Arbeitspapiere

Japans Zeitenwende: Neue Chancen für die Zusammenarbeit mit Europa

2/2023
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Nicht nur in Deutschland, auch in Japan hat der russische Angriff auf die Ukraine eine sicherheitspolitische Zeitenwende ausgelöst – trotz geographischer Distanz zum Kriegsgeschehen. So kündigte die Regierung in Tokio mit ihrer Ende 2022 veröffentlichten Nationalen Sicherheitsstrategie an, bis 2027 die Ausgaben für Verteidigung und sicherheitsrelevante Bereiche auf ein Niveau von zwei Prozent des Bruttoinlandprodukts anzuheben. Die Entwicklungen in der Ukraine haben in Japan große Wirkung entfaltet, weil sie das Risiko der lange zurückhaltenden Verteidigungspolitik Japans unterstrichen. Premierminister Kishida Fumio hat seit Kriegsbeginn mit Blick auf Chinas ausgreifenden Machtanspruch immer wieder die Sorge geäußert, dass die Ukraine von heute das Ostasien von morgen sein könne.

Auch in Japan wird der russische Angriff auf die Ukraine als eine Zeitenwende empfunden. Was bedeutet das für die sicherheitspolitische Zusammenarbeit Tokios mit den USA und Europa? Japans Premierminister Fumio Kishia im Gespräch mit US-Präsident Joe Biden und Bundeskanzler Olaf Scholz beim außerordentlichen NATO-Gipfeltreffen im März 2022.

Die durch die japanische Regierung 2022 beschlossene Sicherheitsstrategie sowie zwei zugehörige verteidigungspolitische Dokumente werden von den meisten Beobachtern als historisch bewertet. Konkrete politische Umsetzungsschritte lassen sich bereits beobachten: So verabschiedete das Parlament Ende März den Verteidigungsetat für das Fiskaljahr 2023, welcher mit 6.8 Billionen Yen (ca. 46 Milliarden Euro) um 26 Prozent höher lag als im Vorjahr. Zudem beauftragte die Regierung in Tokio Anfang April die Firma Mitsubishi Heavy Industries mit der Entwicklung und Produktion neuer Raketen mit Reichweiten von mindestens 1.000 Kilometern.

Japans Sicherheitssorgen im Spiegel des russischen Kriegs

2013 hatte Japan erstmals eine Nationale Sicherheitsstrategie herausgegeben, doch seitdem sind die Spannungen im regionalen Umfeld des Inselstaats massiv gestiegen. So beschreibt die neue Strategie Japans Sicherheitsumfeld als das „ernsteste und komplexeste“ seit dem Zweiten Weltkrieg.

Im Zentrum der japanischen Aufmerksamkeit steht China, das laut der Sicherheitsstrategie die „größte strategische Herausforderung“ darstellt. Das bereits im Sommer 2022 veröffentlichte verteidigungspolitische Weißbuch stellt fest, dass sich die offiziellen chinesischen Militärausgaben allein in der letzten Dekade mehr als verdoppelt haben. Damit war das chinesische Budget 2022 fast fünfmal größer als das japanische, wobei die tatsächlichen Ausgaben Chinas noch höher liegen dürften – und weiter wachsen. Pekings militärische Aufrüstung umfasst insbesondere Investitionen in sogenannte A2/AD (Anti-Access/ Area Denial)-Fähigkeiten, wie beispielsweise weitreichende Antischiffswaffen, die es den USA und ihren Verbündeten erschweren, in Meeresgebieten vor Chinas Küste militärisch zu operieren. Ungeachtet internationaler Proteste hat die chinesische Regierung unter Präsident Xi Jinping in den letzten Jahren verschiedene Druckmittel angewandt, um Interessen außen- wie innenpolitisch durchzusetzen. Japan blickt mit großem Pessimismus auf Chinas Verhalten in den regionalen Territorialkonflikten, sein Vorgehen gegenüber Taiwan oder seine menschenrechtsverachtende Politik in Hongkong oder Xinjiang. Sorge bereitet Tokio insbesondere die zunehmende Präsenz von Schiffen der chinesischen Küstenwache um die von Japan kontrollierten Senkaku-Inseln (Chinesisch: Diaoyu) im Ostchinesischen Meer, auf die Peking Anspruch erhebt.

