Arbeitspapiere

Al-Qaida seit 2011: Kampf gegen den „Fernen Feind“ oder Regionalisierung?

19/2017
Nahezu im Wochentakt werden europäische und asiatische Metropolen vom sogenannten Islamischen Staat angegriffen, während die ehemals gefährlichste Terrororganisation der Welt, Al-Qaida, seit 2010 mit geringen Ausnahmen keine Anschläge mehr gegen den Westen verübt hat. Im Schatten des IS ist es Al-Qaida dabei allerdings gelungen, ein Netzwerk zwischen Subsahara-Afrika und Indien zu errichten, welches trotz des anhaltenden Anti-Terror-Kampfes westlicher Staaten, die Machtfülle der Organisation von 2001 weit übertrifft. Gleichzeitig hat sich die Strategie Al-Qaidas im Laufe der Jahre wesentlich verändert und ist zunehmend von einer Regionalisierung der Gruppe gekennzeichnet. Welche Auswirkungen dies auf die Bedrohung westlicher Gesellschaften hat, kann noch nicht abschließend beurteilt werden, aber es gilt, die Organisation im Blick zu behalten.

Mit dem dramatischen Erscheinen des sogenannten Islamischen Staats (IS) und dessen Ausrufung eines Kalifats im Sommer 2014 ist die in der öffentlichen Diskussion lange dominierende Al-Qaida (AQ) in den Hintergrund getreten. Viele Experten glaubten, die Gruppe habe sich überlebt und würde mittelfristig vom IS übernommen werden. Mittlerweile ist jedoch das Gegenteil eingetreten: Der IS steht vor seinem – vorläufigen – Ende als Großorganisation, während AQ wächst und gedeiht. In Umkehrung der früheren Thesen gehen viele Terrorismusexperten nun davon aus, dass AQ die eigentliche Bedrohung darstelle und auf kurz oder lang einen neuen Großanschlag verüben werde.
 

Al-Qaida 3.0: Die heutige Struktur der Terrororganisation

Um die aktuelle Bedrohung durch AQ einzuschätzen, muss zunächst klar sein, wovon genau die Rede ist. AQ besteht heute aus folgenden Gruppen:

Kern-AQ: Hier handelt es sich um den direkten Nachfolger der Organisation, die die Anschläge vom 11. September 2001 in New York und Washington, DC begangen hat. Nach der Tötung Osama bin Ladens Mitte 2011 übernahm der politisch-religiöse Stratege der Organisation, Ayman al-Zawahiri, die Führungsposition. Kern-AQ fungiert heute als eine Art Leitzentrale für die weiteren AQ-Gruppen, ist aber selbst nicht mehr operativ tätig. Nach letzten Schätzungen vereint die Mutterorganisation im Grenzgebiet zwischen Afghanistan und Pakistan einige hundert Mitglieder.

AQAP: Al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel vereint etwa 3.500 - 4.000 Kämpfer. Die Gruppe operiert vor allem im Jemen. Dort kooperiert sie eng mit örtlichen Stammesstrukturen und kann die Kriegssituation seit 2014 nutzen, um sich als Schutzmacht lokaler Sunniten zu etablieren. AQAP gilt als eine der schlagkräftigsten Zweige von AQ und hat in der Vergangenheit mehrfach versucht, Anschläge gegen westliche Ziele durchzuführen.

HTS: Die Hay'at Tahrir al-Sham (Komitee zur Befreiung Syriens) ist ein Zusammenschluss verschiedener dschihadistischer Gruppen in Syrien, vor allem der früheren Nusra-Front. Es handelt sich um eine gut ausgestattete, finanzierte und ausgebildete dschihadistische Oppositionsbewegung. Die Gruppe vereint mit ihren Untergruppen um die 30.000 Kämpfer und gehört zu den stärksten Milizen, die gegen das syrische Regime kämpfen.

Al-Shabaab:Die Jugend“ kämpft seit der 2006 erfolgten Abspaltung von einem islamistischen Bündnis als dschihadistische Terrormiliz gegen die somalische Regierung, operiert aber mit 7.000 – 9.000 Kämpfern auch in den Nachbarstaaten Kenia und Äthiopien. Seit 2012 ist sie offiziell Teil von AQ. Auch Al-Shabaab steht durch lokale Regierungsstrukturen, Steuereinnahmen und Armenspeisung in engem Kontakt mit der Bevölkerung.

