Arbeitspapiere

Flucht und Migration: Herausforderungen an Organisation, Administration und Logistik

10/2016
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Der im Sommer 2015 immer deutlicher werdende Migrationsdruck auf Deutschland und Europa stellte den Kontinent vor Aufgaben bisher nicht bekannter Art und Dimension. Neben den humanitären Aspek­ten des zeitweise völlig ungesteuerten Zustroms von Flüchtlingen und Migranten wurden rechtliche und verwaltungstechnische Hürden, aber in Deutschland auch die Grenzen des Föderalismus deutlich. Die Bundesrepublik reagierte auf die Herausforderungen durch die Schaffung von Ad hoc-Strukturen sowie die Abstützung auf Nichtregierungsorganisationen und Freiwillige. Dabei zeichnete sich ein großzügiger Umgang mit bestehenden Rechtsnormen auf der einen sowie ein Verharren in bestehenden Regelungen und Zuständigkeiten auf der anderen Seite ab.

Das Chaos der ersten Wochen

Es gab Tage im Oktober 2015, da wurden im Rahmen von Telefonschaltkonferenzen des Bundesminis­teriums des Innern mit den Vertretern der Staatskanzleien der Bundesländer einzelne Busladungen (Standardbelegung: 50 Flüchtlinge) verhandelt, oder besser „versteigert“, um die Weiterverteilung der am betreffenden Tag nach Bayern gekommenen Migranten sicher zu stellen. Auf Druck der bayerischen Staatskanzlei ging es viele Wochen lang ausschließlich darum zu vermeiden, dass sich der scheinbar endlose Strom von Flüchtlingen, welche über die gemeinsame Grenze mit Österreich kamen, in Bayern stauen könnte. Der effektive, tagesaktuelle Weitertransport der Migranten stand im Mittelpunkt aller humanitären, organisatorischen und logistischen Bemühungen. Die Abstützung erfolgte hierzu auf Sonderzüge der Bahn und gecharterte Busse privater Unternehmen ergänzt aus amtlichen Flotten wie zum Beispiel jener der Bundeswehr. Eine Limitierung bestand dabei in der Auflage des Verkehrsministeriums, nicht in den soge­nannten Regelzugverkehr der Bahn einzugreifen, um Zugausfälle mit unmittelbaren Auswirkungen auf die Bahnkunden zu vermeiden. In der aufgeheizten Stimmung des Spätherbstes sollte wohl unter allen Umständen verhindert werden, dass Pendler auf den Bahnsteigen mit der Nachricht konfrontiert würden, dass ihr Feierabendzug in den kommenden Tagen Flüchtlinge transportieren und deswegen schlicht ausfallen würde.

Die Lage an den Grenzübergängen war, vorsichtig formuliert, unübersichtlich: Flüchtlinge kamen in Zügen, Privat-Kfz, zu Fuß oder mit Bussen an die offiziellen Grenzübergänge zu Österreich aber auch an die sogenannte Grüne Grenze. Einige von ihnen führten Fotokopien mit sich, auf denen freundliche Menschen aus Österreich ihnen den Weg zum nächsten „unkontrollierten“ Grenzübergang zu Deutschland wiesen. Bayerische Polizei und Bundespolizei, teilweise mit nicht klar abgegrenzten Kompetenzbereichen, bemüh­ten sich, die Flüchtlinge so rasch wie möglich dem Weitertransport in die Bundesländer zuzuführen. An eine systematische erkennungsdienstliche Erfassung oder die Überprüfung der Einreisevoraussetzungen war in einer solchen Situation nicht zu denken; es ging vielmehr einzig darum, die Bewegung des Flüchtlings­stroms nicht in Bayern stocken zu lassen. In Berlin machte ein Satz die Runde, der lange Wochen seine Gültigkeit behalten sollte: „Die Steuerungshoheit liegt beim Treck“.

