Die nukleare Abschreckung ist in der öffentlichen Wahrnehmung wieder auf der internationalen Tagesordnung. Auch wenn die Idee einer nuklearwaffenfreien Welt ein lobenswertes Ziel darstellt, so weisen die harten Realitäten in Europa und Asien leider nicht in Richtung eines baldigen Erreichens dieses Ziels. In Europa hat Russland mit der aggressiven Politik und Rhetorik gegenüber seinen Nachbarn die bestehende regionale Sicherheitsordnung aufgekündigt. Die Begriffe Abschreckung und kollektive Verteidigung müssen aus der Sicht der NATO wieder mit glaubwürdigen militärischen Fähigkeiten und schlüssigen Strategien untermauert werden. In Asien wiederum war das Abschreckungsproblem aufgrund der großen Zahl von Nuklearmächten in der Region ohnehin nie vom Tisch, und es hat durch die nuklearen Ambitionen Nordkoreas noch eine besondere Dringlichkeit gewonnen – von der aggressiven Rhetorik Trumps und Kims ganz zu schweigen. Der Iran ist ein weiterer wichtiger Faktor mit Blick auf Nuklearwaffen, Raketenprogramm und Abschreckung, dessen weitere Entwicklung nach dem amerikanischen Ausstieg aus dem Atomabkommen unklar ist.
Sowohl in Europa als auch in Teilen Asiens gilt das Konzept der „Erweiterten Abschreckung“ (Extended Deterrence), demzufolge die Nuklearmacht USA Sicherheitsgarantien für ihre nicht-nuklearen Verbündeten in den beiden Regionen gegeben hat. Dazu gehört übrigens nicht nur, dass durch das Konzept der erweiterten Abschreckung ein breitgefächertes Kernwaffenportfolio vorgehalten wird, um rund 30 Alliierte der USA abzusichern. Es geht auch darum, ihnen auch ein Motiv zu nehmen, eigene Kernwaffen zu entwickeln. Damit sind beide Regionen mit dem grundsätzlichen Glaubwürdigkeitsproblem der erweiterten Abschreckung konfrontiert: Wie glaubwürdig ist ein Sicherheitsversprechen der Schutzmacht, wenn diese, sobald sie für einen Partner in die Bresche springt, ihrerseits mit nuklearen Vergeltungsschlägen des Angreifers rechnen muss? Die aus dem Kalten Krieg bekannte Frage, ob jemand bereit wäre, Chicago für Hamburg zu opfern, lässt sich auf die heutige Situation in Asien wie Europa übertragen.
Beide Regionen sind zudem mit den Veränderungen amerikanischer Bündnispolitik unter Präsident Trump konfrontiert. Indem der neue Präsident Bedingungen für die Geltung von Sicherheitszusagen stellt – etwa politisches Wohlverhalten oder finanzielle Beiträge – untergräbt er die Extended Deterrence weiter, da Beistandszusagen – ob nuklear oder konventionell - immer bedingungslos gelten müssen, um bei Verbündeten und Gegnern die beabsichtigten Effekte von Abschreckung und Rückversicherung auszulösen.
Schließlich haben beide Regionen Probleme mit der Akzeptanz der Idee nuklearer Abschreckung in der Öffentlichkeit. Das ist verständlich angesichts der unauflösbaren Dilemmas, die mit diesem Konzept verbunden sind. Nukleare Abschreckung kann konfliktverhindernd wirken, weil sie einen unakzeptablen Schaden androht, darf aber auch nicht scheitern, weil die Folgen eines Kernwaffeneinsatzes katastrophal wären. Verschärft wird die öffentliche Kritik noch durch das Werben für eine kernwaffenfreie Welt, die ihren Befürwortern nach in absehbarer Zeit erreicht werden könne, wenn nur der politische Wille vorhanden wäre. Nun bestreitet niemand, dass eine Welt ohne Atomwaffen eine bessere wäre und dass man langfristig auf die völlige nukleare Abrüstung hinarbeiten sollte. Für die vorhersehbare Zukunft bleibt die atomwaffenfreie Welt aber eine Illusion. Kernwaffen werden stattdessen ein Faktor der internationalen Politik bleiben. Sie spiegeln insofern auch das gespannte multipolare Verhältnis der Staaten zueinander wieder, weshalb man sich den Problemen der nuklearen Abschreckung nicht verschließen kann.
