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Regionale Herausforderungen am Beispiel Türkei

Sunday, 16. June 2013

Seminar für Sicherheitspolitik 2013 - Modul 5

Am Beispiel der Türkei wurde im Seminar für Sicherheitspolitik untersucht, welche Faktoren politische Entscheidungen von Staaten prägen und ihr regionales Umfeld beeinflussen können. Dabei wurden sowohl innen- als auch außenpolitische Fragestellungen beleuchtet und die unterschiedlichen Einflüsse wie geopolitische Lage, kulturelle und religiöse Identität sowie Zugang zu Ressourcen analysiert. Zum Abschluss des Moduls 5 fand eine zehntägigen Feldstudie mit den Stationen Ankara, Gaziantep, Diyarbakır und Instanbul statt.

Blick auf das Atatürk-Mausoleum in Ankara.

Blick auf das Atatürk-Mausoleum in Ankara.
Quelle: Bundesakademie für Sicherheitspolitik

In der ersten Woche des Moduls 5 "Türkei" erfolgte eine kompakte Einweisung in das Thema. Wichtige Aspekte der innenpolitischen Betrachtungen waren die Kurdenfrage und der damit verbundene Friedensprozess, der laufende Verfassungsänderungsprozess, die wirtschaftliche Entwicklung inklusive der Energie- und Wasserpolitik aber auch die Rolle der politischen Parteien und des Premierministers. Außenpolitische Themen waren der EU-Beitrittsprozess, die deutsch-türkischen Beziehungen, der Syrienkonflikt mit der damit verbundenen Flüchtlingsproblematik sowie die außenpolitische Neuausrichtung der Türkei seit 2002.

Türkeiexperten aus Wissenschaft, Politik und den Ministerien haben mit Vortägen, Arbeitsgruppen und Podiumsdiskussionen zur Einführung in die vielschichtige Thematik beigetragen. Besonders bleibende Eindrücke beim SP13 hinterliessen dabei der Vorsitzende des Auswärtigen Auschusses Ruprecht Polenz, der Vizepräsident der Südosteuropa Gesellschaft Professor Dr. Heinz-Jürgen Axt, Professor Dr. Udo Steinbach vom Governance Center Middle East/North Africa und Dr. Günter Seufert von der SWP.

Während der Feldstudie wurden besondere Schwerpunkte vertieft. In Ankara lag der Akzent auf einem breiten Meinungsaustausch mit den zentralistisch ausgerichteten staatlichen Institutionen. Besondere Höhepunkte waren das Gespräch mit dem Chefberater des Ministerpräsidenten Dr. Ibrahim Kalin, dem Generalsekretär des Nationalen Sicherheitsrates Gouveneur a.D. Muammar Türker und der Besuch im Türkischen Generalstab. Auf der zweiten Station in Gaziantep lag der Fokus auf dem Syrienkonflikt und der Flüchtlingsproblematik sowie dem steilen wirtschaftlichen Aufschwung dieser Millionenstadt. Neben den interessanten Gesprächen mit dem Gouveneur von Gaziantep Erdal Ata und dem Generalsekretär des Gaziantep City Council Necati Binici, wird vor allem der Besuch des syrischen Flüchtlingslagers in Kilis, die Gespräche mit dem gewählten Flüchtlingsrat des Lagers sowie der Besuch der Schule und des Kindergartens in tiefer Erinnerung des SP13 bleiben. Die dritte Station in Diyarbakır legte den Fokus auf den Kurdenkonflik und die wirtschaftspolitischen Maßnahmen inklusive der Energie-, Wasserpolitik sowie der Wirtschaftsförderung. Auf der Busfahrt von Gaziantep nach Diyarbakır wurde dem SP13 ein bildlicher Eindruck von Südostanatolien und von der Größe des Südostanatolienprojektes (GAP) am Atatürk-Staudamm ermöglicht. In Diyarbakır bekundete der Gouveneur Mustafa Toprak seine besondere Wertschätzung gegenüber dem SP13 durch den Empfang der Delegation an einem Sonnabend in seinem Amtssitz. In Arbeitsgruppengesprächen mit Vertretern der Zivilgesellschaft wurden die Themen Menschenrechte, Wirtschaft, Gesundheitswesen und die Rolle der Frau sowie Risiken des Friedensprozesses vertieft. Abgeschlossen wurde die Feldstudie in Istanbul mit besonderem Augenmerk auf Menschen- und Freiheitsrechten sowie der Minderheitenproblematik. In verschiedenen Gesprächen mit Vertretern von Minderheiten und NGOs wurden diese Themen lebhaft diskutiert. Durch das Gespräch mit dem Journalisen Michael Thumann (Die ZEIT) fand die Feldstudie eine äußerst gelungene Abrundung.

