Die EU müsse endlich ein globaler politischer Akteur werden, schreibt Armin Staigis - wie beim G7-Gipfel 2025 in Kananaskis mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und dem Präsidenten des Europäischen Rates António Costa. Foto: Simon Dawson / No 10 Downing Street / CC BY-NC-ND 2.0
Die Lage – aufgrund von zwei „Zeitenwenden“
Als Russland 2022 die Ukraine zum zweiten Mal überfiel, musste der freie Teil Europas endgültig erkennen, dass es dem Diktator Wladimir Putin nicht nur um einen Eroberungs- und Vernichtungsfeldzug in der Ukraine ging, sondern um eine gewaltsame Veränderung der bisherigen europäischen Friedens- und Sicherheitsordnung, letztlich um neu zu schaffende Macht- und Einflusssphären.[1] Das war die sogenannte erste „Zeitenwende“. Die zweite zu verzeichnende „Zeitenwende“ ist die Abwendung der USA vom freien Europa als Wertegemeinschaft. Als Paukenschlag ist hier die Rede des US-Vizepräsidenten J.D. Vance auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2025 zu betrachten, wonach Europa im Vergleich zu Russland und China für die USA die größere Gefährdung sei. Zum Krieg in der Ukraine hat es nach dem Eklat im Weißen Haus Ende Februar 2025 ein mehrmaliges Hin und Her der US-Politik gegeben. US-Präsident Donald Trump ist aktuell bereit, die Ukraine weiter militärisch zu unterstützen, wenn die Europäer dafür zahlen. Gleichzeitig bleibt die weitere Lageentwicklung bei den Konsultationen zwischen Washington und Moskau zu einem möglichen Waffenstillstand nach Trumps ultimativen Forderungen und Sanktionsandrohungen, auch gegenüber den Unterstützern Russlands, schwer einschätzbar. Ist das nun tatsächlich ein erneuter Kurswechsel in der US-Politik, und wie lange hält dieser vor? Das weitere Vorgehen der US-Administration bleibt unberechenbar und wenig verlässlich.
Auch nach dem G7-Gipfel in Kanada und dem NATO-Gipfel in Den Haag muss weiterhin die Frage gestellt werden, wie es tatsächlich um die transatlantische Verbundenheit bestellt ist. Trotz der weitreichenden Beschlüsse zur Stärkung der europäischen Verteidigung und einer gelungenen politischen Schadensbegrenzung während dieser Gipfel sollten die Europäer sich nicht darüber hinwegtäuschen lassen, wie fragil die transatlantischen Beziehungen sind. Wie verlässlich ist die Beistandsverpflichtung nach Artikel 5 des NATO-Vertrages durch die USA tatsächlich? Die Zeit drängt: Russland hat auf Kriegswirtschaft umgestellt und vergrößert seine Streitkräfte kontinuierlich auf 1,5 Millionen Soldaten. Spätestens 2029 könnte es in der Lage sein, NATO-Territorium in seiner Nachbarschaft anzugreifen und die Bündniskohäsion nachhaltig zu testen. Auch sollten sich die Europäer darüber bewusst sein, dass es unabhängig davon, wer 2029 US-Präsident sein wird, keine Rückkehr zum Status quo ante geben wird.
Das freie Europa mit der Europäischen Union als Zentrum hat nach der ersten „Zeitenwende“, gemeinsam und abgestimmt mit den transatlantischen Partnern, geschlossener und entschlossener gehandelt als vermutet, und damit wohl auch den Kreml überrascht. Das gilt zum einen für die militärische Unterstützung der Ukraine – wenn auch immer zu langsam und zu wenig, vor dem Hintergrund der eigenen Ressourcenknappheit und der Furcht aufgrund russischer Nukleardrohungen. Zum zweiten wurde das Sanktionsregime gegen Russland über die Zeit ständig verschärft. Sicher bleiben hier Durchsetzungsdefizite. Was jedoch wesentlicher ist und bis heute fehlt, ist eine politisch-strategische Zieldefinition sowohl der NATO als auch der EU. Am deutlichsten wird dies an der bis heute nicht beantworteten Frage, ob die Ukraine diesen Krieg gewinnen soll oder ob Russland diesen Krieg nicht gewinnen darf.
