Arbeitspapiere

Chinas Verschuldung: Ein sicherheitspolitisches Risiko?

1/2019
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Chinas zunehmendes Gewicht in den internationalen Beziehungen ist untrennbar mit dem wirtschaftlichen Aufstieg des Landes verbunden. Allerdings wird die Stabilität und Nachhaltigkeit des chinesischen Wirtschaftsmodells von einigen Beobachtern, darunter der Internationale Währungsfonds, in letzter Zeit skeptischer gesehen. Die Verschuldung des Landes ist die Achillesferse: Seit 2008 wächst die Gesamtverschuldung mit jährlichen Wachstumsraten von 20 Prozent und damit deutlich schneller als die Wirtschaftsleistung. Von 2008 bis 2016 stiegen die Verschuldung des Staates, der Unternehmen (ohne Finanzsektor) und der privaten Haushalte um rund 100 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Diese hohe und rasch wachsende Verschuldung gefährdet nicht nur Chinas innenpolitische Stabilität, sondern könnte auch sicherheitspolitische Folgen haben. Ein wirtschaftlich instabiles China wird außenpolitisch zum Risiko für den indo-pazifischen Raum.

Die Volksrepublik China schien in ihrer wirtschaftlichen Entwicklung lange unaufhaltsam zu sein. Die Meldungen aus dem aufstrebenden Land verblüfften ein ums andere Mal. China erzielte etwa in der Infrastrukturentwicklung kaum für möglich gehaltene Erfolge. Übersehen wurde lange, dass die Basis des chinesischen Erfolgs seit einem Jahrzehnt brüchig ist. Der Kern des Problems ist einfach: Seit 2008 wächst die Gesamtverschuldung Chinas stärker als seine Wirtschaftsleistung. Dies ist eine neue Entwicklung. In den 1980er Jahren etwa war es umgekehrt: China baute seine Verschuldung (Staat, private Unternehmen ohne Finanzsektor, private Haushalte) ab. In den folgenden knapp 30 Jahren, bis 2008, bewegten sich Verschuldung und Wirtschaftswachstum parallel. Seitdem klafft aber eine immer größere Lücke zwischen Verschuldung und Wirtschaftsleistung. Von 2008 bis 2016 stieg die Verschuldung von 135 Prozent des BIP auf 235 Prozent.1 Andere Quellen nennen einen noch stärkeren Anstieg und beziffern die Gesamtverschuldung auf beinahe das Dreifache der jährlichen Wirtschaftsleistung.2 Chinas Kreditboom ist offenbar kaum noch zu kontrollieren.

Keine Wirtschaft kann sich grenzenlos verschulden

Viele Beobachter in westlichen Ländern haben sich in der Vergangenheit bei der Bewertung der wirtschaftlichen Risiken in China geirrt und eine negative Entwicklung skizziert, die nie eintrat. Auch bei der Bewertung der gegenwärtigen Schuldenkrise ist daher eine gewisse Vorsicht geboten. Die Kritiker könnten sich abermals irren. Die chinesische Regierung könnte abermals ein gravierendes wirtschaftspolitisches Problem erfolgreich bewältigen. Gegen diese optimistische Sichtweise spricht, dass die Einschätzungen neutraler Beobachter heute deutlich eindeutiger sind als bei früheren wirtschaftlichen Herausforderungen.

Der Internationale Währungsfonds (IWF) etwa hat in einem Arbeitspapier aus dem Jahr 2018 untersucht, ob Chinas Kreditboom gefährlich ist. Sind bei der Bewertung der angestiegenen Verschuldung Faktoren zu berücksichtigen, die Chinas Situation weniger unheilvoll erscheinen lassen? Die eindeutige Antwort des IWF ist, dass es in der Geschichte keinen einzigen Fall gibt, in der ein so rasches Kreditwachstum wie in China nicht in einer Finanzkrise endete. Der IWF warnt zugleich vor einer weiteren Verschleppung der Strukturanpassung und konstatiert, dass jede Verschiebung der Korrektur diese umso gravierender werden lässt.3