AQIM: Al-Qaida im Islamischen Maghreb operiert primär in Mali, daneben aber auch in Algerien, Mauretanien und Burkina Faso. Die Gruppe umfasst ca. 1.000 Kämpfer und wird durch Abdelmalek Droukdel geleitet. Während die Gruppe als Spaltungsprodukt aus dem algerischen Islamismus der 90er Jahre hervorgegangen ist und dementsprechend ursprünglich allein in Algerien operierte, hat sich der Schwerpunkt insbesondere in den letzten Jahren deutlich nach Süden verlagert.

AQIS: Al-Qaida auf dem Indischen Subkontinent wurde 2014 in Pakistan gegründet und hat zum Ziel, dschihadistische Gruppierungen in Pakistan, Afghanistan, Indien, Bangladesch und Myanmar zu vereinen und einen Staat auf Basis der Scharia zu errichten. Die Größe der Gruppe ist schwer einzuschätzen, ihre operative Reichweite geht derzeit allerdings kaum über Pakistan hinaus.

Die Transformation Al-Qaidas: drei wesentliche Aspekte

Bereits aus dieser kurzen Aufzählung wird deutlich, dass die ursprüngliche AQ, welche die Anschläge vom 11. September verübt hat, in den letzten 15 Jahren eine erhebliche Transformation durchlaufen hat. Drei wesentliche Aspekte sind hervorzuheben:

1) Ausdehnung und Wachstum

Im Jahrzehnt nach dem 11. September expandierte AQ mit einem Franchising-Modell, beginnend in Saudi Arabien 2003. Während Kern-AQ durch die militärische Besetzung Afghanistans und internationale Anti-Terror-Operationen in die Defensive gedrängt wurde, konnte sich die Organisation im Irak (2004), Algerien (2006), Jemen (2009), Somalia (ca. 2011) sowie 2014 in Syrien und auf dem Indischen Subkontinent ausbreiten. Abgesehen vom Ableger im Irak, der sich zunehmend selbständig machte und sich zum sogenannten Islamischen Staat weiter entwickelte (welcher wiederum eigene Provinzen etwa auf der Sinai-Halbinsel oder in Libyen gründete), konnte AQ über die lokalen Gruppen Einflussgebiete ausweiten oder wie in Mali, Jemen und Syrien (teils vorübergehend) sogar eigene territoriale Kontrolle ausüben.

2) Anhänger, Ausbildung, Bewaffnung – Stärker als 2001

Zählt man die verschiedenen Gruppen, aus denen AQ heute besteht, zusammen, um einen groben Indikator für die Schlagkraft der Organisation zu ermitteln, verfügt sie heute insgesamt über mindestens 40.000 (!) erfahrene Kämpfer, also etwa hundertmal so viele wie 2001. Zudem hat sich die Gruppe durch die regionale Ausdehnung neue Finanzierungswege erschlossen. Während Kern-AQ primär auf von NGOs umgelenkte Spendeneinkünfte und private Zuwendungen aus den Golfstaaten angewiesen bleibt, finanzieren sich die Regionalorganisationen nicht über die Zentrale sondern unabhängig durch Spenden, durch Abgaben der örtlichen Bevölkerung sowie auch Entführungen und durch Drogen- und Waffenhandel.

3) Regional vernetzt und tief verwurzelt

Ungeachtet der klassischen AQ-Agenda, des Kampfes gegen westliche Staaten als sogenannten „Fernen Feind“ hatten einige Ableger wie Al-Shabaab und AQIM de facto seit jeher eine vorwiegend regionale Perspektive. Inzwischen richten aber auch weitere Filialen des Netzwerks ihren Fokus verstärkt auf den Kampf in ihrer jeweiligen Region. Dem entspricht die nachhaltige Einbettung in örtliche Strukturen. Im Gegensatz zum IS, der gezielt Dschihadisten aus aller Herren Länder anspricht, setzt die Gruppe in Syrien wie auch im Jemen und auf dem afrikanischen Kontinent vorrangig auf Kämpfer und Unterstützer der jeweiligen Region und kann daraus zusätzliche Legitimität ableiten. So ist es AQ möglich, Gebiete als Rückzugsraum zu nutzen und Ausbildungslager zu errichten. Zusätzlich nutzt AQ auch Stammesrivalitäten für sich aus, versorgt Verbündete mit Waffen, Lebensmitteln und Schutzzonen für deren Kämpfer und integriert sich durch soziale Kontakte und Verheiratung in lokale Strukturen.