Nach der zweiten „Zeitenwende“ wird nun überdeutlich, dass sich die EU in dieser aktuellen Konfliktlage als politischer Akteur immer noch nicht als ausreichend handlungsfähig erweist. Die Europäische Union wird von Russland und den USA ignoriert und vermag dies aus eigener Kraft bisher nicht zu ändern. Sicherlich sind die neuerlichen Impulse zur Stärkung des europäischen Verteidigungssektors durch den Europäischen Rat und die EU-Kommission ein wichtiges und richtiges Signal nach innen wie nach außen. Doch diese ersetzen noch lange keine europäische Sicherheitsstrategie, denn mit Geld allein wird keine glaubwürdige Verteidigungsfähigkeit als Grundlage für eine wirksame Abschreckung erreicht.
Wie muss Europa jetzt handeln?
1. Die Ukraine unterstützen
In den drei Jahren seit Februar 2022 wurden der Ukraine durch die westlichen Geberländer 267 Milliarden Euro an Hilfsgeldern zugewiesen. Davon entfielen 130 Milliarden auf militärische Hilfen, 118 Milliarden auf finanzielle Unterstützung und 19 Milliarden auf humanitäre Maßnahmen, so das Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW Kiel). Auf den ersten Blick sind dies schon beeindruckende Zahlen. Jedoch machen sie weniger als 0,2 Prozent des jeweiligen jährlichen Bruttoinlandsprodukts (BIP) von Ländern wie Deutschland, Großbritannien und den USA aus. „Betrachtet man die Staatshaushalte der meisten europäischen Geberländer, so erscheint die Unterstützung der Ukraine in den letzten drei Jahren eher als kleines ‚Nebenprojekt‘, denn als große finanzielle Anstrengung“, so Christoph Trebesch vom IfW Kiel.[2] Dabei hat Europa als Ganzes – die EU-Mitglieder, die EU-Institutionen sowie Großbritannien, Norwegen, die Schweiz und Island – in der Gesamtsumme der Hilfen und bei der militärischen Unterstützung die USA bereits überholt. Will das freie Europa zukünftig seine eigene Sicherheit gewährleisten, dann muss es die Ukraine politisch, militärisch, finanziell und humanitär noch erheblich umfangreicher als bisher unterstützen. Dies gilt insbesondere, wenn die USA als Geber ganz oder teilweise ausfallen. Rein aus makroökonomischer Sicht kann Europa den bisherigen Anteil der USA kompensieren. Auch im Militärischen wäre es finanziell leistbar, wenn die Europäer rund 20 Milliarden Euro zusätzlich im Jahr aufbrächten, kalkuliert das IfW Kiel.[3] Es blieben jedoch in strategisch wichtigen Bereichen wie Aufklärung, Geheimdienstinformationen, Satellitenkommunikation und bei wichtigen Systemen der Luftverteidigung und weitreichenden Flugkörpern Lücken, die aufgrund der eigenen, über Jahrzehnte nicht behobenen Defizite in Europa nicht zügig geschlossen werden könnten. Der bereits durch die Europäer in Aussicht genommene Kauf dieser Waffensysteme in den USA könnte dabei ein wichtiger Teil der Lösung sein.
Es geht, wie immer, um den politischen Willen und dessen konsequente Umsetzung. In den nächsten Jahren muss das freie Europa gegenüber Moskau und Peking und nunmehr auch gegenüber Washington in Wort und Tat deutlich machen, dass es an der Seite der Ukraine steht. Hier muss Europa in großer Geschlossenheit weitere zusätzliche Lasten auf sich nehmen, um einen Fall der Ukraine zu verhindern und dessen Verteidigungsfähigkeit zu stärken – auch über einen Waffenstillstand und eine etwaige Friedensübereinkunft hinaus. Das dient letztlich der Sicherheit aller freien europäischen Staaten.