In den auf dieser Basis geführten Diskussionen traten bei der Konferenz in Seoul Gemeinsamkeiten aber auch grundlegende Unterschiede in der wahrgenommenen Rolle und dem Verständnis nuklearer Abschreckung zutage. Sechs zusammenfassende Erkenntnisse lassen sich herausstellen.
1. Nukleare Abschreckung ist hochpolitisch
Gerade die Erweiterte Abschreckung ist ein politisches und in Teilen geradezu theologisches Konzept: Es beruht nur zum Teil auf den vorhandenen Kernwaffen und ruht zu einem weit größeren Teil auf Glaubenssätzen und dem Vertrauen auf die Garantiemacht. Damit gewinnt die Kommunikation und das Setzen von Signalen gegenüber dem Gegner und mehr noch gegenüber den Verbündeten enorm an Bedeutung. Deshalb haben unbedachte Äußerungen und missverständliche Signale aus der amerikanischen Administration, von spontan abgesetzten Twitter-Botschaften ganz zu schweigen, sowohl gegenüber Europa als auch gegenüber Asien eine so hohe Relevanz und möglicherweise desaströse Folgen. Europa und Asien leiden unter der unklaren Kommunikation und der Sprunghaftigkeit der Trump-Administration. In beiden Regionen ist aber auch klar, dass sich dieses Problem unter einem Nachfolger Donald Trumps nur teilweise lösen dürfte. Ein schleichender Rückzug der USA aus der Weltpolitik ist seit längerem im Gange, und vermutlich wird auch ein künftiger US-Präsident die amerikanische Rolle als Garantiemacht für eine wertebasierte Weltordnung reduzieren wollen.
2. Nukleare Abschreckung muss maßgeschneidert sein
Es gibt keinen „one size fits all“-Ansatz in der Abschreckung – sie muss speziell an die jeweilige Region und Situation angepasst sein. Das ist in Europa vergleichsweise leicht, weil die Potentiale Russlands und die Grundzüge russischen strategischen Denkens bekannt sind. Es gibt eine Tradition der Kooperation und Kommunikation auch in Spannungszeiten mit erprobten Verfahren der Krisenverminderung – bis hin zu den verschiedenen Versionen der „Roten Telefone“. Darüber hinaus existieren aus den SALT-, START- und INF-Verhandlungen Erfahrungswerte bei der Begrenzung bestimmter Kernwaffentypen.
Mit Blick auf Nordkorea ist das, was in Expertenzirkeln die Tailored Deterrence genannt wird, ungleich schwieriger. Man hat nur rudimentäre Kenntnisse zum Stand der nordkoreanischen Kernwaffenentwicklung. Der Erfolg von Nukleartests ist von außen nur schwer zu bewerten, und wie weit die Miniaturisierung der nuklearen Versuchsanordnungen hin zu einsetzbaren weitreichenden Waffen fortgeschritten ist, ist nur teilweise bekannt. Instrumente zu Krisenkommunikation existieren ebenso wenig. Das macht nukleare Abschreckung schwierig und setzt sie immer der Gefahr von Missverständnissen und Fehldeutungen aus.
3. Nukleare Mitsprache für Südkorea wird gefordert
Die koreanischen Gesprächspartner beklagten vor allem, dass die Glaubwürdigkeitsfrage in ihrem Land noch deutlicher gestellt werde als in Europa, wo Erweiterte Abschreckung über das das reine Sicherheitsversprechen hinaus auf drei Säulen beruht. Erstens sind amerikanische Kernwaffen auf europäischem Boden stationiert und unterliegen teilweise dem sogenannten „Zweischlüssel-System“, nach dem die Europäer im Einsatzfalle die Trägerflugzeuge stellen würden. Zweitens wurden seit den sechziger Jahren im Rahmen der NATO konkrete Verfahren für die Mitsprache der NATO-Mitglieder hinsichtlich der amerikanischen Nuklearplanung entwickelt. Drittens werden regelmäßig gemeinsame NATO-Übungen abgehalten, in denen nukleare Verfahren geprobt und die nichtnuklearen Mitglieder mit diesen vertraut gemacht werden.