Der Atatürk-Staudamm am Euphrat ist Teil des Südostanatolien-Projektes (GAP).

Der Atatürk-Staudamm am Euphrat ist Teil des Südostanatolien-Projektes (GAP).
Quelle: Bundesakademie für Sicherheitspolitik

Fazit:
Mit Übernahme der Regierungsverantwortung in 2002 durch die AKP wurde unter der Führung von Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdoğan die gesamte Innen- und Außenpolitik konsequent und sehr pragmatisch auf Wirtschaftswachstum ausgerichtet. Innenhalb von 10 Jahren ist es der Türkei so gelungen, vom "kranken Mann am Bosporus" zur Regionalmacht und G20-Mitglied aufzusteigen. Angeregt durch den EU-Beitrittsprozess wurden bereits diverse innen- und außenpolitische Maßnahmen ergriffen, dennoch bleiben große Herausforderungen zu meistern.

Innenpolitik

Wirtschaft
Durch die große industrielle Diversifizierung verfügt die Türkei heute nicht nur über eine Vielzahl großer Industrieunternehmen, sondern auch über einen wachsenden Mittelstand. Grundlage dafür ist die Orientierung an westlichen wirtschaftlichen Standards sowie die gezielte regionale Wirtschaftsförderung. Besonders in bisherigen Krisengebieten, in denen Investitionen aufgrund des hohen Risikos ausblieben, wurden Rahmenbedingungen geschaffen, die zu einem Wirtschaftsboom auch in Südostanatolien geführt haben. Darüber hinaus wurde durch das Jahrhundertprojekt GAP die Energieversorgung mit erneuerbaren Energien erhöht und große landwirtschaftliche Flächen zur Nutzung erschlossen. Eine weitere tragende Säule des Wirtschaftsaufschwungs ist die boomende Bauindustrie.

Präsident Heumann im Gespräch mit dem Bürgermeister von Gaziantep.

Gespräch mit dem Bürgermeister von Gaziantep
Quelle: Bundesakademie für Sicherheitspolitik

Kurdenfrage / Friedensprozess
Nachdem fast 90 Jahre lang das Türkentum als identitätstiftende Nationalidee der Türkei durch die Zentralregierung in Ankara mit aller Macht durchgesetzt wurde und den Kurden jegliche Ansprüche einer eigenen ethnischen Identität verwehrt wurden, setzt die AKP seit Anfang 2013 auf eine andere Strategie. Nach einem weiteren Konflikthöhepunkt Ende 2012 zwischen dem türkischen Staat und der PKK mit zahlreichen Toten und Verletzten wurden durch den türkischen Geheimdienstchef mit dem seit 14 Jahren in Haft sitzenden "Staatsfeind Nummer 1" Abdullah Öcalan überraschend Gespäche für einen Friedensprozess aufgenommen. Die vereinbarte Waffenruhe wurde eingehalten und ab dem 8. Mai begann die PKK mit dem Abzug in die irakischen Kurdengebiete. Auch wenn die Beweggründe, die seitens der Regierung und der PKK dazu geführt haben, sicherlich vielschichtig und auch wirtschafts- und machtpolitisch motiviert sind, bleibt doch festzuhalten, dass in der türkischen und speziell der kurdischen Bevölkerung eine sehr breite Zustimmung zu diesem Prozess vorhanden ist und größte Hoffnung auf einen erfolgreichen Fortgang besteht. Mögliche Hauptrisiken des Scheiterns liegen sicherlich im immer noch vorhandenen Gewaltpotenzial von einzelnen PKK-Angehörigen und machtpolitischen Interessen alter Eliten.

Verfassungsgebungsprozess
Eng mit der Lösung der Kurdenfrage ist auch der laufende Verfassungsgebungsprozess verknüpft. Die jetzige Verfassung, die nach dem Militärputsch von 1982 erlassen wurde, soll reformiert werden. Damit verknüpft die AKP unter Führung von Premierminister Erdogan das Ziel, eine Präsidialdemokratie zu schaffen. Dafür wurden parteiübergreifende Kommissionen eingesetzt. Es ist absehbar, dass eine Einigung über alle Parteien nicht zu erreichen ist und vermutlich sich eine Mehrheit aus der herrschenden AKP und der "Kurdenpartei" BDP bildet, um die notwendige Mehrheit für ein Referendum zu erhalten. Auch wenn es zum jetzigen Zeitpunkt noch eine Vermutung ist, so könnte der "Deal" heißen: Präsidialsystem für mehr Autonomie der Kurden.

Blick auf die Hagia Sophia in Istanbul.