2. Einen (möglichen) Waffenstillstand in der Ukraine absichern
Niemand kann derzeit absehen, ob und wann es zu einem Waffenstillstand in der Ukraine kommen wird, und wie ein solcher Prozess in Friedensverhandlungen überführt werden kann. Zu hoffen ist zunächst, dass sich die EU und ihre europäischen Verbündeten über die Voraussetzungen eines echten und nachhaltigen Friedens für die Ukraine einig sind: Wahrung des Selbstbestimmungsrechts einer souveränen Ukraine einschließlich der freien Bündniswahl und Beharren auf dem völkerrechtlichen Grundsatz, dass Grenzen nicht gewaltsam verändert werden und daher die russischen Eroberungen keine internationale Anerkennung finden dürfen (auch wenn ein Abzug der russischen Truppen zunächst nicht durchzusetzen wäre). Wenn ein solcher Waffenstillstand gelänge und zu Friedensverhandlungen führte, bedarf es politischer und militärischer Sicherheitsgarantien für die Ukraine, die keinesfalls in einem „Minsk III“-Abkommen mit OSZE-Beobachtern oder durch eine Friedenstruppe der Vereinten Nationen, bei der Russland ein Vetorecht hätte, erreicht werden könnten. In Anbetracht der bereits geäußerten US-Position, sich an militärischen Sicherungsmaßnahmen nicht zu beteiligen, läge die Verantwortung dafür zwangsläufig bei den Europäern. Frankreich und Großbritannien haben bereits für eine „Koalition der Willigen“ eine Führungsrolle übernommen. Deutschland hat sich diesem Prozess nach der Regierungsbildung 2025 richtigerweise angeschlossen und sollte sich auf eine Beteiligung deutscher Truppen vorbereiten. Eine „Koalition der Willigen“ für diese wichtige und hochsensible Aufgabe zu bilden, ist politisch klug und geboten, um NATO und EU als politische Organisationen nicht unmittelbar zu involvieren.
Während die Streitkräfte der Ukraine unmittelbar an der Waffenstillstandslinie stünden, könnten die Truppen der „Koalition der Willigen“ mit einem Abstand dahinter stationiert werden. Dabei sollten so viele europäische Flaggen wie möglich beteiligt sein. Zwingend wäre die Teilnahme Frankreichs und Großbritanniens als Nuklearmächte, Deutschlands als größte Macht Europas und die Polens als direktem, militärisch starkem Nachbarn. Diese Truppen wären für mögliche Einsatzoptionen und für eine gemeinsame Ausbildung eng mit den ukrainischen Streitkräften zu verzahnen. Ja, ein solches Szenario birgt Risiken und brächte für die Europäer erhebliche Lasten mit sich. Es gilt jedoch zu bedenken, was Präsident Putin beeindruckt, nämlich Stärke und Entschlossenheit und eben nicht Zögerlichkeit und halbe Lösungen. Wenn es dann noch gelänge, die USA zumindest von der Bereitstellung ihrer strategischen Aufklärungs- und Kommunikationsmittel für die Ukraine und diese Koalition zu überzeugen, gäbe es die gute Chance, die Kriegshandlungen in Europa gesichert zu beenden und aus einer gestärkten Position heraus in Friedenverhandlungen einzutreten.
3. NATO und die transatlantische Brücke mittels Europäischer Verteidigung erhalten und ausbauen
Für Europa gibt es derzeit keine Sicherheit ohne die USA, und die USA bliebe keine Weltmacht ohne Europa. Es ist daher sicher richtig, die NATO – als Bündnis gleichermaßen für Nordamerika und Europa unersetzlich – zu erhalten und schon gar nicht totzureden. Die Zweifel und die Unsicherheit an deren Handlungsfähigkeit dürften gleichwohl bleiben, auch wenn die USA formal an ihren Bündnisverpflichtungen festhalten. Für die Europäer gleicht es einem Drahtseilakt, einerseits die USA in Europa zu halten und anderseits sich zugleich von den US-Abhängigkeiten zu befreien. Sie sollten dabei jedoch nicht zum Bittsteller in Washington werden, wie es in letzter Zeit augenfällig zu beobachten war.
