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Stärkung der EU-Verteidigung: Viel Lärm um nichts?

18/2017
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Nach Staatsschuldenkrise, Migrationsherausforderung und Brexit richtet die EU ihren Blick auf die Zukunft. Ein sicheres Europa und eine gestärkte Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik spielen dabei eine wichtige Rolle. Wie lassen sich die Vorschläge eines militärischen Hauptquartiers, eines Verteidigungsfonds oder einer ständigen Militärkooperation einschätzen? Sind es nachhaltige Vorschläge oder handelt es sich um viel Lärm um nichts?

Es ist erfreulich, dass die seit 2013 laufende Phase der Willensbildung zur Weiterwicklung der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) zu konkreten Maßnahmen führt. Die Kriege und Krisen vor der eigenen Haustür sowie die unklare Außen- und Sicherheitspolitik der neuen US-Regierung wirkten offenbar verstärkend und verhalfen zu neuen europäischen Reformanstrengungen. Nun haben gleich drei Akteure – das EU-Parlament, die Mitgliedstaaten und die Europäische Kommission – Anregungen auf den Tisch gelegt, die GSVP weiterzuentwickeln.

Ausgangspunkt der neuen Pläne ist der Lissabon-Vertrag, der die GSVP als Teil der EU-Außen- und Sicherheitspolitik einordnet. Mit der im Juni 2016 durch die Hohe Vertreterin/Vizepräsidentin der Europäischen Kommission vorgelegten Global Strategy verfügt die GSVP nun über einen weiterentwickelten strategischen Rahmen. Dieser wird von den Mitgliedstaaten und den EU-Institutionen ausgestaltet. Seit 2003 wird das auswärtige Handeln der GSVP im Wesentlichen von Krisenmanagement oder Ausbildungsmaßnahmen in Drittstaaten geprägt. Die Fähigkeiten, die für die Durchführung von zivilen und militärischen Missionen und Operationen, wie beispielsweise Ausbildung von Richtern und Staatsanwälten im Kosovo (EULEX) oder Eindämmung des Menschenhandels im Mittelmeer (EUNAVFOR MED) benötigt werden, kommen von den Mitgliedsstaaten. Für die Planung und Durchführung von militärischen Einsätzen existierte bislang kein ständig verfügbares Führungselement in Brüssel. Die Vorbereitung und Koordinierung von Missionen gestaltete sich bislang dementsprechend mühselig und stand einer der strategischen Prioritäten der EU Global Strategy entgegen, die Reaktionsfähigkeit der EU auf Krisen zu verbessern. Einen Ausweg aus diesem Missstand lieferten nun die Mitgliedstaaten mit den jüngsten Reformplänen. Die „military planning and conduct capability“ (MPCC), so die offizielle Bezeichnung, soll künftig unter anderem für die Führung der drei gegenwärtig laufenden militärischen Trainingsmissionen verantwortlich sein. Sie soll darüber hinaus als Keimzelle eines zukünftigen EU-Hauptquartiers dienen, um das Krisenmanagement der EU insgesamt zu stärken.

Die internen Aspekte der GSVP werden durch die EU-Institutionen zaghaft seit 2013 entwickelt. Es brauchte also zehn Jahre nach dem Start dieser gemeinsamen Politik, um beispielsweise EU-Forschungs- oder Industriepolitiken zur Stärkung der Verteidigung einzusetzen. Im Vordergrund stehen hierbei Unterstützungsleistungen, um die Mitgliedstaaten für ihre Verteidigungsaufgaben fit zu machen.