Auch Nordkoreas Aufrüstung verfolgt Japan mit großem Unbehagen. Das Regime hat seit Kim Jong Uns Machtübernahme Ende 2011 eine Vielzahl an Raketentests durchgeführt. Allein im Jahr 2022 führte Nordkorea rund 100 Raketenstarts durch, wobei im Oktober eine Rakete den japanischen Archipel überflog. Die Tests lassen auf signifikante technologische Fortschritte schließen, etwa was die Steuerfähigkeit für Flugbahnen angeht, die ein Abfangen durch Raketenabwehrsysteme erschweren. Mitte April 2023 testete das Regime eigenen Angaben zufolge erstmals eine mit Festbrennstoff betriebene Interkontinentalrakete. Derartige Raketen lassen sich leichter transportieren und für einen Start vorbereiten, so dass sie für Gegner schwerer zu entdecken sind. Unter Kim Jong Un führte Nordkorea auch vier Atomtests durch, mit denen das Regime die Gesamtzahl auf sechs steigerte. Bereits 2018 kam das japanische Verteidigungsministerium zu dem Schluss, dass Nordkorea erfolgreich Nuklearwaffen miniaturisiert hat, also über verkleinerte Sprengköpfe verfügt, die auf Raketen verschiedener Reichweiten passen.

Russland hat in den letzten Jahren im Fernen Osten seine militärische Präsenz ausgeweitet, einschließlich auf den russisch kontrollierten aber von Tokio beanspruchten Kurilen-Inseln. Tokio beunruhigt besonders die zunehmende sicherheitspolitische und militärische Zusammenarbeit zwischen Russland und China in der Region, die bereits vor dem russischen Krieg gegen die Ukraine voranschritt. In Tokio wird Russland – anders als China und Nordkorea – von den meisten Beobachtern trotzdem nicht als unmittelbare militärische Bedrohung angesehen. Für Japan stellt es bezogen auf die Region eher einen ‚Störenfried‘ (spoiler) dar, der Tokio dazu zwingt, Verteidigungsressourcen im Norden vorzuhalten und damit eine noch stärkere Fokussierung auf die chinesische Herausforderung im Südwesten verhindert.

Angesichts zunehmender regionaler Spannungen hat der russische Angriff auf die Ukraine Japan die realen Risiken eines militärischen Konflikts drastisch vor Augen geführt. Chinas Drohgebärden und immer selbstbewusster vorgetragener Anspruch auf die ‚abtrünnige Provinz‘ Taiwan haben in Japan die Frage aufgeworfen, inwiefern Parallelen zu Russlands Vorgehen in der Ukraine bestehen. Auch wenn es wichtige Unterschiede gibt, stehen in beiden Fällen Demokratien einem übermächtigen autokratisch regierten Staat gegenüber. Aus japanischer Sicht lässt sich eine militärische Auseinandersetzung um Taiwan nicht mehr grundsätzlich ausschließen, weil die USA ihren Status als unangefochtene militärische Übermacht verloren haben. Im Falle eines militärischen Konflikts um Taiwan wäre Japan unmittelbar betroffen. Dies liegt zum einen an der geographischen Nähe, denn Japans westlichster Punkt – die Insel Yonaguni – ist nur rund 110 Kilometer von Taiwan entfernt. Wichtige maritime Handelsrouten Japans führen durch umliegende Gebiete. Zum anderen wäre Japan auch durch seine Rolle als bedeutendster US-Bündnispartner in der Region betroffen. Sollte Washington Taiwan im Konfliktfall militärische Unterstützung bieten wollen, wäre es auf seine Basen in Japan und die rund 50.000 dort stationierten Truppen angewiesen.