Ein gutes Beispiel für diesen Kurs ist AQAP. Mit dem Bereitstellen einer sozioökonomischen Versorgung, welche teils jene der regulären Regierungstruppen übertrifft und einer nur zurückhaltenden Durchsetzung islamistischer Normen gelingt es AQAP mit einer sogenannten Strategie der unsichtbaren Hand (al-yad al-makhfi) Einfluss auszuüben, ohne die Verwaltungs- und Regierungsstruktur selbst stellen zu müssen. Diese Zurückhaltung ist ein markanter Unterschied zum IS. Während dieser wie ein dschihadistischer Mongolensturm über ein Gebiet herfällt und mit Terror und Brutalität regiert, tritt AQAP eher als eine volksrevolutionäre Freiheitsbewegung auf. Im Falle einer militärischen Überlegenheit des Gegners ziehen sich AQ-Strukturen taktisch zurück, um den Rückhalt der Bevölkerung nicht durch blutige Gefechte in Ballungsgebieten zu verlieren. Gleichzeitig werden zuvor gebildete stay behind forces und Spionagenetzwerke zurück gelassen um langfristig eine Rückeroberung planen zu können.

Wenn Al-Qaida stärker geworden ist, wo bleiben dann die Anschläge?

In der Summe ist AQ über seine verschiedenen Filialen hinweg heute in der Fläche breiter aufgestellt, tiefer in örtliche Strukturen eingedrungen und verfügt über viele tausend kampferprobte Mitglieder. Auch bei oberflächlicher Beobachtung ist damit klar, dass sich die Gruppe nicht nur von den schweren Schlägen in der Konsequenz des 11. Septembers erholt hat, sondern sogar erheblich stärker geworden ist. Aus diesem Befund ergibt sich eine einfache Frage: Wenn AQ nicht nur ebenso stark, sondern sogar stärker ist als 2001, warum verübt die Gruppe seit einigen Jahren keine Anschläge mehr gegen westliche Ziele entsprechend der Angriffe vom 11. September in den USA, in Madrid 2004 oder London 2005?

Viele Experten würden die Prämisse dieser Fragestellung sofort bestreiten. Weder habe sich an der Absicht von AQ, den „Fernen Feind“ zu bekämpfen, etwas geändert, noch hätte es zwischenzeitig keine Anschlagsversuche gegen westliche Staaten gegeben. Der Anschlag auf die Redaktion der Zeitschrift Charlie Hebdo im Januar 2015 in Paris wurde AQAP zugerechnet. Dafür spricht zunächst, dass mindestens einer der beiden Täter, die Brüder Kouachi, eine Kampfausbildung durch AQ im Jemen genossen hat und sich AQAP außerdem eine Woche nach dem Anschlag zu diesem bekannt hat. Treibende Kraft hinter dem Anschlag scheint aber vielmehr Ahmedy Coulibaly gewesen zu sein, der zwei Tage später in Paris einen jüdischen Supermarkt überfiel. Coulibaly hatte die notwendigen Waffen besorgt und den Anschlag finanziert, sich aber nicht zu AQAP, sondern zum IS bekannt. Am wahrscheinlichsten ist daher, dass es sich um eine eigenständige Aktion der drei Attentäter unter Führerschaft von Coulibaly und nicht um einen durch AQAP in Auftrag gegebenen Anschlagsplangehandelt hat. Als weiterer Beleg für zwischenzeitige Anschlagsplanungen seitens AQ gegen westliche Ziele wird, vor allem von US-Seite, gerne die sogenannte Khorasan-Gruppe angeführt. Hierbei soll es sich um eine Gruppe hochrangiger AQ-Veteranen gehandelt haben, die sich um 2014 in Syrien sammelte, um dort Anschläge gegen den Westen zu planen, von den USA jedoch aus der Luft angegriffen und zerschlagen wurde. Ob es diese Gruppe allerdings in dieser Form jemals gegeben hat, ist strittig. Richtig ist zwar, dass Personal von Kern-AQ nach Syrien gereist ist – zu welchem Zweck dies geschah, ist jedoch bis heute unklar.

Die Antwort lautet: Regionalisierung

Die Antwort auf die Frage nach den ausbleibenden Anschlägen dürfte vielmehr in der Regionalisierungsstrategie liegen, die AQ nach 2011 eingeschlagen hat. Zwei herausragende Ereignisse fallen in dieses Jahr. Zum einen der Tod Osama Bin Ladens und die Übernahme der Organisation durch Aiman al-Zawahiri – ein Mann, der bis weit in die 90er Jahre immer den Kampf gegen den „nahen Feind“, also die arabischen Regime verfolgt hatte. Zum zweiten eröffneten die 2011 einsetzenden Umwälzungen des sogenannten Arabischen Frühlings und das darauffolgende Zusammenbrechen von Staatlichkeit islamistisch-dschihadistischen Akteuren ungeahnte Handlungsmöglichkeiten. Während der Kampf gegen die lokalen Regime bis dahin an den repressiven Staatsorganen der miteinander kooperierenden arabischen Staaten gescheitert waren, kann AQ nun dort aktiv werden, wo Regierungen der Bevölkerung keine Sicherheitsgarantie mehr bieten können (Mali, Somalia) oder sogar selbst zu einer Bedrohung für die sunnitischen Teile der Bevölkerung werden (Syrien, Irak).

