächeren EU-Staaten gehen und dem in der EU herrschenden Gebot der politischen Solidarität widersprechen. Auch muss bei den Auswirkungen des NS-2-Projekts die Gasversorgungssicherheit sowie der Bau der russischen Turkish Stream Pipeline mit mindestens zwei Gasröhren durch das Schwarze Meer in die Türkei berücksichtigt werden. Schließlich soll ein Teil des Gases in die südosteuropäischen Staaten weitergeleitet werden, was den Gasimportdiversifizierungen dieser Regionalstaaten zuwiderlaufen würde. Die strategische Veränderung des europäischen Gasmarktes der letzten Jahre ist eines der Hauptargumente der NS-2 Befürworter, dass eine EU-Gasimportdiversifizierung nicht länger notwendig sei und es somit egal wäre, woher das Gas kommt und wie groß der Marktanteil von Gazprom ist. Zwar ist der europäische Gasmarkt im Prinzip zu einem „Käufermarkt“ mutiert, doch einen einheitlichen europäischen Gasmarkt gibt es aufgrund der unterschiedlichen Liberalisierungsentwicklungen und unzureichenden Gasimportdiversifizierung weiterhin nicht. Zudem blockt Gazprom weiterhin den Ausbau der Gasumkehrflussmöglichkeiten an der ukrainisch-slowakischen Grenze, da Gazprom hier kritische Infrastruktur kontrolliert und die notwendigen Gasshipping-Codes nicht bereitstellt.

Politische Solidarität versus deutsch-russische Sonderbeziehungen

In Deutschland ist zwischen dem „privatwirtschaftlichen“ NS-2-Projekt und der Außenpolitik Russlands nur vereinzelt ein Zusammenhang hergestellt worden. So kritisierten der Grünen-Politiker im Europäischen Parlament Reinhard Bütikofer und der CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen im November 2016, dass Verletzungen des Völkerrechts nicht durch derartige Geschäfte belohnt werden dürften, da über den russischen Energieexport die Kriegspolitik des Kremls in der Ukraine und Syrien finanziert werde. Demgegenüber hatte sich der damalige Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel im Oktober 2015 mit der Kreml-Führung beim Pipelineprojekt für bilaterale Energiesonderbeziehungen zwischen Deutschland und Russland ausgesprochen, um „politische Einmischung“ durch Brüssel zu verhindern und rechtliche Fragen „in der Kompetenz der deutschen Behörden“ zu regeln. Aus Sicht von Kritikern wurden damit die Interessen einiger weniger Gaskonzerne höher bewertet als EU-Normen, europäische Solidarität und Sicherheit. Das NS-2 Projekt gefährdet so die gemeinsame EU-Energieaußenpolitik und das im Lissaboner Vertrag von Dezember 2009 gesetzlich verankerte politische Solidaritätsgebot, das 2015 mit der EU-Energieunion politisch bekräftigt wurde. Während im Lissaboner Vertrag die Souveränität der Mitgliedsstaaten beim Energiemix aufrechterhalten wurde, müssen nationale energiepolitische Entscheidungen jedoch im „Geiste der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten“ mit dem Ziel der „Sicherstellung des Funktionierens des Energiemarkts“ und der „Gewährleistung der Energieversorgungssicherheit” der EU getroffen werden. Dieses Gebot wurde bereits bei der Energiewende 2011 verletzt.

Kein deutsches Interesse an US-Flüssiggasexporten nach Europa?

Bis 2019 werden sich in Europa die jährlichen LNG-Importkapazitäten auf jährlich 214 Milliarden Kubikmeter (bcm) erhöhen. Im Zuge der jüngsten US-Sanktionen gegenüber Russland war der politische Aufschrei in Brüssel und vor allem Berlin groß, weil deutsche und europäische Energiekonzerne mit Geschäftsinteressen in Russland betroffen sein könnten. Dabei wurde der Trump-Administration vorgeworfen, mittels Sanktionen nur die eigenen Gasexportinteressen zu forcieren. Auch die Bundesregierung hat sich dieser unreflektierten Kritik angeschlossen und dabei mehrere Faktoren übersehen:

  1. Auch für die Bundesregierung und alle anderen EU-Regierungen ist es üblich, ihre eigenen Konzerne zu unterstützen. Gleichwohl hätte die US-Regierung die EU vorab bei neuen Sanktionen konsultieren müssen, wenn diese direkt oder indirekt betroffen ist. Entscheidend sind aber zwei andere Punkte:
  2. Anders als in Russland und seinen Staatskonzernen folgen US-Energiekonzerne nicht automatisch der Regierungspolitik und einer weltweit proklamierten „Energiedominanz”, sondern sind als private und börsennotierte Unternehmen den Profitinteressen ihrer Anteilseigner verpflichtet. Dies erklärt, warum die meisten US-Flüssiggasexporte bisher nach Asien erfolgt sind, da gegenwärtig dort höhere Preise und Gewinne erzielt werden. Solange sich die Importnachfrage in Asien nicht entspannt, werden auch künftig weniger US-Flüssiggasexporte in die EU erfolgen.
  3. Vor allem aber hat die deutsche Kritik an US-Flüssiggasexporten nach Europa übersehen, dass die EU-28 unter Einschluss Deutschlands seit Jahren in diesen Exporten nach Europa ein Schlüsselelement für ihre Gasimportdiversifizierung sehen und den Bau neuer Flüssiggasterminals vor allem in Ost- und Südosteuropa unterstützten. Die Förderung derartiger US-Flüssiggasexporte ist seit Jahren Mittelpunkt der transatlantischen Energiepolitik sowie des EU-US-Energierats – und nicht erst unter Präsident Trump Gegenstand der Diskussionen geworden.

Ohne die Schiefergasrevolution mittels Fracking und einer einzigartigen flexiblen Vertragsbasis für US-Flüssiggasexporte wäre der strategische Wandel und die Liberalisierungspolitik des europäischen Gasmarktes erst gar nicht möglich gewesen wären. Das lauwarm konzedierte deutsche Interesse an US-Flüssiggasexporten ignoriert, dass die europäischen Flüssiggasterminals mittelfristig eine deutlich höhere Auslastung benötigen (als nur 27 Prozent wie in 2017), um als kommerzielle und privatwirtschaftliche Projekte rentabel zu sein. Daher ist ein allgemein bekundetes deutsches Interesse an europäischen Flüssiggasterminals und US-Gasimporten nicht ausreichend, um diese im Sinne der EU-Gasdiversifizierungsstrategie stärker auszubauen und kommerziell dauerhaft rentabel zu machen.

Die Zukunft des Transitstatus der Ukraine für russische Gasexporte nach Europa

Die EU-28 haben seit Jahren vereinbart, die Ukraine als Transitland für russisches Gas nach Europa langfristig aufrechtzuerhalten. Auch das Bundeskanzleramt hat wiederholt auf dieses politische und wirtschaftliche Erfordernis hingewiesen, ohne genau zu spezifizieren, wie hoch die jährliche Transportmenge über das ukrainische Pipelinenetz sein wird. Moskau hat bisher nur 10-15 bcm pro Jahr für eine kurze Übergangszeit zugestanden. Doch wäre dies kommerziell zur Aufrechterhaltung und Modernisierung des ukrainischen Pipelinenetzes unzureichend. Bis vor kurzem war nicht zu erkennen, dass von deutscher Seite jenseits allgemeiner politischer Deklarationen auch ein kommerzieller Geschäftsplan forciert wird. In 2017 stiegen die russischen Gasexporte durch die Ukraine – analog zum gesamten Exportanstieg – von 67 bcm in 2015 auf inzwischen 93 bcm an.

Während das ukrainische Leitungsnetz inzwischen in einem Umfang von rund 40 bcm modernisiert wurde, ist das russische Gaspipelinenetz für den Anschluss an das ukrainische Netz überhaupt nicht modernisiert worden, weil Moskau die ukrainischen Leitungen für seine künftigen Gasexporte nach Europa nicht mehr nutzen will. Demgegenüber hatte die Bundeskanzlerin im April 2018 festgestellt, dass das NS-2 Projekt, “ohne dass wir Klarheit darüber haben, wie es mit der ukrainischen Transitrolle weitergeht, aus unserer Sicht nicht möglich ist.” Doch sind vom Kreml auch bei den jüngsten deutschen Sondierungen in Moskau keine Garantien für eine langfristige Transitrolle der Ukraine für russische Gasexporte nach Europa zugestanden worden. Moskau spielt auf Zeit, während es gleichzeitig mit dem Bau der NS-2 Fakten zu schaffen sucht und so die deutsche und die EU-Position bei der ungeklärten Transitfrage mit jedem Tag weiter schwächt.

Die fehlende deutsche Führungsrolle

Die deutsche Unterstützung des Baus der NS-2-Pipeline wird häufig mit dem Hinweis gerechtfertigt, dass dies den nationalen Interessen entspreche und Deutschland sich nicht anders verhalte als alle anderen EU-Staaten. Dabei wird zugleich deutlich, dass die Bundesrepublik die ihr zufallende und auch von den osteuropäischen Mitgliedsstaaten konzedierte politische Führungsrolle aufgrund ihres wirtschaftlichen und politischen Gewichtes weder akzeptiert noch verinnerlicht hat. So hatte der frühere polnische Außenminister Radoslaw Sikorski im November 2011 in Berlin genau diese Führungsrolle mit den Worten angemahnt: „Deutsche Macht fürchte ich heute weniger als deutsche Untätigkeit“. Gerade in der Energiepolitik manifestiert sich dieser Mangel im deutschen Unwillen zur politischen Solidarität innerhalb der EU. In der Konsequenz offenbart sich so eine zunehmende Kluft zwischen EU-freundlichen Bekundungen Deutschlands und dem konkreten deutschen Handeln in seiner Energie(außen)politik.