Historische Entscheidungen – aber kein Bruch in der Verteidigungspolitik

Die Bekanntgabe steigender Verteidigungsausgaben ist ein historisches Signal dafür, dass Tokio dem Bereich Sicherheits- und Verteidigungspolitik signifikant mehr Ressourcen und Priorität zuschreiben will als in der Vergangenheit. Seit Japans Niederlage im Zweiten Weltkrieg war dessen Politik von starker militärischer Selbstbeschränkung sowie Zurückhaltung gekennzeichnet. Diese Haltung stand im Kontext der bis heute geltenden pazifistischen Nachkriegsverfassung, mit der Japan auf das Recht der Androhung oder Ausübung von Gewalt als Mittel zur Streitbeilegung verzichtet, ebenso wie auf den Unterhalt von Streitkräften. Vor diesem Hintergrund trägt das existierende japanische Militär offiziell den Namen Selbstverteidigungsstreitkräfte (jieitai), deren eher defensive Ausrichtung als verfassungskonform angesehen wird. Der Schwerpunkt der Truppen auf Landesverteidigung wird daran deutlich, dass von den 230.000 Truppen rund 65 Prozent dem Heer angehören. Nichtsdestotrotz verfügen die japanischen Streitkräfte über hochmoderne Ausrüstung einschließlich F-35 Kampfflugzeugen, worin Kritiker einen Widerspruch zum defensiven Leitgedanken sehen.

In Japan verband man die zurückhaltende Orientierung mit der Hoffnung oder gar Erwartung, dass der Frieden des Landes durch Selbstbeschränkung befördert wird. Generell gab es einen großen gesellschaftlichen Konsens, dass Japan aufgrund seiner Vergangenheit und Nachkriegsverfassung eine besondere Verantwortung als Friedensmacht zukommt. Japanische sicherheitspolitische Debatten drehten sich jahrzehntelang primär um die Frage, welchen Einschränkungen Tokios Politik unterliegen sollte. Beispielsweise hat sich das Land – abgesehen von minimalen Überschreitungen – seit 1976 an eine selbst auferlegte politische Konvention gehalten, nach der es nicht mehr als ein Prozent des Bruttoinlandprodukts für Verteidigung ausgibt. Auch als Japan in den 1990er Jahren anfing, sich an Blauhelmmissionen der Vereinten Nationen zu beteiligen, wurde streng reglementiert, unter welchen Bedingungen die Selbstverteidigungsstreitkräfte teilnehmen und ihre Waffen gebrauchen dürfen. Die Grenzen wurden derart eng gesetzt, dass japanische Truppen bei ihrem Einsatz für den Wiederaufbau des Iraks von 2004 bis 2006 aufgrund der prekären Sicherheitslage vor Ort zeitweise von anderen internationalen Truppen geschützt werden mussten – was auch als ‚Babysitting‘ verspottet wurde.

Auch wenn antimilitaristische Sichtweisen in der japanischen Bevölkerung tief verwurzelt bleiben, haben sich politische Eliten in der letzten Dekade zunehmend besorgt über die Bedrohungslage gezeigt und Anpassungen in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik gefordert. Vor allem der ehemalige Premierminister Abe Shinzo führte in seiner zweiten Regierungszeit (2012–2020) einige sicherheitspolitische Neuerungen ein. Diese betrafen sowohl institutionelle Aspekte (wie die Einführung eines Nationalen Sicherheitsrats) als auch rechtliche Fragen (neue Sicherheitsgesetze im Jahr 2015, nach denen Japan unter Einschränkungen das Recht auf kollektive Verteidigung ausüben darf). Die neusten sicherheitspolitischen Beschlüsse unter der Kishida-Regierung sind daher auch Teil eines graduellen Wandlungsprozesses, den das Land seit einigen Jahren durchläuft.