Allerdings wäre es unzutreffend, von einer chinesischen Finanzkrise starke Ansteckungsgefahren auf andere Finanzmärkte zu erwarten. Chinas Finanzsystem ist nach wie vor sehr wenig mit anderen Finanzsystemen verflochten. Chinesische Investoren sind zwar stark im Ausland präsent, aber Kredite nach China gibt es – soweit sich das heute zweifelsfrei sagen lässt – nicht in großem Umfang. Allerdings gibt es einen Transmissionskanal, der bislang noch wenig Beachtung gefunden hat: Stellt Chinas Notenbank Liquidität bereit, kann dies, trotz umfassender Kapitalverkehrskontrollen, zu Kapitalabflüssen führen. Die nach wie vor hohen Investitionen chinesischer Anleger in ausländische Unternehmen, aber auch in Immobilien – von Australien bis Stuttgart – belegen dies. Eine Finanzkrise in China würde vermutlich die Finanzmärkte der OECD-Länder nicht direkt betreffen, aber wichtige Sektoren, etwa die Automobilindustrie in Deutschland, müssten vermutlich sehr starke Nachfragerückgänge verkraften. Eine Finanzkrise würde zudem die Nachfrage nach ausländischen Dienstleistungen deutlich dämpfen. Sowohl die Zahl von chinesischen Touristen als auch von chinesischen Studierenden würde wahrscheinlich zumindest zeitweise deutlich zurückgehen.

Besonderheiten des chinesischen Finanzsystems

Das chinesische Finanzsystem weist eine Reihe von Eigentümlichkeiten auf, die die Bewertung der Risiken erschweren. Eine Besonderheit sind die Finanzierungsstrukturen auf lokaler Ebene. Den chinesischen Gebietskörperschaften ist es gesetzlich untersagt, sich zu verschulden. Sie umgehen dieses Verbot mit Billigung der Zentralregierung aber seit 2008 mit so genannten local government financing vehicles (LGFV). Dies sind Unternehmen im Besitz der Gebietskörperschaften, die Landnutzungsrechte als Sicherheiten für Kreditvergabe anbieten. Im Grunde handelt es sich um die Verschleierung von verbotener Kreditaufnahme. Die Kommunen sind aber auf diesen Weg angewiesen, um die ambitionierten städtischen Infrastrukturmaßnahmen, etwa Verkehrssysteme, zu finanzieren.4 Dieser Weg wird auch als fiscal income from land bezeichnet. Doch handelt es sich überhaupt um relevante Summen?

Die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich hat 2018 eine Untersuchung zu den chinesischen Schattenbanken, also dem informellen Finanzsektor, veröffentlicht. Schon 2016 hatten die LGFV Anleihen im Wert von 18.500 Milliarden Yuan, etwa 2.300 Milliarden Euro, ausgegeben. Schon diese Schuldenhöhe, die etwa der gesamten italienischen Staatsverschuldung entspricht, ist bemerkenswert. Noch besorgniserregender ist aber der äußerst schnelle Anstieg von 577 Milliarden Euro im Jahr 2013 auf den genannten Wert.5 Der IWF beziffert das jährliche Kreditwachstum der Unternehmen im Besitz der Gebietskörperschaften auf 25 Prozent pro Jahr seit 2007.6

Schattenbanken finanzieren also staatliche Infrastrukturinvestitionen. Schon dieser Sachverhalt überrascht, weil die Finanzierung dieser Investitionen in OECD-Ländern von den klassischen Geschäftsbanken oder durch die Ausgabe von Staatsanleihen geschieht. Der chinesische Weg verschleiert Kreditrisiken, aber letztlich verschwinden sie nicht. Zudem liegt eine strikte Trennung zwischen dem regulierten Bankensystem und den Schattenbanken nicht vor. Mit anderen Worten: Die Risiken des Schattenbankensystems schlagen direkt auf die Geschäftsbanken durch.