Nach dem Austrittsvotum Großbritanniens wurden die Forderungen nach Übernahme von mehr Verantwortung für die eigene Sicherheit und der optimalen Ausschöpfung des Potentials der EU-Verträge lauter. Darüber hinaus wurde gefordert, besser koordinierte und größere Verteidigungsinvestitionen innerhalb der EU zu erbringen. Vor dem Hintergrund der Verschlechterung der europäischen Sicherheitslage erschien die Notwendigkeit, die Sicherheit der europäischen Bürger und der EU gemeinsam zu organisieren, als ein folgerichtiger Schritt. Das Europäische Parlament betrat dabei Neuland, als es im EU-Budget 2015 die erste Haushaltszeile für Verteidigung initiierte. Die Abgeordneten schufen damals ein wehrtechnisches Forschungsprojekt, um auch im Bereich der Verteidigung gemeinsam voranzuschreiten. Inzwischen gehen die Vorschläge der Europäischen Kommission soweit, einen spezifischen Verteidigungsfonds für Forschung und Entwicklung im Umfang von 5,5 Milliarden Euro ab 2021 auflegen zu wollen.

Ein neuer Vorschlag für einen EU-Verteidigungsfonds

Immer wieder leiden militärische Operationen unter fehlenden oder mangelnden aufgabengerechten Fähigkeiten. Dieses Problem ist ein altbekanntes und trifft seit 2003, dem Jahr des ersten GSVP-Einsatzes, auch auf viele EU-Operationen und -Missionen zu. Beispielsweise fehlt es in den Streitkräften an Lufttransport- oder Aufklärungsmitteln. Nur langsam zeichnet sich Abhilfe ab, wie es die Beschaffung des Transportflugzeugs A 400M oder die Planungen für eine europäische Aufklärungsdrohne belegen.

Offenbar sind die Mitgliedstaaten allein bislang nicht in der Lage, diese Missstände zu beheben. Vor diesem Hintergrund haben die Europäische Kommission und das Europäische Parlament Initiativen zur besseren Kooperation, Ergänzung und Verstärkung von nationalen militärischen Fähigkeiten gestartet. Hierbei geht es im Kern darum, die Forschung, Entwicklung und Beschaffung von nationalen Rüstungsgütern besser aufeinander abzustimmen und mit EU-Haushaltsmitteln zu unterstützen.

Zukünftig sollen EU-finanzierte Verteidigungsforschung und gemeinsame Fähigkeitenentwicklung nach dem Willen der Europäischen Kommission unter einem Dach erfolgen. Dieses Dach liefert der sogenannte Europäische Verteidigungsfonds. Bis 2020 möchte die Kommission den Fonds mit 590 Millionen Euro ausstatten. Dabei wird das Ziel verfolgt, die Mitgliedstaaten mit spezifischen Maßnahmen zu unterstützen, um die GSVP insgesamt handlungsfähiger zu machen. Diese Fonds beruht auf zwei Säulen: einer für Forschung sowie einer für Fähigkeitenentwicklung und Förderung der Rüstungsindustrie.

EU-Verteidigungsforschung auf Kurs halten

Die Überlegung, in EU-finanzierte Verteidigungsforschung einzusteigen, liegt auf der Hand. Wenn Mitgliedstaaten bereits bei der Forschung kooperieren, dann erhöht sich auch die Chance, dass sie die militärische Fähigkeit gemeinsam beschaffen, betreiben und einsetzen. Die EU-Institutionen haben seit 2014 auf Grundlage einer Parlamentsinitiative zwei Forschungsprojekte eingeleitet, um gemeinsame Verfahren und Prozeduren erstmalig zu erproben. Insgesamt werden hierfür 90 Millionen Euro bis Ende 2019 bereitgestellt. Diese Forschungsarbeiten sollen mit dem Beginn der nächsten EU-Finanzierungsperiode nach 2020 in ein spezifisches Europäisches Verteidigungsforschungsprogramm münden. Damit soll dem gegenläufigen Trend sinkender nationaler Ausgaben für Forschung und Entwicklung entgegengewirkt werden.