Die NATO-Europäer müssen zuallererst endlich ihre Hausaufgaben machen und ihren Beitrag zu einer vertretbaren Lastenteilung im Bündnis leisten, wie es beim Gipfel in Den Haag 2025 zugesagt wurde. Das allein misst sich aber nicht nur an vereinbarten Prozentpunkten des BIP für Verteidigungsausgaben. Es geht um konkrete militärische Fähigkeiten zur Verteidigung des europäischen Bündnisgebiets durch die Europäer selbst, die dazu angesichts eines massiv aufrüstenden Russlands spätestens 2029 in der Lage sein müssen. Für den Gipfel 2025 in Den Haag hat die NATO ihre Streitkräfteplanung turnusgemäß aktualisiert und die Force Requirements festgelegt. Deren Realisierung wird immer noch vorwiegend national geplant und umgesetzt und ist bis heute mit dem EU-Planungsprozess nicht harmonisiert – ein auch nationalen Rüstungsinteressen geschuldeter Zustand, der zu den nationalen „Bonsai-Armeen“ in Europa geführt hat und der schnellstmöglich beendet werden muss.
Doch dazu reichen alle bisherigen Maßnahmen der NATO- und EU Mitgliedsstaaten nicht aus. Es fehlt an einer EU-Streitkräfteplanung mit strategischen Zielen und Aufgaben, die eng mit der bereits erwähnten NATO-Streitkräfteplanung zu verbinden wäre. In der Vergangenheit hat es dazu in der EU unter damals anderen Rahmenbedingungen schon Vorschläge und Ansätze gegeben. Gescheitert sind diese immer an der konsequenten politischen Umsetzung. So wurde beispielsweise die sogenannte Gent-Initiative 2011 nicht weiterverfolgt. Diese Initiative hätte den Staaten ein hohes Maß an Eigenständigkeit gelassen. Die Entscheidungshoheit, welche Fähigkeiten und Strukturen sie national weiterhin bereitstellen wollten und welche Fähigkeiten und Strukturen sie mit anderen zusammenfassen – „Pooling“ – sowie welche sie mit anderen teilen beziehungsweise für andere bereitstellen würden – „Sharing“ – wäre in nationaler Verantwortung verblieben. Ein solcher Bottom-up-Ansatz könnte dann über ein Top-Down-Vorgehen in der EU in enger Zusammenarbeit mit der NATO zu einem Europäischen Streitkräftedispositiv weiterentwickelt werden. Darin läge auch die Chance, nationale Impulse – in Deutschland die konditionierte Aufhebung der „Schuldenbremse“ für Verteidigungsausgaben – und die Initiativen der EU zur Stärkung des Verteidigungssektors in kooperative Bahnen zu lenken und strategische Defizite in militärischen Hochtechnologiebereichen endlich konsequent anzugehen.
Ein solcher Ansatz könnte (nun endlich) zu einem ersten Schritt bei der Bildung einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsunion im Rahmen der EU genutzt werden. Dies wäre EU-vertragskonform, in enger Zusammenarbeit mit der NATO und offen für Nicht-Mitgliedsstaaten der EU zu gestalten. Dieser Schritt hätte in Zeiten hybrider Bedrohungen und Angriffe, in denen die Unterscheidung zwischen Frieden, Krise und Krieg nur noch schwerlich zu treffen ist, einen besonderen Vorteil: Der gesamte Instrumentenkasten der EU mit seiner Expertise und seinen vielfältigen Möglichkeiten und Mitteln wäre im Sinne von „Integrierter Sicherheit“ für alle teilnehmenden Staaten nutzbar. Länder, die sich daran nicht beteiligen wollen, könnten (zunächst) dieser Union fernbleiben. Es wäre jedoch ein wichtiger europäischer sicherheitspolitischer Ansatz, der eine abschreckende Wirkung auf die aggressiven Autokraten und Diktatoren hätte.