Die Organisation reagiert auf die Herausforderungen

Die grenznahe Aufnahme der Flüchtlinge und Migranten begann sich zu strukturieren, nachdem es nach rund vier Wochen gelungen war, mit Österreich fünf Übergabepunkte abzusprechen, an denen kontingen­tiert Migranten von den österreichischen an die deutschen Behörden übergeben wurden. Parallel dazu wurde unter enger Einbindung des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur gleichsam ein wöchentlicher Bus- und Zugfahrplan entwickelt, der die verzugsarme Weiterleitung der Migranten an zentrale Abholpunkte in den Bundesländern zu festgelegten Zeiten ermöglichte. Behörden und freiwillige Helfer konnten sich nunmehr darauf einstellen, wann die nächste Gruppe von Flüchtlingen in ihrem Verantwortungsbereich eintreffen würde, wenn dies auch nicht in allen Fällen zu den üblichen Verkehrs- und Arbeitszeiten geschah und damit zusätzliche Belastungen auf allen Seiten erzeugte.

Am 9. Oktober 2015 traf dann das Innenministerium für den Bund eine Vereinbarung mit den Bundes­ländern zur Bereitstellung von insgesamt 40.000 Plätzen in Wartezentren und Erstaufnahmeeinrichtungen. Der Bund sicherte Unterstützung zu beim Betrieb von Erstaufnahmeeinrichtungen der Länder sowie beim Betrieb der Wartezentren des Bundes und stellte die Identifizierung und gegebenenfalls Beschaffung von weiteren, „nicht festen“ Unterbringungsmöglichkeiten zur temporären Unterbringung von Flüchtlingen und Asylsuchenden in Aussicht.

Die Wartezentren Feldkirchen und Erding, ursprünglich als eine Art „Warteräume für Migranten bis zum Abtransport aus Bayern in die Aufnahmebundesländer“ vorgesehen, wuchsen bis März 2016 auf eine Zielkapazität von jeweils 5.000 Unterkunftsplätze auf. Sie sollten ab Ende Dezember 2015 dann noch eine zusätzliche Funktion im Rahmen der Erfassung und Registrierung erhalten. Insgesamt wurden in Liegen­schaften des Bundes zunächst rund 150.000 Unterbringungsplätze geschaffen. Personell erhielten die Länder Unterstützung aus sogenannten Ressort-Kollekten der Bundesbehörden. Insbesondere das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) wurde personell durch Angehörige der Bundeswehr und des Zolls verstärkt, um zunächst die Spitzen im Bereich der Erfassung von Asylanträgen abzufangen.

Die Konsolidierung des gesamten Aufnahmeverfahrens erfolgte allerdings erst Ende Februar/Anfang März 2016 mit dem Wirksamwerden nationaler Maßnahmen einzelner Mitgliedsstaaten der EU, darunter insbe­sondere die Grenzschließungen entlang der Westbalkanroute und der damit signifikanten Abnahme der Zahl der nach Deutschland gelangenden Migranten.

Ein schöner, wenn auch kurzlebiger Nebeneffekt der besonderen Herausforderungen im Herbst war die Herausbildung einer Willkommenskultur, wenn auch der Begriff selber und die hinterlegte Bedeutung nicht unumstritten sind. Helfen wollte jeder und das alte Sprichwort, welches besagt, dass das Gegenteil von gut nicht schlecht, sondern gut gemeint ist, hätte nun erfunden werden müssen, wenn es noch nicht existiert hätte. Alle meinten es gut, aber wurden schnell enttäuscht, wenn es eben nicht zum Verteilen von Spielzeug an weinende Kinder oder von Lunchboxes an hungrige Erwachsenen kam, weil eben jene während der Zugfahrt beschlossen hatten, die Notbremse zu betätigen und an Orten auszusteigen, die ihnen als besser geeignet erschienen, als der durch die Verkehrsleitstelle in Absprache mit den Bundesländern zugewiesene. Derartige Vorfälle führten dann regelmäßig zu mehrstündigen Verspätungen und eine Vielzahl derer, die sich auf das Helfen gefreut hatten, waren längst schon wieder zuhause, wenn die Züge schließlich in den Bahnhöfen eintrafen. Dabei muss berücksichtigt werden, dass viele Nichtregierungsorganisationen nahezu ausschließlich von freiwilligen Helfern abhängig sind. Wer aber dann mehrfach umsonst bei seinem Arbeit­geber um ein paar Stunden Dienstbefreiung gebeten hatte, um sich bei der Flüchtlingskrise als freiwilliger Helfer zu engagieren, stellte sein Engagement auch schnell wieder ein, als das unmittelbare (positive) Feedback des „Selber-Helfens“ ausblieb. Dennoch, gerade in den ersten Wochen war der Einsatz der Freiwilligen unverzichtbar, schlossen sie doch Lücken in einem ansonsten sehr lückenhaften Konzept.