Als Teil der Verteidigungshaushalte wurden diese Ausgaben in den letzten Jahren überproportional verringert. Dieser Trend gewinnt an Brisanz, wenn zum anderen strategische Mitbewerber betrachtet werden. Die militärischen Forschungsausgaben in Russland oder China verweisen auf steile Wachstumskurven. Eine vorausschauende EU-Verteidigungs-politik muss diese technologische Herausforderung annehmen. Auch zukünftig wird der militärische Erfolg von der technologischen Überlegenheit der Streitkräfte abhängen. Diese kann nur durch vorausschauende Forschung sichergestellt werden. Die Europäische Kommission und das Europäische Parlament planen, 500 Millionen Euro pro Jahr aus dem EU-Haushalt zur Verfügung zu stellen. Es ist empfehlenswert, diese Finanzmittel dort einzusetzen, wo in den nächsten Jahrzehnten militärische Beschaffungen anstehen: beispielsweise bei der nächsten Generation der Kampfpanzer oder der Kampfflugzeuge.

Europäisches Programm zur Förderung der Verteidigungsindustrie

Neben der EU-Verteidigungsforschung schlug die Kommission vor, zukünftig die Mitgliedstaaten direkt bei der anschließenden Entwicklung und Beschaffung von Fähigkeiten zu unterstützen. Hierfür empfahl sie Rat und Parlament, als ein Pilotprojekt ein Europäisches Programm zur Förderung der Verteidigungsindustrie aufzulegen. Dabei sollen in den Jahren 2019 und 2020 500 Millionen Euro bereitgestellt werden. Ab 2021 sollen darüber hinausgehend 5 Milliarden Euro pro Jahr aus dem EU-Haushalt bereitstehen. Bei diesen EU-Unterstützungsleistungen geht es nicht darum, nationale Beschaffungsvorhaben zu ersetzen. Vielmehr sollen finanzielle Anreize für eine verstärkte Rüstungskooperation der Mitgliedstaaten geschaffen werden. Die Kommission setzt hierbei auf eine Hebelwirkung. Sie geht davon aus, dass die EU-Haushaltsmittel zusätzliche nationale Mittel von 2,5 Milliarden Euro für die Jahre 2019 und 2020 und 5 Milliarden Euro pro Jahr ab 2021 generieren könnten.

Darüber hinaus bietet die Kommission ihre Dienste an, bei ihr für ein Beschaffungsprojekt einen Pool aus den zu verwendenden nationalen Haushaltsmitteln zu bilden. Hierfür könnten als Anreiz zusätzliche EU-Haushaltsmittel auf den Tisch gelegt werden. Dies könnte einen Ausgleich zwischen den Staaten schaffen, die die hohe Anschubfinanzierung von Rüstungsprojekten schultern und denen, die sich erst später bei der Beschaffung beteiligen wollen. Grundsätzlich sind diese Vorschläge zu begrüßen, da sie einen europäischen Mehrwert generieren. Dieser besteht darin, durch EU-Verteidigungsforschung und Fähigkeitsunterstützung kooperative Rüstungsprogramme zu fördern. Doch wird der Erfolg der intendierten EU-Programme primär davon abhängen, inwiefern die finanziellen Anreize von den Mitgliedstaaten und ihren Rüstungsindustrien tatsächlich angenommen werden.

Militärische Zusammenarbeit durch ständige EU-Strukturen stärken

In den Vorschlägen der EU-Institutionen nimmt die Verbesserung und Koordinierung der Zusammenarbeit der Streitkräfte großen Raum ein. Dabei geht es darum, das bestehende EU-Verfahren der verstärkten Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten auf den Verteidigungsbereich auszuweiten. Ausgewählte Staaten können unter dem Dach der EU in abgegrenzten Bereichen kooperieren, ohne dass alle Staaten daran teilhaben müssen. Aktuell wird das zivile Verfahren zur verstärkten Zusammenarbeit in den Bereichen des Scheidungsrechts oder der Patente angewandt.