Sowohl die neue japanische Sicherheitsstrategie als auch die Ableitungen folgen weiterhin dem Leitgedanken einer defensiv ausgerichteten Verteidigungspolitik. Gleichwohl zeigen sie auf, dass Japan seine bisherigen Selbstbeschränkungen überdenken muss, um sich gegen Bedrohungen in seinem Umfeld zu wappnen. Die Ein-Prozent-Konvention für Verteidigungsausgaben stand in den letzten Jahren angesichts regionaler Spannungen zunehmend in der Kritik – doch erst mit der neuen Sicherheitsstrategie hat die japanische Regierung sich offiziell dem Ziel höherer Ausgaben verschrieben. Japans Verteidigungsstrategie nennt sieben Bereiche, bei denen Fähigkeiten der Streitkräfte ausgebaut werden sollen, so etwa die integrierte Flugabwehr, unbemannte Systeme, oder Mobilität und schnelle Einsatzfähigkeit von Truppen.

Eine weitere in der Strategie verkündete Änderung betrifft die bisherige Selbstbeschränkung bei den von den Streitkräften genutzten Waffen. Japan will künftig seine Truppen mit der Fähigkeit ausrüsten, effektive Gegenschläge auf das Territorium eines Gegners auszuführen, von dem Japan mit Raketen oder anderen Mitteln angegriffen wurde. Dabei geht es um die Anschaffung beziehungsweise Entwicklung verschiedener Raketen mit Reichweiten von mindestens 1.000 Kilometern. Unter anderem soll in den kommenden Jahren der amerikanische Tomahawk-Marschflugkörper mit einer Reichweite von rund 1.600 Kilometern eingeführt werden. Bisher hatte Japan für die Verteidigung in seiner unmittelbaren Umgebung nur Raketen kürzerer Reichweite von um die 200 Kilometer in seinem Arsenal, was der defensiven Ausrichtung der Streitkräfte entsprach. Hintergrund des neusten Aufrüstungsbeschlusses ist, dass Sicherheitsexperten in Japan schon seit einigen Jahren Zweifel äußern, ob die eigenen Raketenabwehrsysteme angesichts Chinas und Nordkoreas Aufrüstung ausreichenden Schutz bieten. Im Verbund mit dem US-Bündnispartner sollen die neuen japanischen Raketen mittlerer Reichweite daher helfen, gegnerische Angriffe abzuschrecken.

Dieser Fähigkeitsaufbau verändert die Rollenverteilung im japanisch-amerikanischen Bündnis, bei dem Japan bisher als „Schild“ fungierte – also die Aufgabe hatte, eine mögliche Invasion des Landes zu stoppen – während die USA als „Schwert“ der Allianz offensive Fähigkeiten vorhielten. Trotzdem stellt die Neuanschaffung keinen völligen Bruch mit der bisherigen Verteidigungspolitik dar. Erstens hatte die Regierung in Tokio bereits 1956 argumentiert, dass Gegenschläge auf Raketenbasen im Dienste der Selbstverteidigung verfassungskonform sind, wenn keine andere Möglichkeit der Gegenwehr besteht. Der bisherige Verzicht auf Raketen größerer Reichweite war also eine politische Entscheidung; ein rechtlicher Zwang bestand nach Ansicht der Regierung nicht. Zweitens betont Tokio in seiner Sicherheitsstrategie, dass Gegenschläge auf ein für die Selbstverteidigung nötiges Minimum zu begrenzen sind, wobei Tokio explizit Präventivaktionen ausschließt. Für Tokio geht es zudem nicht darum, Abschreckung durch Androhung von Vergeltungsschlägen mit inakzeptablen Verlusten für den Gegner (deterrence by punishment) zu erreichen, sondern vielmehr die Fähigkeiten für aktiven Widerstand zu verbessern und so die Erfolgsaussichten eines Angriffs auf Japan zu mindern (deterrence by denial).

Steiniger Weg für die Umsetzung

Um eine grundlegende Stärkung seiner Verteidigungsfähigkeiten zu erreichen, will Japan signifikant mehr Ressourcen bereitstellen. Auch wenn Tokios Ankündigungen den Anschein geben mögen – eine Verdopplung der bisherigen Verteidigungsausgaben bis 2027 ist nicht vorgesehen. So beinhaltet das Budgetziel von zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts nicht nur bisherige Haushaltsposten, sondern auch andere sicherheitspolitisch relevante Ausgaben, wie etwa Forschung, Infrastrukturprojekte und die Küstenwache, die bisher nicht unter das Verteidigungsbudget fielen. Schätzungen zufolge liegt die tatsächliche Erhöhung daher eher beim 1,6-fachen der bisherigen Ausgaben.