Noch entschiedener als bei AQAP wird diese Regionalisierungsstrategie vom syrischen AQ-Ableger, der früheren Al-Nusra-Front, vorangetrieben. Gegründet durch die Vorläuferorganisation des IS in 2011, hat die Gruppe bereits 2013 mit dem IS gebrochen und sich dem AQ-Führer Al-Zawahiri unterstellt. Seitdem ist die Gruppe bemüht, sich in den syrischen Bürgerkrieg und die dort präsenten dschihadistischen Gruppen zu integrieren und allmählich eine Machtbasis in Syrien aufzubauen. Mit propagandistischem Aufwand wurde mehrfach unterstrichen, dass der Kampf nicht dem Westen gelte, sondern dem Assad-Regime. In Übereinstimmung mit dieser Linie hat sich Al-Nusra bereits im Juli 2016 zu „Eroberungsfront der Levante“ (Dschabhat Fatah al-Scham) umbenannt und überraschend erklärt, von jeder weiteren Organisation, also auch AQ, unabhängig zu sein. Eine weitere Distanzierung erfolgte im Januar 2017. Nach längeren Verhandlungen mit anderen islamistischen Kräften in Syrien vereinigte sich die Gruppe mit einer Reihe weiterer Milizen zur Hayat Tahrir Al-Sham (HTS). Erneut wurde unterstrichen, dass die HTS keine internationale Agenda verfolge, sondern ausschließlich in Syrien aktiv sei. Während dieser Schritt bei westlichen Beobachtern mit viel Skepsis aufgenommen wurde, wird in AQ nahestehenden Kreisen mittlerweile erregt diskutiert, ob die HTS sich nicht zu sehr von den Zielen Al-Qaidas entferne. Auch eine kürzlich gehaltene Ansprache von al-Zawahiri, in welcher er die Einigkeit der Organisation beschwört und vor Verrat warnt, deutet auf die Angst der Mutterorganisation hin, dass der bei weitem stärkste Arm Al-Qaidas im Begriff ist, sich selbständig zu machen, um eine eigene, rein regional orientierte Agenda zu verfolgen.

Alte Garde mit altem Ziel

Während die HTS in der Tat im Begriff scheint, sich von AQ nach und nach zu lösen, ist bei den übrigen Ablegern von AQ bei aller Regionalisierung allerdings noch nicht erkennbar, dass ein solcher Kurs einschließlich des Verzichts auf Anschläge gegen westliche Ziele verfolgt würde. Im Gegenteil, in einer Reihe von Verlautbarungen in der jüngsten Zeit rücken sowohl Kern-AQ als auch die übrigen Tochterorganisationen den Kampf gegen den „Fernen Feind“ wieder ins Zentrum ihrer Botschaften und bleiben damit der klassischen Linie von Al-Qaida treu. Die Entwicklung der HTS im Unterschied zu den übrigen Zweigen von Al-Qaida dürfte stark der Dynamik des syrischen Bürgerkrieges geschuldet sein. Eine transnationale Agenda passt nicht nur nicht in einen Konflikt, in dem es vordringlich um den Sturz des Assad-Regimes geht, sondern würde die HTS auch innerhalb der Opposition, einschließlich der weiteren islamistischen Gruppen, völlig isolieren. Auch wenn Zawahiri und verschiedene AQ-Filialen nicht bereit sind, sich vom ursprünglichen Programm zu lösen, bedeutet dies jedoch nicht zwingend, dass die Organisation derzeit auch Großanschläge im Westen anstrebt. Es bleibt zu konstatieren, dass es für eine Gruppe, die sich den internationalen Jihad auf die Fahnen geschrieben hat, bemerkenswert wenig Anschläge bzw. Anschlagsversuche gegen westliche Ziele gibt.