Nichts davon gibt es bei den asiatischen Ländern, die unter dem amerikanischen Nuklearschirm stehen und damit auch nicht in Südkorea. Mangels praktischer Zusammenarbeit in der nuklearen Materie ist die Unsicherheit gegenüber der Tragfähigkeit amerikanischer Versprechen hier folglich größer als in Europa – ganz gleich wer in Washington regiert. Deshalb fordern Ländern wie Südkorea oder Japan seit längerem eine offenere Informationspolitik der USA gegenüber den asiatischen Verbündeten und mehr Einfluss auf die amerikanischen nuklearen Planungen und Aktivitäten. Dem haben die USA bislang nur sehr begrenzt entsprochen.
Ferner sei aus südkoreanischer Sicht auch dann mehr Einfluss auf die Abschreckungspolitik der USA nötig, wenn sich das derzeitige Tauwetter zwischen Nord und Süd als dauerhaft erweisen und eine Verminderung der nordkoreanischen Nuklearbedrohung möglich werden sollte. Unabhängig von derzeitigen Beschlüssen würden die Umsetzung nuklearer Abrüstungsschritte und deren Verifikation in Nordkorea Jahre beanspruchen. Angesichts der Unklarheiten über die nuklearen Fähigkeiten Pjöngjangs stellt sich die Frage, wie Überprüfungsmaßnahmen im isoliertesten Staat der Welt möglich sein sollen. Unklar ist auch, ob das Kim-Regime selbst eine vorsichtige Öffnung des Landes und eine Lockerung des Drucks auf das eigene Volk überleben würde. Folglich ist man in Südkorea von einer Euphorie gegenüber den Signalen des Nordens weit entfernt und sieht sich weiterhin auf den nuklearen Beistand der USA angewiesen.
4. Die Perspektiven für eine Denuklearisierung sind unterschiedlich
Mit Blick auf die Zukunft nuklearer Abschreckung zeigt sich ein grundlegender Unterschied zwischen Deutschland und Europa auf der einen Seite und Südkorea auf der anderen. In Seoul gibt es vorsichtige Hoffnungen, dass die Annäherung zwischen Nord und Süd erfolgreich sein könnte. Zwar wird es noch einige Jahre dauern, bis die Ernsthaftigkeit von Nordkoreas Abrüstungsbereitschaft überprüft werden kann, weil es eine gewisse Zeit braucht, bis entsprechende Verifikationsmechanismen in diesem völlig verschlossenen Land greifen können. Gelingt dies aber, so ist in der Perspektive auch eine Wiedervereinigung Koreas – unter welchen Vorzeichen auch immer – denkbar. Kommt es zu einem solchen Schritt, würde sich nicht nur der innerkoreanische Zwist, sondern auch die nukleare Bedrohung auflösen. Damit entfiele im besten Fall auch die Notwendigkeit der nuklearen Abschreckung beziehungsweise der erweiterten Abschreckung durch die USA – zumindest für ein vereinigtes Korea, wenn auch nicht für andere Staaten wie etwa Japan gegenüber China.
In Europa ist das grundlegend anders. Russland hat mit seiner Politik seit der Annexion der Krim das Vertrauen seiner Nachbarn nachhaltig zerstört. Selbst wenn nach dem Ende der Präsidentschaft von Wladimir Putin 2024 ein möglicher Nachfolger wieder zu der bis 2014 geltenden Politik der Partnerschaft zurückkehren sollte, bliebe das gewaltige russische Nuklearpotential bestehen. Angesichts des Misstrauens gerade der osteuropäischen NATO-Mitglieder gegenüber Russland müsste der amerikanische Nuklearschirm noch sehr viele Jahre erhalten bleiben.