Zudem steht zu erwarten, dass Japan bei der Umsetzung seiner Pläne noch einige Hürden nehmen muss. Die historisch bedingte, antimilitaristische Grundeinstellung in der Bevölkerung ist auch mit dem russischen Angriffskrieg nicht verschwunden. In einer Umfrage der Zeitung Yomiuri Shimbun vom Dezember 2022 befürworteten immerhin 51 Prozent der Befragten die Aufstockung des Verteidigungsetats, während 42 Prozent diese ablehnten. Auch wenn der Zustimmungswert im japanischen Kontext hoch ist, unterstreicht das Ergebnis auch die anhaltende Skepsis der Bevölkerung hinsichtlich der Legitimität des Einsatzes von militärischer Mitteln.

Diese Skepsis könnte eine bremsende Wirkung entfalten, vor allem wenn es in den nächsten Jahren darum geht, festzulegen, wie die Budgetaufstockung finanziert werden soll. In Betracht gezogen werden Steuererhöhungen, die Aufnahme von Schulden und die Umwidmung von Budgets aus anderen Bereichen zugunsten des Verteidigungsetats. Premierminister Kishida befürwortet im Vorgehen primär Umwidmungen, doch dürfte das auf erhebliche Widerstände treffen, wenn konkrete Einschnitte in anderen Bereichen drohen. Damit wird sich für die Öffentlichkeit erneut die Frage stellen, welche Priorität Verteidigungspolitik relativ zu anderen Vorhaben zukommen sollte.

Eine weitere Hürde auf dem Weg zum militärischen Fähigkeitsaufbau der Selbstverteidigungsstreitkräfte ist der Mangel an Rekruten. Japan plant zwar keine große Veränderung hinsichtlich der Truppenstärke, doch hat es bereits über die letzten Jahre durchweg seine Rekrutierungsziele verfehlt, während immer mehr Soldaten das Renteneintrittsalter erreichen. Im Fiskaljahr 2022 konnte das Land nicht einmal die Hälfte der über 9.000 geplanten Stellen bei den Streitkräften füllen, ein neuer Tiefstand. Durch die rapide Alterung der Gesellschaft steht ein immer kleinerer Kreis an potentiellen Rekruten zur Verfügung.

Die relativ niedrigen Verteidigungsausgaben der letzten Jahre sind ebenfalls nicht spurlos an den Selbstverteidigungsstreitkräften vorbeigegangen, auch wenn Japan die Modernisierung in manchen Bereichen vorangetrieben hat. Ähnlich wie Deutschland hat Japan beispielsweise erheblichen Nachholbedarf in Bereichen wie der Bevorratung von Munition, der Wartung bestehender Ausrüstung, sowie der Instandsetzung von Infrastruktur. Hinzu kommt, dass Japans Rüstungsindustrie international nicht kompetitiv ist, da sie bisher aufgrund von strengen Rüstungsexportbeschränkungen praktisch nur für den heimischen Markt produziert und so nicht von Skaleneffekten profitieren kann. Um den höheren Verteidigungsetat effektiv zu nutzen, muss Japan deshalb auch seine Rüstungsindustrie neu aufstellen.

Japan als Partner in einer unsicheren Welt

Große Auswirkungen haben Japans sicherheitspolitische Pläne auf die Beziehungen mit den USA. Für Washington, das in China die größte strategische Herausforderung erkennt, ist Japan bereits zum wohl wichtigsten globalen Bündnispartner avanciert. Tokios Rüstungspläne unterstreichen den strategischen Wert der Allianz zusätzlich. Japan bindet sich in seiner Sicherheitspolitik auch künftig eng an die USA. Gleichzeitig wird der Fähigkeitsaufbau Tokio mehr politisches Gewicht im Bündnis verleihen. Dadurch, dass die Rollenaufteilung zwischen US-‚Schwert‘ und japanischer ‚Schild‘-Funktion durch Japans geplante Gegenschlagsfähigkeiten an Klarheit verliert, werden sich beide Partner deutlich enger abstimmen müssen. Es steht daher zu erwarten, dass Japan und die USA in den kommenden Jahren wichtige Reformen in ihren bilateralen Konsultations-, Entscheidungs- und Befehlsstrukturen anstoßen werden.