Klar ist jedoch, dass der Fokus auf die Regionalisierung Anschläge durch Einzeltäter nicht ausschließt. In diese Richtung gehen auch die jüngsten Aufrufe von Kern-AQ beziehungsweise AQAP, in denen Anhänger im Westen aufgerufen werden, Anschläge zu begehen. AQ kopiert damit das erfolgreiche Vorgehen des IS. In jüngster Zeit ist diesen Aufrufen niemand gefolgt. Vor dem Hintergrund der sich abzeichnenden Niederlage des IS könnte sich dies allerdings bald wieder ändern.

Fazit

Zusammenfassend muss mit Blick auf die heutige Vorgehensweise von AQ von einer strategischen Janusköpfigkeit gesprochen werden, die sowohl durch Kern-AQ als auch von den jeweiligen Untergruppen mit Blick auf die regionalen Gegebenheiten umgesetzt wird. So ist AQ vor allem im Jemen und in Syrien tief verwurzelt, hat Bündnisse mit lokalen Kräften geschlossen und sich durch Bereitstellung elementarer sozioökonomischer Leistungen teils auch Anerkennung in den örtlichen Bevölkerungen erworben. Diese Strategie wird AQ daher auf allen Schauplätzen bis auf Weiteres fortsetzen. Gleichzeitig führte die Regionalisierung auch zu einer teilweisen Verselbständigung der Ableger, am stärksten im Falle der HTS (falls diese überhaupt noch Teil von AQ zu betrachten ist). Deren wiederholte Verlautbarungen, dass man keine westlichen Ziele angreifen wolle, scheinen ernst gemeint zu sein und lösen sich damit vom Kern-AQ-Programm. Bei den übrigen AQ-Filialen sieht es allerdings etwas anders aus: Zwar fahren auch diese de facto eine Regionalisierungsstrategie, deren Erfolg durch Anschläge im Westen bedroht wäre. Gleichwohl können solche Anschläge weiterhin nicht ausgeschlossen werden, insbesondere durch inspirierte oder gesteuerte Einzeltäter.

Nicht zuletzt die USA selbst könnten aber dazu beitragen, dass AQ Anschlagsplanungen gegen den Westen wieder aufnimmt. Die militärische Bekämpfung von AQ ist in den letzten Monaten noch einmal erheblich intensiviert worden. Je höher die Verluste bei AQ durch westliche Angriffe, je höher auch die Opferzahlen bei Zivilisten, desto schwieriger wird ein Kurs der Zurückhaltung aufrechtzuerhalten sein. Auch die mögliche Nachfolge Hamza Bin Ladens als Chef der Gesamtorganisation beziehungsweise die Zerschlagung des IS in seiner jetzigen Form könnten eine zusätzliche Dynamik mit Blick auf Anschläge gegen westliche Ziele auslösen.

Eine hundertprozentige Sicherheit vor Terrorakten in westlichen Ländern durch AQ kann es daher genau so wenig geben wie eine gefahrlose Gegenstrategie. Die wirksame Bekämpfung kann nur in der realistischen Abwägung der Ziele und Möglichkeiten von AQ geschehen. Vor jeder Entscheidung eines Vorgehens gegen Kern-AQ oder Tochterorganisationen muss gefragt werden, wie groß deren Bedrohungspotenzial und Anschlagsabsicht wirklich ist. Anstatt sich durch spontane, unilaterale Kriegserklärungen und Militärschläge zum Ziel zu machen, sollte die Kooperation mit lokalen Bündnispartnern verstärkt werden. Lokale Regierungsstrukturen müssen dabei im Sinne von good governance gestärkt und zum Ausbau einer effektiven Rechtsstaatlichkeit angehalten werden, um AQ langfristig den Nährboden zu nehmen. Die Entwicklungen der letzten Jahre zeigen, dass die lokalen Regierungen für eine effektive Strategie gegen die Ausbreitung von AQ auf westliche Unterstützung angewiesen bleiben. Eine generelle Passivität kann, angesichts einer fortschreitenden Erosion von Staatlichkeit in Schlüsselstaaten wie Ägypten, anhaltenden Bürgerkriegen in Libyen, Syrien, Irak, Jemen, Mali und Afghanistan und den daraus folgenden humanitären Notlagen und Migrationsströmen daher keine Alternative sein.

Dr. Ulf Brüggemann ist Studienreferent an der Bundesakademie für Sicherheitspolitik. Yannick Schimbera ist Masterstudent an der Hertie School of Governance. Die Autoren geben ihre persönliche Meinung wieder.

Copyright: Bundesakademie für Sicherheitspolitik | ISSN 2366-0805 Seite 1/5

 

Working Paper topic: 
Terrorism
Region: 
Europe
MENA
Tags: 
Terrorismus
MENA
Europa