Blick auf die Hagia Sophia in Istanbul
Quelle: Bundesakademie für Sicherheitspolitik

Innere Sicherheit
Die Verschiebung der politischen Machtverhältnisse in der Türkei wird nirgends so deutlich wie am Generalstab und dem Nationalen Sicherheitsrat. Mit Rücktritt des regierungskritischen Generalstabs im August 2011 hat PM Erdoğan das Kräftemessen gewonnen. Er hat dadurch eine neue regierungsloyale Militärführung eingesetzt und die militärische Vormachtstellung im Nationalen Sicherheitsrat gebrochen, aber auch einen entscheidenen Schritt zur Demokratisierung der Türkei geleistet. Dieses ist ihm auch gelungen, da er frühzeitig die Polizei für die Belange der inneren Sicherheit einsatzfähig gemacht und damit ein Gegengewicht zum Militär geschaffen hat. Die Vermutung liegt nahe, dass die Bedeutung des Nationalen Sicherheitsrates weiter abnehmen wird. Weiterer Reformbedarf besteht besonders im Polizei- und Justizsystem, die immer noch von den alten Eliten durchsetzt sind.

Außenpolitik

Seit 1963 laufen seitens der Türkei die Bemühungen sich Europa weiter anzunähern und seit 2005 sind die EU-Beitrittsverhandlungen offiziell eröffnet. Inzwischen wird aber die Verzögerungstaktik der EU und auch Deutschlands auf türkischer Seite mit Frustration wahrgenommen. Immer deutlicher wird in der Türkei artikuliert, dass man sich nicht mehr in der Position eines "Bittstellers" befinde, sondern offene Verhandlungen auf Augenhöhe fordere. Gegebenenfalls könne man auch ohne EU-Beitritt leben, so die Meinung vieler Türken. Eine weitere Annäherung an westliche Standards im Sinne eines EU-Beitrittsverfahrens scheint davon allerdings unbenommen und wird als Grundlage weiterer Prosperität als "selbstverständlich" erachtet.

Besuch im syrischen Flüchtlingslager in Kilis.

Besuch im syrischen Flüchtlingslager in Kilis.
Quelle: Bundesakademie für Sicherheitspolitik

Außenpolitische Neuausrichtung
Grundlage der außenpolitischen Überlegungen sind die unveränderte Einbindung in die NATO. Vordenker der neuen türkischen Außenpolitik ist Außenminister Ahmet Davutoğlu. Seine "Null-Problem-Politik" mit den Nachbarn der Türkei führte zu einer signifikanten Verbesserung der außenpolitischen Beziehungen zu Beginn der AKP-Regierungszeit. Inzwischen sind aber vor allem der Syrienkonflikt, die Zypernfrage und das Verhältnis zu Israel wieder zu kritischen außenpolitisch Fragen geworden, so dass der Ansatz der "Null-Problem-Politik" mittelfristig nicht aufgegangen ist. Das zweite Element der Neuausrichtung ist der Ansatz der "strategischen Tiefe". Die Türkei hat ihr außenpolitisches Engagement erheblich gesteigert, dies wird nicht zuletzt durch den signifikanten Anstieg der Anzahl der Botschaften in Afrika sowie der Aufwendungen für Entwicklungszusammenarbeitdeutlich. Die Türkei versteht sich als Regionalmacht mit globalen Beziehungen. Es muss aufmerksam beobachtet werden, inwieweit ein "overstretching" der außenpolitischen Gestaltungsmöglichkeiten der Türkei erfolgt.

Syrienkonflikt/Flüchtlinge
Die wechselvollen Beziehungen zu Syrien in den letzen 10 Jahren prägen die Außenpolitik der Türkei in erheblichem Maße. Nachdem sich freundschaftliche Beziehungen zwischen PM Erdoğan und Präsident Assad entwickelt hatten, hat sich die Türkei nun ganz unmißverständlich auf die Seite der Opposition gestellt. Die Türkei plädiert für ein Eingreifen der internationalen Staatengemeinschaft, um das Assad-Regime zu stürzen. Ein nationaler Alleingang ist aber für die Türkei nicht vorstellbar. Die Türkei fühlt sich heute mit den Auswirkungen des Syrien-Konflikts weitestgehend allein gelassen, nachdem sie in der Vergangenheit der internationale Hilfe sehr verhalten gegenüber gestanden hat. Die bisherigen Kosten für die Unterstützung der syrischen Bürger beläuft sich auf circa 1 Mrd USD. Die Türkei versteht die syrischen Bürger nicht als Flüchtlinge im Sinne der UNHCR, sondern gewährt ihnen eine "temporären Schutz" im Sinne einer befristeten Aufenthaltsgenehmigung.

These:
Die EU und Deutschland sind gut beraten, die Türkei als strategischen Partner und Gestaltungsmacht für den gesamten arabischen Krisenbogen auf Augenhöhe wahrzunehmen! Dies gilt besonders für Deutschland vor dem Hintergrund von circa drei Millionen türkischstämmigen Mitbürgern.

Autor: Arbeitsgruppe Asien SP 13