Im Indo-Pazifik hat Japan bereits in den vergangenen Jahren seine sicherheitspolitischen Beziehungen zu unterschiedlichen Ländern ausgebaut und wird diesen Kurs fortsetzen. Australien spielt für Japan eine herausragende Rolle als Partner. Im April verkündete Canberra eine tiefgreifende verteidigungspolitische Neuausrichtung, mit der es neben der Landesverteidigung die Einsatzfähigkeit seiner Streitkräfte im indopazifischen Raum in den Blick nimmt. Auch für Australien ist Japan ein wichtiger Partner, so dass eine vertiefte Zusammenarbeit in den kommenden Jahren beispielsweise bei Rüstungsvorhaben wahrscheinlich ist. Gleichzeitig vertieft Japan auch die Beziehungen mit Indien, ebenso wie mit südostasiatischen Ländern, wie etwa mit den Philippinen, die unter Präsident Ferdinand Marcos Jr. seit letztem Jahr ein engeres Verhältnis mit Japan suchen. Die japanisch-südkoreanischen Beziehungen standen zuletzt an einem Tiefpunkt, aber mit einem bilateralen Gipfeltreffen im März ist ein Durchbruch gelungen, der Möglichkeiten für sicherheitspolitische Kooperation – insbesondere mit dem gemeinsamen Bündnispartner USA – eröffnet. Dennoch bleibt das Verhältnis wegen anhaltender historischer Ressentiments fragil.

Japans Neuausrichtung hat aber auch Implikationen für Europa. In der Vergangenheit war Tokios sicherheitspolitischer Blick oft verengt auf sein unmittelbares Umfeld sowie das Verhältnis mit den USA, während Europa nur wenig Aufmerksamkeit zuteil kam. Die neue Nationale Sicherheitsstrategie zeigt aber, dass sich Japans Perspektive geweitet hat, auch weil Tokio im Kontext des Krieges in der Ukraine deutliche Wechselwirkungen zwischen euroatlantischer und indopazifischer Sicherheitsordnung erkennt. Dem Trend der letzten Jahre folgend wird Japan daher wohl weiter eine engere Anbindung an Europa in sicherheitspolitischen Fragen suchen.

Dies bietet auch für Deutschland und Europa vielfältige Chancen für Kooperation, gemeinsames Handeln und Abstimmung. Von Relevanz ist beispielsweise ein stärkerer Austausch mit Japan über die Beziehungen zwischen China und Russland und den Umgang mit den beiden Ländern. Angesichts globaler Unsicherheiten stehen sowohl europäische Länder als auch Japan vor der Herausforderung, Verteidigungsfähigkeiten ebenso wie Resilienzen in Bereichen wie Wirtschaft oder Energieversorgung zu stärken und neue Wege zu finden, um eine faire, regelbasierte internationale Ordnung zu gestalten. Einen wichtigen Grundstein für engere Kooperation legte die Bundesregierung im März dieses Jahres mit der erstmaligen Durchführung von Regierungskonsultationen in Tokio. Angesichts der Fülle gemeinsamer Themen wird dies wohl nur der Auftakt für eine weitere Intensivierung der Beziehungen gewesen sein.