Institutionelle Reaktionen zur Erfassung und Registrierung

Neben den Herausforderungen im Bereich Transport, Verkehr und Unterbringung waren sicherheitspoli­tische Aspekte zu berücksichtigen. So sehr die betroffenen Behörden, vor allem BAMF und Bundes­polizei/Polizei bemüht waren, den Migranten und Flüchtlingen die Ankunft in Deutschland als ersten Kontakt mit der vielfach beschworenen Willkommenskultur zu gestalten, bestanden doch auch Notwendig­keiten, neben der Herkunft des betroffenen Personenkreises auch dessen Identität festzustellen. Nur, Identität ist ein individuelles Merkmal und an Tagen mit bis zu 15.000 Migranten, die von Österreich aus nach Deutschland kamen, war an eine individuelle Identitätsfeststellung überhaupt nicht zu denken. Hinzu kam, dass die über soziale Netzwerke ständig aktuell gehaltene „Schwarmintelligenz“ schon früh die Information verbreitete, dass es zunächst einmal von Vorteil sei, bei der Einreise anzugeben, nicht mehr im Besitz von Ausweispapieren zu sein. Die Masse der Einreisenden, wenn sie denn irgendwo erfasst wurde, erklärte sich sozusagen selbst, gab also Name, Geburtsdatum und Staatsbürgerschaft, vielfach auch nur die ethnische Herkunft, ohne irgendeine Form des Nachweises an.

So entstand ein besonderer Druck, rasch Maßnahmen zu ergreifen, um die die Erfassung der Migranten mög­lichst vollständig und grenznah zu ermöglichen. Obwohl die Aufgaben der Bundespolizei neben der polizei­lichen Überwachung der Grenzen auch die Überprüfung der Grenzübertrittspapiere und der Berechtigung zum Grenzübertritt sowie die Grenzfahndung bis zu einer Tiefe von 30 Kilometern ins Landesinnere beinhal­ten, war diese zu keinem Zeitpunkt in der Lage, mehr als rund 600 Migranten am Tag erkennungsdienstlich zu behandeln. Es bedurfte daher dringend einer „Unterstützungsorganisation“. Dazu wurde in Erding und Feld­kirchen Infrastruktur der Bundeswehr in Unterbringungskapazitäten umgewandelt. Dort wurden Soldaten, die zum BAMF abgestellt waren, zur Anlage einer sogenannten „Vorakte“ für ein Asylverfahren eingesetzt. Diese für das eigentliche Asylverfahren nicht erforderliche Vorakte erlaubte neben der Erfassung von Personendaten auch die Abnahme von Fingerabdrücken. Nach Eingabe in das Datenerfassungssystem des BAMF wurden die Fingerabdrücke an das BKA übermittelt und standen damit theoretisch für weitere Identitätsprüfungen zur Verfügung. Auf diesem Wege wurde sichergestellt, dass spätestens seit dem Jahreswechsel alle Migranten erkennungsdienstlich erfasst werden konnten. Dennoch bleibt das Risiko, dass die im Wesentlichen ja auf Selbstauskunft basierenden Angaben zur Person mit Fingerabdrücken vernetzt werden und damit letztendlich lediglich zu „künstlichen“ Identitäten führen.