5. Eine Nuklearisierung Südkoreas ist denkbar
Je nach Verlauf der Geschehnisse in Korea ist auch ein Aufwachsen der nuklearen Arsenale in der Region nicht auszuschließen. Für den Fall, dass die derzeitige Annäherung zwischen Nord und Süd wieder einmal scheitern sollte, wurde nicht ausgeschlossen, dass Südkorea zumindest zeitweise den nuklearen Nichtverbreitungsvertrag (NVV) verlassen würde, um sich eigene Atomwaffen zu beschaffen. Die technischen Voraussetzungen seien gegeben und der politische Wille sei je nach Entwicklung der nordkoreanischen Bedrohung oder einer weiteren Abschwächung des amerikanischen Schutzversprechens vorhanden. Von deutscher Seite wurde auf die Gefahren eines solches Schrittes hingewiesen, weil man damit nicht nur ein Abschreckungssignal an Nordkorea sende, sondern auch von Nachbarn wie Japan oder China als Bedrohung wahrgenommen würde. Auch Japan ist in der Lage, in kürzerer Zeit eigene Nuklearwaffen zu entwickeln. Die Folgen für die Stabilität der Region wären nur schwer abzusehen.
6. Die Chancen nuklearer Abrüstung sind jenseits der beiden Koreas eher schlecht
Abgesehen von der denkbaren Reduzierung des nordkoreanischen Atomarsenals stehen die Chancen für nukleare Abrüstung in Europa und Asien eher schlecht. Russland hat aus einer Reihe von Gründen kaum ein Interesse an der Reduzierung seiner Kernwaffen in Europa, weil es sie – das ist Teil des russischen strategischen Denkens – als integralen Teil seines Militärpotentials und als eine Kompensation für mangelnde konventionelle Stärke betrachtet. Auch gelten Kernwaffen aus Moskauer Sicht als eines der letzten Symbole der einstigen Supermacht-Rolle.
In Asien ist die Idee nuklearer Rüstungskontrolle generell schwer umzusetzen, da es keine Tradition der nuklearen Abrüstung zu geben scheint. Das hängt vermutlich auch damit zusammenhängt, dass es dort keine mit der Kuba-Krise von 1962 zu vergleichende Situation gegeben hat, in der die Supermächte in den nuklearen Abgrund gegenseitiger Vernichtung geblickt haben. Darüber hinaus betrachten die nuklearen Akteure in der Region Kernwaffen als einen „Schatz“, den sie unter größten Mühen beschafft haben, um ihren Sicherheitsinteressen zu dienen. Dieses Symbol nationaler Größe auch nur in Teilen abgeben zu müssen, ist kaum zu vermitteln.
Fazit
Der europäisch-asiatische Nukleardialog hat deutlich gemacht, dass nukleare Abschreckung keinesfalls der Vergangenheit angehört, wie es gerade in Deutschland lange kolportiert wurde. Der nukleare Geist wird sich nicht allein durch die Beschwörung einer nuklearwaffenfreien Welt wieder zurück in die Flasche zwingen lassen. Zwar haben Kernwaffen glücklicherweise nicht mehr die zentrale sicherheitspolitische Bedeutung, die ihnen während des Kalten Krieges zukam. Das Nukleare hat als Machtwährung sicherlich an Wert eingebüßt. Sie bleiben aber ein Faktor der internationalen Politik. Folglich müssen in beiden Regionen glaubwürdige Abschreckungskonzepte erarbeitet werden – wobei sich Südkorea mit der Aussicht auf mögliche Entspannung derzeit in einer Sondersituation befindet. In der NATO geschieht diese Anpassung des Nuklearpotentials an die neuen Realitäten bereits. Damit kann auch in den NATO-Mitgliedstaaten die Kernfrage, wie man wen und womit abschreckt, nicht mehr hinter verschlossenen Türen diskutiert werden.
Dr. Karl-Heinz Kamp ist Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik in Berlin. Der Autor gibt seine persönliche Meinung wieder.
Copyright: Bundesakademie für Sicherheitspolitik | ISSN 2366-0805 Seite 1/4