Bezogen auf den sicherheits- und verteidigungspolitischen Bereich bestehen für Deutschland folgende Handlungsmöglichkeiten, um die Kooperation mit Japan zu vertiefen:

  • Deutschland sollte sich für eine Verstetigung von bilateralen Konsultationen und von Militärkooperation mit Japan einsetzen. Dies betrifft beispielsweise die Fortsetzung der 2+2-Gespräche der Außen- und Verteidigungsminister beider Länder, welche bereits zweimal stattfanden. Flankiert werden könnten diese durch einen engeren Austausch zwischen sicherheitspolitischen Experten beider Länder. Die bilaterale Militärkooperation wurde 2021 und 2022 durch die Entsendung der Fregatte Bayern und der Luftwaffe intensiviert. 2023 und 2024 sind Entsendungen des Heeres und der Marine in den Indo-Pazifik geplant, die Möglichkeit für gemeinsame Übungen mit Japan bieten.
  • Um die Zusammenarbeit der Streitkräfte zu vereinfachen, sollte umgehend ein Abkommen ausgehandelt werden, das die gegenseitige Bereitstellung von Treibstoff, Lebensmitteln und Transportmitteln für gemeinsame Aktivitäten regelt (in Japan als Acquisition and Cross-Servicing Agreement bekannt). Dies würde für die Bundeswehr die Logistik der geplanten Indo-Pazifik-Entsendungen vereinfachen.
  • Ins Auge fassen sollte Deutschland mit Japan auch ein Abkommen, das Verfahren zum Besuch von Streitkräften im jeweils anderen Land regelt. Vorbild könnte das Reciprocal Access Agreement zwischen Japan und Großbritannien sein, das im Januar 2023 unterzeichnet wurde.
  • Bei der Neuausrichtung ihrer Verteidigungspolitik stellen sich für Deutschland und Japan ähnliche Fragen, bei denen sie von und miteinander lernen können. Beide Länder müssen beispielsweise Wege finden, wie sie das öffentliche Bewusstsein über sicherheitspolitische Herausforderungen stärken. Ein Austausch wäre auch sinnvoll über die Frage, welches Fähigkeitsprofil die Streitkräfte beider Länder angesichts technologischer Veränderungen künftig erfüllen sollten.
  • Mit dem Anstieg der Rüstungsausgaben in Deutschland und Japan bieten sich neue Möglichkeiten für die Kooperation in den Bereichen Beschaffung und Entwicklung von Rüstungsgütern. Ein derartiges gemeinsames Projekt könnte eine breitere Wirkung für die vertiefte Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern haben. Auch wenn Deutschland wie bisher primär mit NATO-Partnern und Japan mit den USA im Rüstungsbereich zusammenarbeiten werden, würde ein bilaterales deutsch-japanisches Projekt das politische Ziel einer intensiven, vertrauensvollen Kooperation unterstreichen. Die geplante Entwicklung eines Kampfjets der sechsten Generation zwischen Japan, Großbritannien und Italien zeigt, dass Partnerschaften außerhalb der traditionellen Muster grundsätzlich möglich sind.
  • Von größter Bedeutung wäre eine permanente Entsendung eines deutschen Verbindungsoffiziers an die sogenannte Enforcement Coordination Cell in Yokosuka, einer multinationalen Koalition, die sich für die Überwachung der UN-Sanktionen gegenüber Nordkorea einsetzt. Bereits 2021 hatte Deutschland im Zuge der Fahrt der Fregatte Bayern zeitweise zwei Marineoffiziere dorthin abgestellt. Eine derartige Beteiligung ermöglicht Zugang zu Lagebildinformationen der Region, die auch für Deutschland von großer Relevanz sind.

 

Dr. Alexandra Sakaki ist stellvertretende Forschungsgruppenleiterin der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin mit dem Schwerpunkt „Rolle Japans im internationalen System, insbesondere Japan als sicherheitspolitischer Akteur in Nordostasien“. Die Autorin gibt ihre persönliche Meinung wieder.

Alle Ausgaben der Arbeitspapiere Sicherheitspolitik sind verfügbar auf:
www.baks.bund.de/de/service/arbeitspapiere-sicherheitspolitik

Working Paper topic: 
Bundeswehr
Strategy
Defence Policy
Region: 
Asia/Pacific
Europe
China
Germany
Japan
Tags: 
Japan
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