Die Umstrukturierung des BAMF und die Auswirkungen auf die zukünftige Organisation

Das BAMF stellt in der Erfassung, Registrierung und Bescheidung von Asylanträgen sowie der regionalen Zuweisung der Flüchtlinge und Asylbewerber ein Nadelöhr dar. Nach der Übernahme der Behörde durch den Leiter der Bundesagentur für Arbeit, Frank-Jürgen Weise, im September 2015 begann man rasch mit Umstrukturierungen und vor allem der Einstellung von zusätzlichem Personal. Dieses soll dazu dienen, zum einen die „Altlasten“ an ausstehenden Asylentscheidungen abzubauen und zugleich die erwarteten Neuan­träge zeitnah und rasch zu bearbeiten. Die anhängigen Asylverfahren werden hierzu in drei wesentliche Gruppen eingeteilt, um eine effizientere Bearbeitung sicherzustellen. Hierbei werden einerseits Asylbewer­ber aus Krisengebieten (wie zum Beispiel Syrien) sowie Asylbewerber aus sicheren Herkunftsstaaten (wie jenen des Westbalkans) und seit Februar 2016 auch aus Algerien, Tunesien und Marokko in den Entschei­dungszentren beschleunigten Verfahren unterzogen, um diese schnell beenden zu können. Die komple­xeren Fälle, deren Bearbeitung einer intensiveren Einarbeitung bedarf, werden in den Außenstellen bearbei­tet. Im Rahmen des Gesamtverfahrens wurde zusätzlich ein System verstärkter Qualitätssicherung imple­mentiert: Ein Team von Juristen führt stichprobenartig Prüfungen der Bescheide durch und steht außerdem als Ansprechpartner für alle rechtlichen Fragen zur Verfügung.

Es ist wenig überraschend, dass dieses auf Zeitnähe ausgelegte Verfahren ausgerichtet ist an den Erfahrun­gen der letzten Monate des Jahres 2015, in denen bis zu 15.000 Migranten täglich nach Deutschland kamen und schlicht aufgrund ihrer Anzahl die Kapazitäten der Länder und Gemeinden zu erschöpfen drohten. Der große Vorteil besteht darin, dass es die erforderliche Flexibilität bietet, die bereits im Land befindlichen potentiellen Asylbewerber in einem zeitlich akzeptablen Rahmen asylverfahrenstechnisch zu bearbeiten. Vor dem Hintergrund der Entwicklungen in den letzten Wochen, insbesondere der Entscheidungen beim Treffen der Mitglieder des Europäischen Rates mit ihrem türkischen Amtskollegen im März und den in diesem Zusammenhang getroffenen Absprachen, sind jedoch Zweifel angebracht, ob dieses Verfahren auch zukünftig den Anforderungen gerecht werden wird. Diese Zweifel bestehen nicht zuletzt auch deswegen, weil die im Rahmen des EU-Türkei-Abkommens erfassten Personen einen anderen rechtlichen Status besitzen werden, als die Masse der bisherigen Migranten. Als sogenannte Kontingentflüchtlinge durch­laufen diese nämlich kein Asyl- und auch kein sonstiges Anerkennungsverfahren, sondern erhalten mit ihrer Ankunft sofort eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen.

Return, Resettlement und Relocation: ein ambivalenter Ausblick auf das EU-Türkei-Abkommen

Return, Resettlement und Relocation sind die drei Begriffe, die im Zusammenhang mit den Ergebnissen der Vereinbarungen zwischen EU und Türkei vom 18. März 2016 die deutsche Strategie in Bezug auf die Migra­tion nach Europa aus dem Nahen Osten beschreiben sollen. Sie sind Synonyme für die abgestimmten Maß­nahmen, um die Anzahl der Zuwanderer zu begrenzen, die Aktivitäten der Schleuser einzuschränken, illegale Migration einzudämmen und die europäischen Außengrenzen wieder herzustellen.