Chinas Oberschicht verliert das Vertrauen

Angesichts des rasanten Schuldenwachstums stellt sich die Frage, ob in China eine gefährliche Entwicklung übersehen wird. Dies ist nicht der Fall: Die chinesische Oberschicht hat die Risiken klar erkannt. Seit dem Jahr 2015 ist eine bemerkenswerte Trendwende zu beobachten: Seither exportiert China mehr Kapital als es importiert. Die gigantischen Währungsreserven von rund 4.000 Milliarden US-Dollar schmolzen innerhalb eines Jahres um ein Viertel. Die Zentralbank hat unverzüglich die Kapitalverkehrsbeschränkungen verschärft und die Lage damit scheinbar stabilisiert. Dennoch ist das Signal des Jahres 2015 deutlich: Chinesische Investoren reduzieren Investitionen in China zugunsten von Investitionen im Ausland.7 Diese Trendwende kann der Vorbote einer Finanzkrise sein: Wenn Inländer ihr Kapital im Ausland in Sicherheit bringen wollen, ist zu vermuten, dass sie der eigenen Volkswirtschaft nicht mehr viel Vertrauen entgegenbringen.

Gewiss ist ein Vergleich Chinas mit Griechenland oder Argentinien auf den ersten Blick verwegen. Aber auch in jenen Ländern waren es zuerst die inländischen Kapitalbesitzer, die nicht länger im Inland investieren wollten und Kapitalanlagen im Ausland den Vorzug gaben. Kapitalflucht ist stets ein Gradmesser für die wirtschaftlichen Perspektiven einer Volkswirtschaft. Im Falle Chinas stimmen die Kapitalbesitzer durch Kapitalexporte über die wirtschaftliche Zukunft des Landes ab. Die kommunistische Partei Chinas kämpft heute eine stille Schlacht gegen das Misstrauen der chinesischen Anleger.

Diese Instabilität des chinesischen Finanzsystems ist freilich nicht nur für Finanzwissenschaftler von Belang. Eine sich verschärfende Finanzkrise in China könnte auch sicherheitspolitische Auswirkungen haben. Die Führung in Peking könnte sich zu außenpolitischen Abenteuern hinreißen lassen, um von den wirtschaftlichen Schwierigkeiten im Inland abzulenken. Aber selbst wenn China keinen Angriff auf ein anderes Land inszenieren sollte, wird die hohe Verschuldung Auswirkungen auf seine internationalen Beziehungen haben. Chinas Außenwirtschaftspolitik, insbesondere die Belt-and-Road-Initiative (BRI), war lange von hohen Kapitalexporten getragen. Die gesamte BRI sieht chinesische Investitionen in insgesamt 68 Empfängerländern von 1.000 Milliarden US-Dollar vor. Eine Finanzkrise würde diese Politik – ein Kernelement der Außenpolitik von Präsident Xi – scheitern lassen.

Wachsende Skepsis vor Pekings Ambitionen

Die Sorge vor einer Finanzkrise in China wächst auch deshalb, weil der Aufstieg Chinas in vielen OECD-Ländern inzwischen mit Misstrauen verfolgt wird. Jahrelang gingen westliche Beobachter davon aus, dass sich China zu einer offenen, demokratischen Gesellschaft entwickeln würde. Zugleich erwarteten viele politische Entscheidungsträger, dass China letztendlich seinen merkantilistischen Ansatz sowohl in der Handels- als auch in der Investitionspolitik aufgeben würde. Diese Einschätzungen waren falsch. Der Westen „got China wrong.“8

Die Frage nach den Folgen des Aufstiegs Chinas für die internationalen Beziehungen und die Institutionen zur Regulierung der Wirtschaftsbeziehungen wird seit dem Eintritt Chinas in die WTO diskutiert. Lange war die Einschätzung verbreitet, China werde sich innerhalb der existierenden Ordnung bewegen und kein konkurrierendes System zu entwickeln versuchen. Diese Sichtweise hat heute nur noch wenige Anhänger. Im Jahr 2018 ist China für viele Beobachter ein Akteur, der die Regeln der internationalen Politik missachtet. Der frühere Generaldirektor der Welthandelsorganisation Pascal Lamy sieht Chinas Staatskapitalismus als das größte Problem der internationalen Wirtschaftsbeziehungen. Er sieht die Frage nach Kompatibilität der globalisierten Marktwirtschaft mit der chinesischen Staatswirtschaft auch 17 Jahre nach dem Beitritt Chinas zur WTO ungelöst.9