4. Eine (eigenständige) Europäische Abschreckung und Verteidigung aufbauen
Was tun die europäischen Staaten, wenn die Vereinigten Staaten, wie renommierte Kenner Amerikas es zumindest nicht ausschließen wollen, sich tatsächlich von Europa abwenden? Entspricht es weitsichtiger politischer Verantwortung, auf das Prinzip Hoffnung zu setzen und einfach weiter darauf zu warten, dass es so schlimm schon nicht kommen wird? Die Antworten darauf sind sicher nicht einfach, in Kenntnis der Risiken eines Herbeidiskutierens einer US-Abwendung von Europa, gerade bei einer erratisch und unberechenbar agierenden Führung in Washington. Aber selbstauferlegte Denkverbote helfen auch nicht weiter und führen in der Krise häufig zu schlechtem Ad-hoc-Handeln. Es gilt also, besser jetzt das Schwierige, den ungünstigsten Fall, zu denken und vorzubereiten. Die aufgezeigte Europäische Sicherheits- und Verteidigungsunion könnte hierzu den politischen Rahmen bilden. Diese Union wäre so weiterzuentwickeln, dass sie auch die Kollektive Verteidigung unter der Beistandsklausel des Artikel 42 (7) des Vertrags über die Europäische Union erfüllen könnte. Das freie Europa muss sich im Fall des ausbleibenden Beistands der USA selbst schützen können, denn die Alternative wäre Unterwerfung unter den Aggressor, der vermutlich Putins Russland wäre.
Hierzu sind weitreichende Überlegungen und Entscheidungen notwendig, zuvorderst zu einem politisch-strategischen Entscheidungsgremium, zum Beispiel einem Europäischen Sicherheitsrat, und festzulegenden Entscheidungsverfahren mit modifizierten Mehrheitsentscheidungen. Es bräuchte ein strategisches integriertes – zivil-militärisches – Hauptquartier, also die Abkehr von der No Duplication-These der ehemaligen US-Außenministerin Madeleine Albright. Wäre Albright noch unter uns, würde sie den Europäern heute wohl eher zur Abkehr von ihrer These raten. Darauf aufbauend müsste eine europäische Kommandostruktur für die operative und taktische Ebene entwickelt werden – nicht nur militärisch, sondern auch zivil, keineswegs alles dupliziert und neu, sondern unter europäischer Nutzung der bestehenden NATO-Kommandostruktur, der EU-Hauptquartiere und von bereits bestehenden nationalen Strukturen.
Dann bliebe die Frage nach der nuklearen Abschreckung. Die beiden europäischen Nuklearmächte, Frankreich und das Vereinigte Königreich, sollten dazu bald eine strategische Debatte mit ihren europäischen Partnern unter Maßgabe ihrer eigenen Interessen führen. Präsident Emmanuel Macron hat das schon 2020 für sein Land und die Europäer angeregt, damals und bis heute ohne hinreichende Reaktionen. Jetzt ist die Zeit, darüber zu sprechen – über die jeweiligen Potenziale, deren Weiterentwicklung zu mehr Optionen im nuklearen Eskalationsspektrum, deren Beschaffung und Finanzierung. Es ginge weiterhin um die Bildung einer Europäischen Nuklearen Planungsgruppe im Rahmen einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsunion sowie um die Beratungs- und Entscheidungsverfahren. Die Abschreckung eines nuklear bewaffneten Gegners und die Sicherheit Europas könnten auf diese Weise gestärkt werden. Ist das alles durch die Europäer finanziell leistbar? Sowohl in der Wissenschaft als auch in der Politik wird diese Frage inzwischen bejaht, wenn die Europäer, wie in Den Haag vereinbart, ihre unmittelbaren Verteidigungsausgaben auf 3,5 Prozent des BIP erhöhen und die Synergieeffekte durch effizientere Produktionsprozesse und größere Stückzahlen nutzen.