Return bezieht sich dabei auf die Rückführung von illegal aus der Türkei nach Griechenland eingereisten Migranten durch die EU. Die Betroffenen sollen dabei einem „high-speed“-Asylverfahren, einschließlich der Möglichkeit zum Einspruch, unterzogen werden und bei Nicht-Vorliegen eines Asylgrundes zeitnah in die Türkei zurückgeführt („returned“) werden. Der gesamte Vorgang basiert im Wesentlichen darauf, dass die Türkei durch Griechenland als sicheres Herkunftsland bewertet wird, was somit die Rückführung der Migranten legal macht. Wie dies mit Blick auf zum Beispiel in der Türkei lebende Kurden zu bewerten ist, bleibt zunächst noch offen.

Entsprechend der Anzahl der unter den Rückgeführten befindlichen syrischen Flüchtlingen soll dann ein Resettlement anderer, bereits in der Türkei befindlicher Asylsuchender, die zuvor noch keinen illegalen Einreiseversuch unternommen haben, durchgeführt werden, indem Mitgliedstaaten der EU diese Flücht­linge in der Türkei abholen (im Status eines Kontingentflüchtlings). Nach den Vorstellungen der Türkei würden die Maßnahmen zwischen Return und Resettlement nicht mehr als eine Woche benötigen.

Das jetzige Verfahren ist ausgerichtet auf maximal 72.000 Migranten, die aus der Türkei im Rahmen des Resettlements aufgenommen werden können – bei der Formulierung dieses Satzes muss man schon einige Mühen aufwenden, um das Wort „Obergrenze“ nicht zu benutzen. Danach endet das Verfahren, ohne dass über Nachfolgeoptionen bisher verhandelt wurde. Die Ambivalenzen und Unabwägbarkeiten des gesamten Verfahrens werden deutlich, wenn man sich vor Augen führt, dass ja zunächst erst einmal Syrer illegal nach Griechenland einreisen, dort im Asylverfahren abgelehnt, und schließlich zurück in die Türkei verschifft werden müssen, bevor andere Syrer, die sich bereits in der Türkei aufhalten, ausgewählt durch UNHCR, von Staaten der EU abgeholt werden.

Es drängt sich die Frage auf, warum zunächst eine illegale Migration nach Europa auf abenteuerlichen Wegen wie der Mittelmeerüberquerung erfolgen muss, um erst danach/dadurch in der Türkei das Resettle­ment auszulösen. Wäre es nicht sinnvoller, die Türkei verhindert unmittelbar die Mittelmeerquerung und Europa nimmt ihr im Gegenzug syrische Flüchtlinge direkt ab? Flüchtlinge müssten dann nicht mehr ihr Leben riskieren, um in die EU zu gelangen, und der Zustrom von Migranten könnte legal erfolgen und begrenzt werden. Und tatsächlich gibt es in dem Abkommen einen Passus, der vorsieht, dass, „sobald die irregulären Grenzüberquerungen zwischen der Türkei und der EU enden oder zumindest ihre Zahl erheblich und nachhaltig zurückgegangen ist, eine Regelung für die freiwillige Aufnahme aus humanitären Gründen aktiviert wird. Die EU-Mitgliedstaaten werden einen freiwilligen Beitrag zu dieser Regelung leisten“. Diese Migranten würden in Deutschland dann ebenfalls den Status „Kontingentflüchtling“ erhalten.