Solange Deutschland diese Führungsrolle und seine nationalen Interessen nicht mit Priorität europäisch definiert und politische Solidarität innerhalb der EU vorlebt, so lange kann die Bundesrepublik bei anderen Fragen von den wirtschaftlich schwächeren und kleineren EU-Mitgliedsstaaten auch keine politische Solidarität (wie etwa bei der Flüchtlingsfrage) einfordern. Werden diese nationalen Interessen Deutschlands gar im Rahmen deutsch-russischer Energie- und Wirtschaftssonderbeziehungen prioritär zulasten anderer EU-Staaten forciert, darf sich Berlin weder über die Reaktionen der EU-Mitglieder noch über den Mangel einer einheitlichen Stimme in der EU-Energieaußenpolitik wundern.

Strategische Schlussfolgerungen

Moskau hat aus seinen geopolitischen Zielsetzungen einer Umgehung der Ukraine und anderer Transitstaaten nie ein Geheimnis gemacht. Zudem können auch rein kommerzielle Projekte geopolitische Auswirkungen haben und müssen antizipiert werden. Es bleibt Aufgabe der europäischen Regierungen und der Europäischen Kommission (und nicht der Unternehmen), derartige Auswirkungen auf den Markt, die Versorgungssicherheit und die gemeinsame EU-Energieaußenpolitik im Sinne einer „vernetzten Energiesicherheit“ vorab zu analysieren, bevor Entscheidungen zu großen transnationalen Energieprojekten wie NS-2 getroffen werden. Dabei darf die Energieaußenpolitik, auch nach den energiepolitischen Alleingängen Berlins, nicht auf eine Beschwichtigung der EU-Energiepartner degradiert werden.

Deutschland kann nicht länger bestreiten, dass das NS-2-Projekt ein (außen)politischer Spaltpilz ist. Dessen strategische Bedeutung und Auswirkungen werden in Deutschland weiterhin unterschätzt. Aus Sicht der osteuropäischen Staaten ist der Eindruck entstanden, dass selbst bei Fragen der nationalen Sicherheit, wie beim Bau von NS-2, von Berlin kein Verständnis und keine Rücksichtnahme zu erwarten ist, Brüssel am Ende weitgehend machtlos der Konterkarierung der gemeinsam vereinbarten Gasimportdiversifizierungsstrategie zusehen muss und Berlin diese strategischen Zielvorstellungen auf dem Altar eines deutsch-russischen Sonderverhältnisses in der Gaspolitik opfert. Im Resultat kann dies nur zu weiteren Renationalisierungsbestrebungen der osteuropäischen EU-Mitgliedsstaaten zulasten der gemeinsamen Energie-, Außen- und Sicherheitspolitik der EU sowie einer weiteren Aufwertung ihrer bilateralen Energie- und Sicherheitsbeziehungen mit den USA führen. Dieses deutsche Vorgehen einer mangelnden umfassenden strategischen Interessenanalyse und einer Taktik von „Augen zu und durch“ mit deklaratorischen Beruhigungspillen für Brüssel und die osteuropäischen Nachbarstaaten kann weder die zahlreichen Widersprüche noch die fehlende Glaubwürdigkeit der deutschen Energieaußenpolitik verdecken – noch ist es strategisch zielführend. Stattdessen muss Berlin endlich die deutsche Führungsrolle auf dem Grundsatz der politischen Solidarität in der EU annehmen, verinnerlichen und im konkreten politischen Handeln auch manifestieren.

Dr. Frank Umbach ist Research Director am European Centre for Energy and Resource Security (EUCERS) des King's College, London. Der Autor gibt seine persönliche Meinung wieder.

1 Siehe Umbach, Frank (2017): Das Nord Stream-2-Projekt und die Auswirkungen auf die gemeinsame Energiesicherheit und Außenpolitik der EU, in: Österreichische Militärische Zeitschrift 4 S. 478-489; sowie Umbach, Frank (2017): The Myth of Cheap Russian Gas, in: Geopolitical Intelligence Service, https://www.gisreportsonline.com/the-myth-of-cheap-russian-gas,energy,2323,report.html

2 Power of Siberia soll von Russland nach China führen und über 55 Milliarden US-Dollar kosten; Turkish Stream von Russland in die Türkei für 20 Milliarden US-Dollar; die Kosten für NS-2 belaufen sich derzeit auf 17 Milliarden US-Dollar.

Copyright: Bundesakademie für Sicherheitspolitik | ISSN 2366-0805 Seite 1/5

 

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Energiepolitik
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