Für den Verteidigungsbereich wurde mit dem Vertrag von Lissabon im Jahr 2009 die sogenannte Ständige Strukturierte Zusammenarbeit (SSZ) eingeführt. Bislang wurde sie jedoch noch nicht gestartet. Die SSZ bietet die Chance, die bereits heute bestehenden isolierten Inseln der militärischen Zusammenarbeiten unter dem Dach der EU zusammenzuführen. Beispielsweise kooperieren heute beim Eurokorps in Straßburg Soldaten aus fünf Rahmennationen und aus weiteren Ländern. Hierbei handelt es sich um ein militärisches Hauptquartier, das sowohl der NATO als auch der EU zur Verfügung gestellt werden kann. Ein anderes Beispiel umfasst das Europäische Lufttransportkommando mit Sitz in Eindhoven. In diesem Kommando organisieren die beteiligten sechs Staaten gemeinsam das knappe Gut des militärischen Transportraums. In beiden Fällen mussten für den Betrieb mühsam Rechtsvereinbarungen zwischen den beteiligten Staaten geschlossen werden. Dies könnte sich ändern, wenn sowohl das Eurokorps als auch das Lufttransportkommando unter das Dach der SSZ überführt werden. Aus Sicht des Europäischen Parlaments hätte dies den Vorteil, dass bestehende EU-Verfahren und europäische Finanzierung für den Friedensbetrieb dieser militärischen Einheiten eingesetzt werden könnten.

Es ist zu begrüßen, dass endlich Europäisches Parlament, Rat und Kommission in ernsthafte Gespräche zur Etablierung der SSZ eingetreten sind. Dabei ist die Führungsrolle Deutschlands und Frankreichs sehr hervorzuheben. In der Tat könnte es mit der SSZ gelingen, dass permanente militärische Strukturen unter dem Dach der EU entwickelt werden. Es sollte jedoch verhindert werden, dass lediglich ad-hoc-Projekte in diesem Rahmen koordiniert werden.

Fazit

Handelt es sich bei den Vorschlägen zur Stärkung der Sicherheits- und Verteidigungspolitik nur um viel Lärm um nichts? Oder anders gefragt, inwiefern setzen die Verbesserungsangebote an der zentralen Problematik der GSVP an? Hierzu lohnt es sich in Erinnerung zu rufen, dass die Mitgliedstaaten die zentralen Akteure in diesem Politikfeld sind. Die nationalen Regierungen sind für das aktuell Erreichte und das Unterlassene bei der Gestaltung der GSVP verantwortlich.

Zwar können verbesserte Verfahren und Institutionen und finanzielle Anreize einen Beitrag leisten, um die sicherheitspolitische Effizienz der Sicherheit und Verteidigung innerhalb der EU zu erhöhen. Jedoch können sie keinen politischen Willen ersetzen. Doch genau der bislang vermisste gemeinsame politische Wille wurde jüngst mehrfach zur Stärkung dieser Politik erbracht. Dies belegte zuletzt eindrucksvoll die EU-Erklärung zum 60. Geburtstag der Römischen Verträge. In diesem Dokument bekannten sich 27 Staats- und Regierungschefs zur Rolle der EU bei der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Vor diesem Hintergrund sind die vorgelegten Verbesserungsvorschläge abschließend positiv einzuschätzen. Offenbar hat das Referendum über den britischen Ausstieg aus der EU einen Knoten gelöst. Scheinbar verschwanden über Nacht die bisherigen Blockaden Londons zur Reform der GSVP.

Trotz aller Euphorie um den existierenden politischen Willen beginnt nun die Phase der steinigen Umsetzung. Gerade mit Blick auf die vergangenen stockenden Reformbemühungen der GSVP muss dieses Mal der Wille zur Reform auf die Verteidigungs- und Beschaffungsbürokratien überspringen. Und das sollte durchaus möglich sein, wenn man sich die krisenhaften Entwicklungen im Süden und Osten Europas vergegenwärtigt.

Gerrit F. Schlomach ist parlamentarischer Assistent von Michael Gahler MdEP und Mitglied des Freundeskreises der Bundesakademie für Sicherheitspolitik. Der Autor gibt seine persönliche Meinung wieder.

Copyright: Bundesakademie für Sicherheitspolitik | ISSN 2366-0805 Seite 1/4

 

Arbeitspapier Thema: 
EU
Verteidigungspolitik
Region: 
Europa
Schlagworte: 
Europa
EU
Verteidigungspolitik