Es ist offensichtlich, dass hier der eigentliche Anreiz für die Türkei liegt, die illegale Einwanderung nach Europa von ihrem Staatsgebiet aus einzudämmen: Während im Resettlement-Verfahren die türkischen Grenzsicherungsbehörden zunächst einmal bei Übertrittsversuchen von der Türkei nach Griechenland kräftig wegschauen müssten, um – sozusagen als Vorleistung – „Tauschflüchtlinge“ für die bereits in der Türkei anwesenden, maximal 72.000 syrischen Flüchtlinge zu generieren, wäre in der zweiten Option die Möglichkeit gegeben, eine nach oben hin nicht begrenzte Anzahl von Flüchtlingen an die Europäische Union zu überführen. Da die Formulierungen der Vereinbarung unspezifisch sind („irreguläre Grenzüber-querungen“), bleibt offen, ob es sich neben Syrern auch um Menschen anderer Staaten und, da im betref­fenden Passus von „humanitären Gründen“ – also noch nicht einmal vom begründetem Anspruch auf internationalen Schutz – die Rede ist, um sonstige Flüchtlinge handeln könnte, welche sich in der Türkei aufhalten. Auch hier stellt sich sehr schnell wieder die Frage nach den Wechselwirkungen mit inner­türkischen Entwicklungen, wie beispielsweise der Auseinandersetzung mit den Kurden.

Relocation ist die dritte Dimension der Verhandlungsergebnisse des EU-Türkei-Gipfels. Sie zielt ab auf die sich bereits in Griechenland befindlichen geschätzten 50- bis 60.000 Flüchtlinge unterschiedlichster Herkunft. Idomeni gilt als das Sinnbild vom Elend der in Griechenland Gestrandeten. Aber auch durch die vielen anderen größeren und kleineren Flüchtlingslager ist ein erheblicher humanitärer, ethischer und vor allem medialer Druck auf die Regierungen der Europäischen Union entstanden. Diesen Druck gilt es nun gemeinsam zu verringern, wobei verschiedene Überlegungen den Rahmen für die Maßnahmen vorgeben. Zum einen soll die illegale Einreise in den Schengen-Raum nicht mehr belohnt werden. Zum anderen soll die Rückkehr zum Dublin-Verfahren beschleunigt werden und nicht zuletzt soll auch Griechenland mittel­bar dazu bewegt werden, seine Verpflichtungen als EU-Mitgliedsland mit Außengrenze stärker als bisher wahrzunehmen. Alle diese Überlegungen würden eher dafür sprechen, die bereits in Griechenland befind­lichen Flüchtlinge nicht auf die Mitgliedsstaaten des Europäischen Rates zu verteilen, sondern stattdessen Griechenland „Hilfe zur Selbsthilfe“ zu leisten. Diese wird aber weder organisatorisch noch praktisch zu dem gewünschten Erfolg führen. Es erscheint derzeit unausweichlich, auch jene 50- bis 60.000 illegale Migranten im europäischen Kernland aufzunehmen und nicht zuletzt auch auf diese Weise Griechenland eine Kompensation für die aufwendigen Asylverfahren anzubieten, welche nunmehr auf den Inseln zur Unterstützung des zuvor beschriebenen Resettlement-Prozesses notwendig werden.

Mit den Beschlüssen des Europäischen Rates vom März 2016 wurde ein Ansatz für eine europäische Lösung skizziert, die nachhaltig sein kann. Er erfordert unter anderem aber auch, Griechenland in der aktuellen Situation zu unterstützen. Deutschland wird daher trotz der eigenen hohen Belastung die Umsiedlung von eindeutig Schutzbedürftigen, die im September 2015 beschlossen wurde, noch deutlich verstärken müssen. Dazu wird es unerlässlich sein, dass der Bund ein Verfahren im Einzelnen mit den Ländern abstimmt. Ob die in den letzten Monaten entwickelten Prozeduren dazu geeignet sind oder ob es vielmehr neuer, angepass­ter Verfahren bedarf, wird zu prüfen sein.

Oberst i.G. Andreas Jödecke ist Verbindungsoffizier des Verteidigungsministeriums beim Bundesministerium des Innern im Stab Koordinierung der Flüchtlings- und Asylbewerberaufnahme. Der Autor gibt seine persön­liche Meinung wieder.

Copyright: Bundesakademie für Sicherheitspolitik | ISSN 2366-0805 Seite 1/5

 

Arbeitspapier Thema: 
Deutsche Sicherheitsarchitektur
Flucht und Migration
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Deutschland
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Deutschland
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