5. Die Europäische Union muss (endlich) zu einem globalen politischen Akteur werden
Dazu bedarf es eines Paradigmenwechsels: Die Vorläuferorganisationen der Europäischen Union wurden nach dem Zweiten Weltkrieg zur Friedensstiftung zwischen den (west-)europäischen Staaten geschaffen. Die EU hat sich seitdem vornehmlich als gemeinsamer Markt verstanden, also als ökonomischer Akteur. Will die Union in dieser komplexen, rauen und unsicheren Welt Frieden, Freiheit, Sicherheit und Wohlstand zukünftig für sich bewahren, muss sie (endlich) zu einem global aktiven, relevanten politischen Akteur werden. Das wird nicht gelingen, wenn die EU bei jeder Krise und jedem Krieg eine Gruppe von sich mühsam zusammenraufenden Nationalstaaten bleibt. Dass noch nicht einmal das gelingt, führen die europäischen Staaten derzeit bei den gewaltsamen Auseinandersetzungen und Kriegen im Nahen und Mittleren Osten exemplarisch vor. Europa spielt bei der Krisenbewältigung dort keine Rolle, obwohl die Gewalt in direkter Nachbarschaft geschieht und europäische Werte und Interessen unmittelbar tangiert. Auch deshalb wäre die Bildung einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsunion und deren schrittweise Ausformung jetzt so geboten. Dazu müssten einige EU-Staaten – Deutschland, Frankreich und Polen, am besten unter Hinzuziehung des Vereinigten Königreichs – in einem offenen Prozess voranschreiten. Schon 1994 haben Wolfgang Schäuble und Karl Lamers ein Kerneuropa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten vorgeschlagen. Ein solches Vorgehen ist heute noch wichtiger als damals, wenn in dem sich abzeichnenden globalen Machtgefüge zwischen den USA, China, Russland und Indien die EU als weiterer globaler Akteur der Stärke des Rechts gegenüber dem Recht des Stärkeren zu Geltung verhelfen will, um ein friedliches Zusammenleben der Völker zu fördern.
Europa verteidigungsbereit?
Angesichts der „Doppelzeitenwende“ stehen große Aufgaben an. Fünf dieser sind aufgezeigt; sie hängen alle miteinander zusammen und können deshalb nicht priorisiert werden. Gelingt das eine, kann auch das andere umgesetzt werden. Es wird auf den politischen Willen ankommen, der in einer freiheitlichen Demokratie eine wesentliche Grundlage in der Unterstützung durch Bürgerinnen und Bürger hat. Ihnen muss eingehend erklärt werden, dass Europa nicht aufrüstet, um Krieg zu führen, sondern um Krieg zu verhindern, und dass alle dazu ihren Beitrag zu leisten haben. Letztlich geht es um die Entscheidung, ob Europa aus Brüssel oder aus Moskau regiert werden will, wie es der ukrainische Präsident Volodymyr Selenskyj so treffend auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2025 für sein Land und für ganz Europa zum Ausdruck gebracht hat. Welchen Unterschied es macht, war 2022 im ukrainischen Butscha und jüngst wieder jede Nacht in der gesamten Ukraine zu beobachten.
Brigadegeneral a.D. Armin Staigis ist Ehrenmitglied des Freundeskreises der Bundesakademie für Sicherheitspolitik e.V., war dessen Vorsitzender von 2016 bis 2022 und zuvor von 2013 bis 2015 Vizepräsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik. Der Autor gibt seine persönliche Meinung wieder.
[1] Der Autor hat 2020 während US-Präsident Donald Trumps erster Amtszeit die notwendigen Anstrengungen der Europäer zur Verteidigung unter der Überschrift „Ernstfall Europa – Jetzt“ angemahnt, siehe Staigis, Armin (2020): Ernstfall Europa – Jetzt!, Arbeitspapier Sicherheitspolitik Nr. 2/2020 (Bundesakademie für Sicherheitspolitik). Fünf Jahre später und in Anbetracht der zwei Zeitenwenden wird diese Thematik hier nochmals aufgegriffen und aktualisiert.
[2] Kiel Institut für Weltwirtschaft (2025): Unterstützung der Ukraine nach drei Jahren Krieg: Hilfen gering, aber stetig – Verschiebung auf Waffenbeschaffung.
[3] Burilkov, Alexandr / Wolff, Guntram (2025): Europa ohne die USA verteidigen: eine erste Analyse, was gebraucht wird, Kiel Policy Brief Nr. 183 (Kiel Institut für Weltwirtschaft ). Das wären etwa 0,12 Prozent des BIP der gesamten EU.