Die Veränderung der Wahrnehmung Chinas in den internationalen Beziehungen ist untrennbar mit Präsident Xi Jinping verbunden. Xi verbindet eine zunehmend autokratische Herrschaft im Innern mit einer wachsenden Aggressivität der chinesischen Außenpolitik. Die Belt-and-Road-Initiative geht auf Xis Initiative zurück und wurde von ihm im Jahr 2013 in Kasachstan verkündet. Ein deutliches Signal sendet China mit seinen aggressiven Aktivitäten im südchinesischen Meer. Die Inselgruppen Paracel, Scarborough und Spratly werden zu Marinestützpunkten ausgebaut. Pekings Beschwichtigungsversuche, die Inseln würden nicht zu militärischen Zwecken genutzt, können nicht überzeugen. Die Missachtung des Urteils des Schiedsgerichts in Den Haag, das im Juli 2016 die Position Chinas als völkerrechtlich illegal erklärte, hat zu keiner Änderung der chinesischen Politik geführt. Die gewaltige maritime Aufrüstung Chinas dokumentiert den Machtanspruch der Volksrepublik in der gesamten Region bis hin zum Horn von Afrika, wo China in Djibouti seit Juli 2017 einen großen Stützpunkt unterhält.10

Vor diesem Hintergrund haben die Regierungen der OECD-Länder ebenso wie die Nachbarstaaten Chinas Grund zur Besorgnis. Chinas wirtschaftlicher Aufstieg steht zunehmend auf tönernen Füßen. Der rasche Anstieg der Verschuldung lässt zwei Alternativen: Entweder reduziert Peking die ausufernde Verschuldung, was zu einer gravierenden Wachstumsdelle oder einer ernstzunehmenden Wirtschaftskrise führen würde. Peking wird diesen Weg vermutlich nicht beschreiten, weil die Legitimität der Herrschaft der kommunistischen Partei untrennbar mit anhaltendem Wirtschaftswachstum verbunden ist. Oder Peking lässt die Verschuldung weiter wachsen, um einer Krise zu entgehen. Die Politik des chinesischen Präsidenten läuft auf die zweite Variante hinaus. Damit wachsen die Gefahren einer Konfrontation mit China.

Prof. Dr. Heribert Dieter ist Gastprofessor für internationale politische Ökonomie an der Zeppelin Universität Friedrichshafen und Wissenschaftler in der Forschungsgruppe „Globale Fragen“ der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin.

1 International Monetary Fund (2017): Financial System Stability Assessment. IMF Country Report No. 17/2017, December 2017, S. 4.

2, Chen (2015): China’s Dangerous Debt. Why the Economy could be headed for Trouble, Foreign Affairs, 94. Jg., Nr. 3 (May/June 2015), S. 13-18 (13).

3 Chen/Kang (2018): Credit Booms - Is China Different? IMF Working Paper WP 18/2, January 2018 [online], S. 8 und 16.

4 Song/Xiong (2018): Risks in China’s Financial System. NBER Working Paper 24230, January 2018 [online], S. 14.

5 Ehlers/Kong/Zhu (2018): Mapping shadow banking in China: structure and dynamics. Bank for International Settlements, Working Paper 701, February 2018 [online], S. 23 und 26.

6 IWF 2017 (Anm. 1), S. 29.

7 Song/Xiong (Anm. 4), S. 24.

8 The Economist (2018): How the West got China wrong, 3. März 2018, S. 18.

9 Handelsblatt (2018): „Wir müssen Druck auf China ausüben“, 9. August 2018, S. 9.

10 Neue Zürcher Zeitung (2018): Die Wächter der neuen Seidenstrasse, 5. Juli 2018 [online].

Copyright: Bundesakademie für Sicherheitspolitik | ISSN 2366-0805 Seite 1/4

 

Working Paper topic: 
New Silk Road
Economic Policy
Region: 
Asia/Pacific
China
Tags: 
China
Wirtschaftspolitik
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Asien/Pazifik